Aglaia Karatza-Meents: Migrationsbewegungen, Migrationsschicksale
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.03.2025

Aglaia Karatza-Meents: Migrationsbewegungen, Migrationsschicksale. Ethnopsychoanalytische Studie griechisch-deutscher Wanderungen. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 112 Seiten. ISBN 978-3-95558-373-6. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Heimat und sich selbst verloren
Wanderungsbewegungen sind in der Menschheitsgeschichte funktionale und emotionale Prozesse. Es sind Push- und Pull-Faktoren, freiwillige, aktive und gewaltsame Veränderungen. Es sind existentielle und soziale Entwicklungen. Wenn Minderheiten auf Mehrheitsgesellschaften treffen, entstehen sowohl Willkommens-, wie auch Ablehnungssituationen. Es sind die jeweiligen, unterschiedlichen Erwartungshaltungen, die zu Konflikten, Egozentrismen und rassistischen Einstellungen führen. Gelingende Integration darf sich nicht orientieren an Vorstellungen wie: „Wenn ihr so werdet wie wir, ist es gut“; vielmehr sind es interkulturelle Prozesse von Anpassung und Widerstand, von Ich- und Wirwerdung, die erkennen und aushalten lassen, dass „gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ (Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsmanifest, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/2695.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Intergenerative Betrachtungen von den „Gastarbeitern“ der 1960er/70er Jahren hin zu den nachfolgenden Generationen mit „Migrationshintergrund“, bedürfen einer objektiven, sozialen und psychologischen Betrachtung. Aussagekräftig, wahr und Menschenwürdig können sie dann sein, wenn sich „Betroffene“ zu Wort melden. Die deutsch-griechische Ärztin und Psychoanalytikerin Aglaia Karatza-Meents (1946 in Griechenland geboren), analysiert anhand ihrer eigenen Migrations- und Einwanderungsgeschichte, welche Gefühle, Einstellungen und Entwicklungen die mittlerweile erwachsenen Kinder der Gastarbeitergeneration vollziehen. Sie sieht „eine emanzipatorische Entwicklung…, weg von den proletarischen und hierarchisierten Beziehungen der Eltern“.
Aufbau und Inhalt
In Fallbeispielen und künstlerischen Arbeiten dieser (erwachsenen) Kinder in zweiter Generation zeigt sie die Integrationsprozesse auf. Sie beginnt mit der Darstellung der eigenen Migrationsgeschichte, wie sie sich im griechischen Volkslied „Weine nicht und verzweifle nicht…“ zeigt, Erwartungen, Wünsche und Lebensziele der Landsleute schafft und Auswanderung als Lebensperspektive spiegelt. Deutschland als prosperierendes Industrieland lockte „Gastarbeiter“, und sie kamen. Ihre meist prekären Lebenssituationen hat Max Frisch ausgedrückt in: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“. Sie, die Tochter einer Gastarbeiterfamilie, hat die deutsche Sprache gelernt; sie wollte ankommen und dazu gehören. Ihre griechische Kultur wollte sie vergessen. Die Erfahrungen und Imponderabilien, die sie beim Integrationsprozess machte – angenommen und diskriminiert werden – schaffen positive und negative Erlebnisse. Und sie vermitteln mit Blick auf die philosophische und anthropologische Geschichte Griechenlands Stolz und Nachdenklichkeit. Es sind Formen von Fremdverstehen und Fremdenhass, von Egoismus und Humanismus, die sichtbar und unsichtbar werden. Die türkische Künstlerin Nil Yalter drückt dies in ihren gesichtslosen Bildern aus: „Exil is a hard job“. Und es sind die Hoffnungen: „Es wird auch für uns ein Sonntag kommen“. Es sind Schamgefühle, die gelingende Integrationsprozesse hemmen (Matthias Kreienbrink, Scham. Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt, 2025, www.socialnet.de/rezensionen/…php).
Diskussion
Die Psychoanalytikerin nimmt bei ihren Therapien zum einen die antiken griechischen, philosophischen Geschichten und Werte, zum anderen die aktuellen, lokalen und globalen Ungerechtigkeits- und Migrationsphänomene, um aufzuzeigen, dass sie „Löcher in der Psyche“ bewirken und zu krisenhaften, traumatischen, sprachlosen Situationen, und zum generativen Konflikt der Eltern, den sozialen Aufstieg der Kinder zu fördern, gleichzeitig zu verhindern, „ihre Kinder dann ganz zu verlieren“ führen können. Das Dilemma setzt sich fort: Klimawandel und die Vernichtung von Landschaften und Perspektiven führen dazu, dass die arbeitslosen, qualifizierten jungen Menschen wieder ihre Heimat verlassen und in anderen Ländern Arbeit und Brot finden müssen. Der Unterschied zur Migration der 1960er/​1970er Jahre freilich besteht darin, dass diese gebildeter und weltbefähigter sind. Nicht thematisiert werden die kakophonen ego-, ethnozentristischen, rassistischen und populistischen Tendenzen, wie sie sich heute zeigen.
Fazit
Multikulturalismus und Kosmopolitismus sind Aussichten, dass Migration als positive, transkulturelle Entwicklung gelingen kann. Der „Spagat zwischen dem idealisierten Gastland und dem entwerteten Heimatland ist als die Externalisierung der inneren Spaltung zwischen dem idealisierten und dem entwerteten Selbst zu verstehen“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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