Victor Blüml, Sabine Schlüter (Hrsg.): Wahnsinn! Zur Psychoanalyse der Psychosen
Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 29.08.2024
Victor Blüml, Sabine Schlüter (Hrsg.): Wahnsinn! Zur Psychoanalyse der Psychosen. Sigmund-Freud-Vorlesungen 2023.
Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2024.
244 Seiten.
ISBN 978-3-95558-370-5.
D: 39,90 EUR,
A: 41,10 EUR.
Reihe: Sigmund-Freud-Vorlesungen - 2023.
Thema
Der Klappentext gibt einen sachlich-knappen Überblick: „Die Beiträge geben einen Überblick über den Stand der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit psychotischen Störungen aus theoretischer und klinischer Perspektive. Aufbauend auf den Freud’schen Grundlagen werden von den Autor*innen vor allem britische (Klein, Rosenfeld, Segal, Bion) und französische (Lacan, Green, Kristeva, Aulagnier) Ansätze zum Verständnis der Psychosen fruchtbar gemacht. Nicht zuletzt widmen sich mehrere Beiträge dem komplexen Verhältnis von Psychose und künstlerischem Schaffensprozess.“
Um die Relevanz, ja, Brisanz des Themas prägnanter aufploppen zu lassen, hält sich der Rezensent lieber an Freud selbst: „Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion.“ [1]
HerausgeberInnen
Victor Blüml, Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Mag. DDr., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker bei der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV/IPA) sowie TFP-Therapeut und Psy-3-Lehrtherapeut. Er absolvierte ein Studium der Medizin und Philosophie in Wien und Paris. Darüber hinaus ist er assoziierter Professor und stellvertretender Ambulanzleiter an der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte zeichnen sich durch nachfolgende Themen aus: Persönlichkeitsstruktur, Persönlichkeitsstörungen und psychoanalytische Konzeptforschung.
Sabine Schlüter, Maga. phil., absolvierte ein Studium der Geschichte, Publizistik und Philosophie. Sie ist Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin (WAP/IPA) in freier Praxis sowie Psy-3-Lehrtherapeutin. Darüber hinaus ist sie Co-Leiterin des Departments für Theorie und Wissenschaft der Wiener Psychoanalytischen Akademie, (Mit-)Herausgeberin für Österreich derZeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen: Triebtheorie, Metapsychologie, psychoanalytisches Verständnis von Sprache, Literatur und gesellschaftlichen Prozessen.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband publiziert die Vorträge während der jährlich – hier am 5. und 6. Mai sowie 10. und11. November 2023 – stattfindenden Sigmund-Freud-Vorlesungen an der Wiener Psychoanalytischen Akademie. Diese Lesungen gehören, so die Veranstalter, „zu den wichtigsten Plattformen für psychoanalytischen Diskurs im deutschsprachigen Raum. An zwei Tagen rund um Sigmund Freuds Geburtstag am 6. Mai sowie an zwei Terminen im November referieren namhafte Persönlichkeiten zu einem vorgegebenen Thema, das Psychoanalyse und aktuelle gesellschaftliche Strömungen auf faszinierende Art und Weise vernetzt.“
Zugleich sind der sich wandelnde Wissenschafts- und Behandlungsdiskurs, sind zeitgeschichtliche, ja, zeitgeistige Wandel und Präferenzen, Modelle wie Moden maßgebliche Faktoren für einen Bedarf an einordnenden, kontextualisierenden, differenzierenden Beiträgen: „Psychosen sind oftmals äußerst verstörende und verwirrende Phänomene, die sowohl beim betroffenen Subjekt als auch im Umfeld intensive Angst und Unverständnis auslösen. Ideengeschichtlich sind Wahn- sinn, Verrücktheit und Psychose häufig als das absolut Andere der Vernunft gekennzeichnet worden, und die Reinheit der Vernunft sollte durch den strengen Ausschluss des Wahnsinns hergestellt und gewahrt werden […]. Es ist das bleibende Verdienst der Freud’schen Psychoanalyse, einen verstehenden Zugang zu den Psychosen eröffnet zu haben und aufzuzeigen, »dass auch so absonderliche, so weit von dem gewohnten Denken der Menschen abweichende Gedankenbildungen aus den allgemeinsten und begreiflichsten Regungen des Seelenlebens hervorgegangen sind« [2]“ (S. 7).
Aufbau und Inhalt
Wenngleich – wie die Freud-Zitate oben bereits vorwegnehmen – Sigmund Freud die primäre Referenz der Psychosentheorie und -behandlung ist (bzw. war), ist es „das große Verdienst nachfolgender Generationen von AnalytikerInnen, auch eine klinische Praxis mit psychotischen PatientInnen zu etablieren“. So wurden beispielsweise wesentliche Erweiterungen des psychoanalytischen Verständnisses der Psychosen durch die Arbeiten Melanie Kleins ermöglicht. Ihre auf Basis von Kinderanalysen gewonnenen Erkenntnisse über die frühesten Beziehungserfahrungen des Babys und die in diesen Phasen vorherrschenden Ängste und Abwehrmechanismen lieferten den theoretischen und behandlungstechnischen Rahmen für die psychoanalytische Behandlung psychotischer PatientInnen durch die ihr nachfolgenden AnalytikerInnen – allen voran Herbert Rosenfeld, Hanna Segal und Wilfred Bion. Auch in Frankreich (Jacques Lacan, die Kestembergs, institutionelle Psychotherapie) und in den USA (Frieda Fromm-Reichmann, Harold Searles, Chestnut Lodge) entwickelten sich bedeutende Traditionen der psychoanalytischen Psychosenbehandlung.
Nachdem durch den Aufschwung der biologischen Psychiatrie und die Erweiterung der psychopharmakologischen Therapieoptionen die Bedeutung von psychotherapeutischen Zugängen vorübergehend in den Hintergrund gedrängt worden war, ist in den letzten Jahren wieder ein verstärktes Interesse an psychoanalytischen Zugängen zu psychotischem Erleben zu beobachten. Nicht zuletzt ist die Bedeutung von Psychotherapie in der multiprofessionellen Behandlung von psychotischen PatientInnen mittlerweile auch in den führenden Leitlinien anerkannt […].
Doch die Bedeutung psychotischer Erfahrungen ist nicht auf das Feld der Klinik beschränkt. Die seit der Antike bestehende Idee der engen Verwandtschaft von außergewöhnlicher Kreativität und Wahnsinn gipfelte im romantischen Geniekult, der immer auch Gefahr läuft, die verstörende Realität der psychotischen Erfahrung zu verklären. Doch bezeugen Werke wie jenes von Hölderlin und Joyce oder die Künstler der Art Brut die über das Pathologische hinausgehende Bedeutung psychotischen Erlebens, indem sie existenziellen menschlichen Grunderfahrungen Ausdruck verleihen“ (S. 8).
Wie anhand dieser Skizze ersichtlich, arbeiten 23 ReferentInnen/AutorInnen in 20 Beiträgen und einem Editorial etwas ab, das als Struktur, Prozess, Dynamik, Störung sehr unterschiedlich – nämlich als „same same but different“ (Rössler-Schülein) – sprich, genau so, aber anders identifiziert und behandelt wird. Wesentlich das dem Editorial vorangestellte Freud-Zitat: „Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion.“ Insofern ist der Band eine mäandernde Annäherung an ein psychisches/psychosoziales Phänomen, das persönlichkeits-, entwicklungs-, struktur- beziehungstheoretisch, psychopathologisch, psychodynamisch, syndrom- und symptomspezifisch, künstlerisch-kreativ (surrealistisch, filmisch, poetisch, lyrisch), auch literatur- und wissenschaftsgeschichtlich, ja, schizoanalytisch ausgebreitet, dokumentiert, veranschaulicht, aufbereitet, untersucht werden kann.
Hierfür arbeitet Rössler-Schülein die klinischen und disziplinspezifischen Voraussetzungen einer (der?) ‚Psychose‘ – oder eines psychotischen Funktions- oder Erlebnismodus‘ – heraus: „Als Fachwort von altgriechisch psychē (Seele, Geist) und -osis (Zustand) stammend, war sie mit französischer Endung ins Deutsche gekommen: ein an einer Psychose erkrankter Mensch wurde als Psychotiker bezeichnet. Der Begriff umfasst einen unscharf definierten Symptomenkomplex […]. Die Psychoanalyse hat diesen Begriff der Psychiatrie entlehnt, und daher hat psychiatrische Nosologie das psychoanalytische Denken auf diesem Gebiet beeinflusst“. Im Unterschied zu den internationalen Diagnosemanualen des DSM und ICD jedoch ist „die Psychoanalyse […] aus nachvollziehbaren Gründen einen anderen Weg gegangen [und] diese Haltung ist im Grunde genommen geblieben: Mit der notwendigen Bewältigung von Ängsten psychotischen Charakters, der Beschreibung eines psychotischen und eines nicht-psychotischen Persönlichkeitsanteils u.v.m. ist die bei Freud gedachte Normalität auch von psychotischen Aspekten in unterschiedlichem Ausmaß/Umfang (Dimensionen) in allen seelischen Vorgängen in den sogenannten »body of knowledge« der Psychoanalyse eingegangen. […] dennoch bleibt die Frage: Hören wir PsychoanalytikerInnen anders? Verstehen wir da etwas anders? Oder ordnen wir die Symptome anders ein?“ (S. 13–14).
Diskussion
So wegweisend die Themen, so prominent die AutorInnen des Bandes sind, so irritierend ist dennoch das Design, so eigen die Auswahl der Inhalte:
(1) Der Band präsentiert sich auf dem Cover mit dem Gemälde ‚Der Nachtmahr‘ (1790/91) von Füssli, wobei der Bezug zur Psychosentheorie, -dynamik, -therapie diffus bleibt. Das Bild wäre ein gelungener Aufmacher für einen Trauma-Band [3], impliziert zwar existenzielle Angst, thematisiert auch die Eigendynamik des Unbewussten, fokussiert sehr wohl die Affektlogiken des Imaginären und Realen – doch eine gelungene Bildmetapher für, so der Titel, den „Wahnsinn“ der Psychosen ist dieses Gemälde mitnichten. Wenn die Auswahl der Beiträge u.a. laut Editorial romantische Banalisierung bzw. idealisierende Verklärung konterkarieren will, unterläuft die Auswahl des Titelbildes diesen Impetus und sorgt mindestens für Missverständnisse.
(2) Für einen sich repräsentativ verstehenden Sammelband fällt auf, dass Stavros Mentzos (1930–2015), Psychiater, Psychoanalytiker, einst Leiter der Abt. für Psychotherapie und Psychosomatik des Klinikums der Universität Frankfurt am Main, Vorsitzender des Frankfurter Psychose-Projekts, nicht einmal erwähnt wird. Dies ungeachtet dessen Lehrbuch der Psychodynamik gerade auch der Psychosen und seiner jahrelang engagierten Herausgeberschaft des Forums der psychoanalytischen Psychosentherapie bei Vandenhoeck & Ruprecht.
(3) Ähnlich fehlen dem Rezensenten für „einen Überblick über den Stand der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit psychotischen Störungen aus theoretischer und klinischer Perspektive“ (Klappentext U2) exemplarische Hinweise auf konkrete Optionen einer Anwendungspraxis, auf psychoanalytisch fundiertes Erfahrungs- und Handlungswissen. Wenn die Theorie der Praxis nicht Selbstzweck, sondern be- und sprachhandlungsleitendes Erkenntnismodell sein soll, wären in der Überarbeitung der Vorträge punktuelle Hinweise auf Grundlagentexte (z.B. von Hartwich & Grube [4]) ein thematischer Mehrwert gewesen.
(4) Was das Verständnis psychotischer Strukturen, gerade der symptomatisch unspektakulären ‚Fälle‘ betrifft, ist Müller-Spiess in ihrem Beitrag „zur Lacan’schen Sichtweise der Psychose“ erfreulich deutlich: „Psychotisches Symptom und psychotische Struktur sind etwas anderes! Verrückt sein und verrückt werden sind etwas anderes“ (S. 192). Auch wenn dabei punktuell Jacques-Alain Miller rezipiert wird, bleibt dies eher Namedropping: eine inhaltlich differenziertere Darstellung der lacanianischen Sicht auf das, was darin als «psychose ordinaire», als ‚gewöhnliche Psychose‘ konzeptualisiert wird, hätte Spektrum und Verständnis psychoanalytischer Psychosentheorie – so die Sicht des Rezensenten – innovativ erweitert. Wie gesagt: Ansichtssachen…
Ob das Bedürfnis nach Eindeutigkeit/Stimmigkeit (des Covers), nach Vollständigkeit/Repräsentanz/Systematik (der verschriftlichten Vorträge) unter Umständen auch eigener subjektlogischer Reflex auf das Uneindeutig-Überdeutliche, das Affektiv-Sprunghafte, das Befremdlich-Ver-/Störende, das Attraktiv-Aversive psychotischer Phänomene ist, bleibt dabei hier ungeklärt, markiert aber einen wesentlichen Punkt: Was macht das Thema mit mir?
Fazit
Der Reader leistet einen theoretischen wie klinischen Überblick über Stand und Mehrspurigkeit psychoanalytischer Auseinandersetzung mit psychotischen Erlebnisinhalten und Funktionsmodi. Als Tagungsband dokumentiert er zugleich den die Sigmund-Freud-Vorlesungen 2023 der Wiener Psychoanalytischen Akademie. Der Band eröffnet ein internationales Spektrum klinischer, paradigmatischer, künstlerischer und erkenntnisgeschichtlicher Zugangsweisen zu als ‚psychotisch‘ identifizierten Verarbeitungs- und Bewältigungsmustern. Ein Verdienst ist, neben heterogenem Wahnsinnsverstehen quasi beiläufig die Behandlung der Psychosen rethematisiert zu haben.
[1] Freud, S. (1911). Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiografisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides). In: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 239–316, hier: S. 308.
[2] ders., S. 250.
[3] Kobbé, U. (2001). ›Nightmare‹: Angst, Lust und die Ordnung des Unbewussten im Alptraum. In: Rüther, E.; Gruber-Rüther, A. & Heuser, M. (Hrsg.). Träume. Schriftenreihe der DGPA, Bd. 20 (231-245). Innsbruck: VIP. Open-access-Publ.: https://www.researchgate.net/publication/383344073
[4] Hartwich, P. & Grube, M. (Hrsg.) (2003). Psychosen-Psychotherapie. Psychodynamisches Handeln in Klinik und Praxis. Darmstadt: Steinkopff.
Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und
Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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Zitiervorschlag
Ulrich Kobbé. Rezension vom 29.08.2024 zu:
Victor Blüml, Sabine Schlüter (Hrsg.): Wahnsinn! Zur Psychoanalyse der Psychosen. Sigmund-Freud-Vorlesungen 2023. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2024.
ISBN 978-3-95558-370-5.
Reihe: Sigmund-Freud-Vorlesungen - 2023.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32428.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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