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Sinah Mielich: Zum Problem der Einheit der Jugendhilfe

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 07.11.2024

Cover Sinah Mielich: Zum Problem der Einheit der Jugendhilfe ISBN 978-3-7560-1239-8

Sinah Mielich: Zum Problem der Einheit der Jugendhilfe. Eine historisch-systematische Studie. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2024. 421 Seiten. ISBN 978-3-7560-1239-8. 99,00 EUR.
Reihe: Demokratiebildung - 3.

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Thema

Der Konflikt um die Programmatik der Einheit der Jugendwohlfahrt bzw. Jugendhilfe durchzieht die Geschichte der Sozialpädagogik seit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 bis heute. In welchem Verhältnis standen Jugendfürsorge, Jugendpflege und Jugendbewegung und damit Disziplinierung, Nothilfe und demokratische Vergesellschaftung? Die Studie zeichnet die Genese dieses Problems nach, analysiert die Kämpfe sozialer Bewegungen, politische und juristische Wegmarker sowie Reformdebatten. Bezugnehmend auf aktuelle Entwicklungen im Bildungsbereich plädiert sie mit Blick auf das 21. Jahrhundert für eine Neujustierung der Einheit des Jugendwohls als demokratische Jugendbildung.

Autorin

Dr. Sinah Mielich ist Erziehungswissenschaftlerin und verfasste ihre hier vorliegende Dissertation an der Uni Hamburg.

Aufbau und Inhalt

Die Einheit der Jugendhilfe? Was ist das eigentlich? – mögen sich selbst erfahrene Fachkräfte fragen. Und deshalb geht Sinah Mielich in ihrer Dissertation zunächst einmal den Weg, genau darauf eine Antwort zu finden und den Zusammenhang zwischen der Geschichte der Jugendwohlfahrt als Vorgängerin der Jugendhilfe zu beleuchten. Dabei wird schnell deutlich, dass die Konfliktlinie sich aus drei bisweilen diametral entgegenstehenden Bereichen bildete: der Jugendpflege, der Jugendbewegung und der Jugendfürsorge. Wobei es im letzteren Bereich noch einmal eine Konfliktlinien gab. Stand die Fürsorge jetzt mit oder ohne Erziehung im Fokus und an wen richtete sich das Feld überhaupt? Ein großes Thema war die Arbeitsweise der Jugendfürsorge, bei der die Ansichten schwankten zwischen Sozialdisziplinierung, Selbstorganisation und Reformversuchen. Nicht unproblematisch war das Verhältnis von öffentlicher zu freier Jugendfürsorge. Deutlich wird auch die Problematik der Heilpädagogik, bei immer wieder zur Debatte stand, ob sie ebenfalls zur Einheit der Jugendwohlfahrt gehörte. Als 1922 das Reichsjugendwohlfahrtgesetz reformiert wurde, konnte noch niemand ahnen, dass die Nationalsozialsten wenige Jahre später die Idee dahinter pervertieren sollten. Sie trennten Jugendfürsorge und – pflege voneinander. Im Letzteren Bereich übernahm die Hitlerjugend eine wichtige Aufgabe der Sozialen Arbeit – zumindest für die jungen Menschen, die es im Auge des NS-Systems wert waren. Die Jugendfürsorge dagegen spielte nur eine geringe Rolle während der NS-Jahre, fielen doch die „Nicht-Leistungsfähigen der Selektion und Ausmerze durch das ‚Gesundheitsamt‘ zum Opfer“ (S. 190).

Nach 1945 wurde dann über die Jahre aus der Jugendwohlfahrt die Jugendhilfe. Dieser Prozess war zunächst durch einen starken Einfluss der Politik auf die Soziale Arbeit geprägt. Später – mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes in den 1990er Jahren – führte ein Paradigmenwechsel dazu, die Jugendhilfe als Kompensationsleistung zu verstehen. Sinah Mielich erklärt an dieser Stelle im Übrigen auch, dass der Begriff der Jugendwohlfahrt (obwohl das entsprechende Gesetz diesen ja noch lange im Namen trug) dem der Jugendhilfe wich, dieser aber gar nicht so neu war. Er tauchte nämlich bereits 1922 im Reichsjugendwohlfahrtgesetz auf, ebenso wie 1961 im Jugendwohlfahrtgesetz. Gemeint waren damit alle behördlichen Maßnahmen zur Förderung der Jugendwohlfahrt. Die Zeitreise durch das Nachkriegsdeutschland bis zur Jahrtausendwende macht an dieser Stelle, dass über die Jahrzehnte besonders das „Ringen um die Rolle der Bildungsorientierung für die Jugendhilfe und damit deren Verhältnis zu den Erziehungshilfen“ (S. 300) im Fokus der Entwicklung stand. Am Ende dieses Prozesses stand eine Entwicklung, die Mielich – und das ist in Zeiten knapper öffentlicher Kassen brandaktuell – deutlich brandmarkt: „Die Unterfinanzierung, Entpolitisierung und Wettbewerbsorientierung der 1990er Jahre führten zu einer programmatischen Regression (…) Es scheint, als sei der Jugendhilfe der Sinn (…) der pädagogischen Arbeit an diesem Punkt der gesellschaftlichen Entwicklung weitgehend abhandengekommen“ (S. 304).

Zum Ende führt unter Berücksichtigung der im Sommer 2021 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes sozusagen als Zusammenführung der vorherigen Reise durch 100 Jahre ein Blick auf die aktuelle (finanzielle) Lage der Jugendhilfe und die aktuellen Entwicklungen im Erziehungs- und Bildungswesen, worauf sich mit OGS, Inklusion und Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ein immer größerer Bezug entwickelt.

Und so wird am Ende deutlich, dass das Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und Jugendpflege oder früher zwischen Jugendpflege und Jugendwohlfahrt als künstliche Einheit über die Jahre eher gewachsen ist. Was früher bisweilen einem Kulturkampf gleichkam, „existiert [heute] unhinterfragt weiter“ (S. 12).

Diskussion

Das ist zweifelsohne kein Buch, das sich ‚mal eben so‘ lesen lässt, sondern ein Titel für Leser:innen, die an Erkenntnisgewinn und Erweiterung des eigenen Wissens interessiert sind. Diese Zeitreise durch ein Jahrhundert der Jugendwohlfahrt und -hilfe ist geprägt von einer sehr tiefgehenden Recherche der Autorin, die beeindruckende Details ans Licht gefördert hat. So gelingt es ihr beeindruckend, den langen Zeitrahmen mit Leben zu füllen und den Bogen zur Gegenwart zu spannen. Zweifelsohne ist so ein Buch entstanden, dass höchsten Ansprüchen genügt und einen Teil dazu beiträgt, dass sich die heutige Jugendhilfe aus ihrer Geschichte heraus weiter entwickeln kann.

Fazit

Kein Buch für den schnellen Input, sondern eine beeindruckende wissenschaftliche Arbeit.

Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Es gibt 110 Rezensionen von Wolfgang Schneider.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 07.11.2024 zu: Sinah Mielich: Zum Problem der Einheit der Jugendhilfe. Eine historisch-systematische Studie. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2024. ISBN 978-3-7560-1239-8. Reihe: Demokratiebildung - 3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32421.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.


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