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Volker Ullrich: Schicksalsstunden einer Demokratie

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 29.07.2024

Cover Volker Ullrich: Schicksalsstunden einer Demokratie ISBN 978-3-406-82165-3

Volker Ullrich: Schicksalsstunden einer Demokratie. Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik. Verlag C.H. Beck (München) 2024. 383 Seiten. ISBN 978-3-406-82165-3. 26,00 EUR.

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Thema

Die Geburt der Weimarer Republik stand unter einem denkbar ungünstigen Stern. Das deutsche Kaiserreich hatte den Weltkrieg krachend verloren. Der Versailler Vertrag legte dem besiegten Land harte Bedingungen auf. Eine nicht abreißende Kette von Krisen – unterbrochen nur durch eine Phase scheinbarer Stabilisierung Mitte der 20er-Jahre – erschütterte die Republik. Doch trotz aller Belastungen – das Experiment der ersten deutschen Demokratie war nicht von allem Anfang an auf ein ruhmloses Ende angelegt – ganz im Gegenteil: Es gab immer wieder Gelegenheiten, die Weichen anders zu stellen, von der Gründungsphase der Republik bis zum Januar 1933, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Und so entsteht ein Buch, das beklemmende Ähnlichkeiten zur Gegenwart zeigt.

Autor

Volker Ullrich ist Historiker und leitete von 1990 bis 2009 bei der Wochenzeitung Die ZEIT das Ressort «Politisches Buch». Er hat eine ganze Reihe von einflussreichen historischen Werken vorgelegt, darunter „Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871 – 1918“ (1997) und eine hochgelobte zweibändige Hitler-Biographie (2013 und 2018), die in viele Sprachen übersetzt wurde. Volker Ullrich erhielt 1992 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik und 2008 die Ehrendoktorwürde der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Aufbau und Inhalt

Demokratien sind fragil. Freiheiten, die fest errungen scheinen, können verspielt werden. Wenige historische Ereignisse verdeutlichen dies so eindringlich wie das Scheitern der Weimarer Republik. Volker Ullrich erzählt eines der größten Dramen der Weltgeschichte – anschaulich, spannend und nahe an den handelnden Personen. Chancen blieben ungenutzt, Alternativen wurden verspielt. Nichts war zwangsläufig oder unvermeidbar. Wie sehr die Lage am Ende der ersten Demokratie auf deutschem Boden der heutigen ähnelt, zeigt der Autor bereits in der Einführung, auch wenn viele Faktoren wie zum Beispiel die Hyperinflation von 1923 und deren Folgen oder Sozialisation vieler Menschen noch in der Monarchie heute keine Rolle mehr spielen.

Volker Ullrich nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise, die 1918 nach dem Ersten Weltkrieg mit der Revolution als Grundstein für die Weimarer Republik, startet, um danach chronologisch die rund 15 Jahre bis zu jenem schicksalhafte 30. Januar 1933 aufzurollen, der für die meisten Menschen zunächst nichts weiter war, als ein weiterer Regierungswechsel binnen kürzester Zeit. Bis dahin passierte jedoch viel, was letztlich zum Fundament des nationalsozialistischen Terrorregimes werden sollte. Der Kapp-Lüttwitz-Putsch mit seinem ‚Marsch auf Berlin‘, der Mord am damaligen Außenminister Walther Rathenau durch einen rechtsradikalen Täter, aber auch die sogenannte Tollhauszeit mit Ruhrbesetzung und Hyperinflation im Jahr 1923 sind die ersten Stationen. Dann kommt es zur konservativen Wende, als 1925 Reichspräsident Friedrich Ebert stirbt und mit Paul von Hindenburg ein Generalfeldmarschall aus der ehemaligen kaiserlichen Armee das oberste Staatsamt übernimmt, der alles andere als ein Freund der Demokratie ist. Und die rollt – um nicht zu sagen, sie rast – nun immer mehr auf den Abgrund zu, auch wenn Volker Ullrich schreibt: „Tatsächlich führt auch von 1930 kein gerader Weg zum 30. Januar 1933“ (S. 191), denn 1930 scheitert die Große Koalition aus Sozialdemokraten und Zentrum, den parlamentarischen Stützen der Weimarer Republik. Und auch auf Länderebene, nämlich in Thüringen, passiert etwas, was für den weiteren Verlauf der Geschichte bedeutsam wird. Ausgerechnet in Weimar, der Geburtsstätte der Republik, kommt eben in jenem Jahr mit Wilhelm Frick ein Mann als Innen- und Volksbildungsminister zu Amt und Würden, der einer der engsten Begleiter Hitlers ist. In Thüringen hatten die Nationalsozialisten zuvor bei den Landtagswahlen beachtliche Erfolge erzielt, sich von 3,5 Prozent (1927) auf über 11 Prozent im Dezember 1929 gesteigert. „In Weimar bekam sie [die NSDAP] sogar 23,8 Prozent“ (S. 197), konstatiert der Autor. Und Frick liefert ganz im Sinne Hitlers in seiner Ministerrolle…

Auf Reichsebene – und damit geht es im Buch weiter- stürzt die Republik derweil im Frühling 1932 ins Chaos. Reichskanzler Brüning wird gestürzt, und ab diesem Zeitpunkt stehen nur noch Regierungen in der Verantwortung, die vom greisen Reichspräsidenten Hindenburg im Rahmen von Notkompetenzen ernannt werden – ein Schwachpunkt der Verfassung, der bei der Gründung der Bundesrepublik schnellstmöglich in den Keller der Geschichte verbannt wurde. Die lange Vorgeschichte des Brüningschen Sturzes zeigt deutlich, wie sehr in Berlin und auch darüber hinaus ein Intrigenspiel sondergleichen an der Tagesordnung war, das sich letztlich auch über von Papens ‚Kabinett der Barone‘ als letzte – mehr oder weniger – demokratische Regierung Deutschlands spannte. Letztlich war es jener von Papen, der eine wichtige Rolle dabei spielte, dass Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde. Und jener von Papen war es auch, der mit einem Satz, der auch in diesem Buch nicht fehlen darf, die wohl tragischste Fehleinschätzung der Geschichte lieferte: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht“ (S. 307). Das Ende ist bekannt, zwei Monate später hatten die Nationalsozialisten bereits Grundrechte eingeschränkt, Menschen grundlos inhaftiert und die parlamentarische Demokratie förmlich pulverisiert.

Diskussion

Es kommt auf die konkreten Handlungen einzelner Personen an – damals wie heute. Eine Lektüre, die beklemmende Parallelen zur Gegenwart zeigt. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ textet Bertolt Brecht im Epilog seines Theaterstücks „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Und genau das macht Volker Ullrich in seinem Buch deutlich. Geschichte lässt sich zwar nicht vergleichen, aber es lassen sich Lehren aus ihr ziehen. Natürlich ist die Lage heute eine ganz andere als damals. Natürlich wissen die Menschen – zumindest in Deutschland – zu großen Teilen, was sie an der Demokratie haben. Und doch ist es frappierend, mit welcher Naivität Politiker:innen, das diplomatische Korps, Journalist:innen und auch ganz einfache Bürger:innen die Lage im Januar 1933 unterschätzt haben. Die Naivität bringt Ullrich mit einer Wucht auf die Seiten, die fesseln. Dass der Mann langjährige journalistische Erfahrung auf höchstem Niveau hat, ist leicht feststellbar und sorgt dafür, dass Geschichte erlebbar wird. Klar in der Sprache, dabei nahe an den handelnden Personen – das macht diese schicksalhaften Jahre erlebbar, spürbar. An manchen Stellen möchte man die handelnden Menschen förmlich anbrüllen: Versteht Ihr denn nicht, was hier passiert? Sehr Ihr es denn nicht? Wollt Ihr es nicht sehen? Nun wäre es ein Leichtes, aus der Retrospektive diejenigen, die Hitlers Aufstieg ermöglicht und damit quasi die Startrampe für den Tod von über 50 Millionen Menschen gebaut haben, zu verurteilen. Aber genau das tut Volker Ullrich eben nicht, was eine weitere Stärke des Buches ist. Er beschreibt zwar Menschen wie den greisen Reichspräsidenten Hindenburg und den intriganten Ex-Kanzler von Papen mit ihren Motivationen, überlässt die moralische Wertung am Ende aber den Leser:innen. Dass es am Ende einen positiven Hoffnungsschimmer gibt, weil Geschichte sich eben nicht immer eins zu eins vergleichen lässt, ist ein positiver Abschluss eines so ungemein wichtigen Buches, aus dem sich lernen lässt. Es lässt sich lernen, wie wichtig es ist, für die Demokratie – mit all ihren Schwächen – zu kämpfen. Es lässt sich lernen, dass Handeln und nicht Wegschauen wichtig ist. Es lässt sich lernen, dass die schweigende Mehrheit eine Triebfeder für diejenigen ist, die meinen, sie würden das große Ganze repräsentieren. Und gerade deshalb ist es wichtig, die Ereignisse der Vergangenheit zu kennen, um die Gegenwart zu verstehen und um die Zukunft zu kämpfen, wie es schon der eingangs erwähnte Brecht formulierte:

Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert

Und handelt, statt zu reden noch und noch!

So was hätt einmal fast die Welt regiert!

Die Völker wurden seiner Herr, jedoch

Daß keiner uns zu früh da triumphiert -

Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch [1]

Fazit

Ein spannend und mitreißend geschriebenes Buch – ganz so, wie man es von Volker Ullrich gewohnt ist. Auch wenn deutlich wird, dass Deutschland 2024 wenig mit dem Deutschland 1933 gemein hat, sind jene Schicksalstage am Vorabend einer der größten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit gerade in dieser Zeit in einem bisweilen ver(w)irrten Deutschland mehr als ein mahnender Zeigefinger, sondern eine implizite Aufforderung, nicht tatenlos zuzusehen, sondern zu handeln. Sie sind eine Erinnerung daran, wie sehr man sich täuschen (lassen) kann, wenn man es denn nur will. Und das wiederum ist brandaktuell!


[1] Zitiert nach Brecht (1966): Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Frankfurt am Main: edition suhrkamp

Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Es gibt 135 Rezensionen von Wolfgang Schneider.

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ISSN 2190-9245