Ellen Lang-Langer: Autismus und Trauma
Rezensiert von Ortrud Aden, 30.06.2025

Ellen Lang-Langer: Autismus und Trauma. Genese und psychodynamische Behandlung bei Kindern und Jugendlichen. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 290 Seiten. ISBN 978-3-95558-369-9. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Autorin
Dr. Lang-Langer ist niedergelassene Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Frankfurt am Main. Außerdem ist sie Dozentin, Supervisorin und Sachverständige für Familienrecht.
Thema
Die Autorin versteht autistische Störungen als Reaktion auf allerfrüheste, traumatisierende Verletzungen. Sie betont das „Schicksalhafte“ daran und möchte keineswegs Schuldzuweisungen aussprechen, sondern sie sieht die Ursachen in eigenen traumatisierenden Erfahrungen der Eltern, die manchmal über Generationen hinweg die innere Welt „vereisen“.
Aufbau
In den ersten drei Kapiteln stellt die Autorin ihre Position dar, die der gängigen psychiatrischen und verhaltenstherapeutischen Sichtweise deutlich widerspricht. Sie begründet ihre Position ausführlich.
Es folgen Fallberichte, anschließend werden diese Berichte in „abschließende(n) Bemerkungen“ reflektiert.
Inhalt
Im Prolog beschreibt die Autorin eine Situation mit einem Kind. Sie beschreibt nicht nur die Verhaltensweisen des Kindes, sondern auch ihre eigene emotionale Reaktion darauf, ihre Gegenübertragung.
In der Einleitung skizziert sie ihren Standpunkt klar als Gegensatz zu der genetischen, neurologischen und psychiatrischen Forschung. Der psychodynamischen Sichtweise sei der Vorwurf gemacht worden, sie spreche die Eltern schuldig, dadurch wurde diese Sichtweise tabuisiert, was der Erforschung des Autismus geschadet habe. Die Autorin ordnet die autistische Symptombildung in „einen Katalog von Abwehrformationen“ ein, die die allerfrüheste Zeit betrifft.
Im Kapitel „Eine Annäherung" geht es zunächst um eine Beschreibung der autistischen Symptombildung. Im Unterschied zu kleineren Kindern haben Erwachsene und Jugendliche manchmal gelernt, sich anzupassen, ohne allerdings wirklich mit sich selber im Kontakt zu sein. Obwohl die Symptomatik bei kleineren Kindern oft ausgeprägter sei, seien sie oft leichter zu erreichen.
Es folgt der Abschnitt „Die Abwehrfunktion der autistischen Symptombildung“. Früh abgewehrt werde ein „seelischer Schmerz“, den traumatisierten Eltern gelinge es nicht, mit dem Baby „in Beziehung zu treten“.
In den folgenden Abschnitten
- Traumatisierendes Objekt und Depression;
- Autismus,
- Deprivation;
- anaklitische Depression und
- infantiles Trauma und Autismus und postpartale Depression
vertieft die Autorin ihre Überlegungen. Sie geht dabei auch auf die Folgen einer Depression der Mutter auf das Baby ein.
Im folgenden Abschnitt „Autismus und plötzlicher Kindstod" wirft sie mit dem Schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen die Frage auf, ob der plötzlichen Kindstod psychodynamisch interpretiert werden kann. Sie kritisiert die diesbezüglichen „Denkverbote“, die es ausschließlich beim Thema plötzlicher Kindstod und Autismus gebe. Ihre Hypothese ist, dass „auch die Eltern (dieser) Kinder (…) aus schicksalhaften Gründen, die in unbewussten Traumatisierungen zu finden sind, nicht in der Lage waren, ihre Kinder zu halten und ihnen etwas zu geben, das sie zum Bleiben hätte veranlassen können“.
Im nächsten Abschnitt geht es um „Die Bedeutung der nichtsprachlichen Kommunikation und Das kumulative Trauma und seine transgenerationellen Wurzeln“.
Es folgt das Kapitel Historie.
Im ersten Abschnitt führt die Autorin Überlegungen zur Geschichte der Autismusforschungaus. Sie kritisiert die Diffamierung der psychodynamischen Sichtweise, die immer wieder von Elternintiativen aber auch von erwachsenen Autisten ausgeht. Bei keiner anderen psychischen Störung werde die Bedeutung der frühen Beziehung von Mutter und Kind in dieser Weise negiert. Die Autorin betont nochmals, dass es bei der psychodynamischen Sichtweise nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern „um schicksalhafte Erfahrungen und Verflechtungen zwischen dem Schicksal der Eltern und der Entwicklung ihrer Kinder“.
Sie geht auf Veröffentlichungen aus verschiedenen Richtungen ein, die eine ausschließlich neuropsychologische Deutung der Störung sehen.
Auch einige Psychoanalytiker schließen sich dieser Deutung an. Die psychodynamische Autismusforschung sei auch in der psychoanalyitischen Diskussion eher nur randständig. Da Bruno Bettelheim so stark kritisiert worden sei, sehe sie bei den Psychoanalytikerinnen Tustin und Alvarez, die sich mit der psychodynamischen Sichtweise beschäftigt haben, deutlich die Sorge, „mit Bettelheim in eine Schublade geworfen zu werden (…). (Sie) entwickeln beide ein Modell, in dem die Genese des Autismus in frühen Beziehungsabbrüchen gesucht wird, verknüpft mit einer nicht näher beschriebenen ’Sensibilität des Kindes’“.
Im nächsten Abschnitt geht es um „Die psychodynamische Autismusforschung". Die Autorin geht hier auf die Pionierarbeit von Bruno Bettelheim, die Erforschung des Autismus durch Francis Tustin und Anne Alveraez Gedanken zur Genese des Autismus und einer modifizierten Behandlungstechnik ein.
Im folgenden Abschnitt geht die Autorin auf zwei verhaltenstherapeutische Modelle ein, und zwar auf A-FFIP und TEACCH. Beide Modelle lehnt sie komplett ab.
Im folgenden Kapitel geht es um weitere Vertiefung ihrer Gedanken:
- Sich aufeinander abstimmen;
- Autismus als Antwort auf multiple Traumatisierungen um Kontext transgenerationeller Erfahrungen;
- Die Umschlingung von kumulativem und transgeneratonellem Trauma;
- Die Spur der traumatischen Verletzung;
- die Eltern autistischer Kinder;
- Das zerstörerische Potenzial der abgespaltenen traumatischen Erfahrung des Objekts und die autistische Abwehr.
Das Kapitel schließt ab mit „Überlegungen zu Übertragung und Gegenübertragung in der Behandlung autistischer Kinder und Jugendlicher". Hier geht die Autorin unter anderem ausführlich auf ihre eigenen Emotionen während der Therapie ein.
Es folgt das Kapitel Kinder und Jugendliche mit autistischer Symptombildung in der psychoanalytischen Behandlung, die Autorin greift die oben genannten Themen auf und verifiziert anhand dieser Beispiele ihre Hypothesen.
Jeder dieser Abschnitte beginnt mit einer Einführung, es folgen jeweils Abschnitte über die Therapie von Kindern, bei denen die entsprechende Thematik deutlich wurde.
Die einzelnen Themen:
- Frühkindlicher Autismus mit transgenerationellen traumatischen Wurzeln;
- Autistischer Kern und Anpassungsbewegung im Kontext traumatisierender Projektionen;
- Autistische Barrieren als Abwehr transgenerationeller Traumata;
- Verschwinden und Wiederauftauchen autistischer Muster im Kontext traumatischen Geschehens;
- Eine Langzeitbeobachtung;
- Zwei scheiternde Behandlungen autistischer Patienten.
In den abschließendende(n) Betrachtungen reflektiert die Autorin zusammenfassend. Zunächst setzt sie sich mit der Frage auseinander: „Steht das autistische Objekt anstelle des Menschen, des menschlichen Objekts?" Es folgt eine Reflexion über „Die schicksalhafte Verknüpfung meiner Patienten mit ihren Eltern", bei der sie auch in diesem Zusammenhang auf ihre eigene Gegenübertragung eingeht, bevor sie anhand einiger oben erwähnter Fallbeispiele ihre diesbezügliche Hypothese verifiziert.
Ein Abschnitt über „Die Macht der unbewussten Welt des Objekts" folgt. Die Autorin beschreibt zunächst eine gelungene, anrührende Interaktion zwischen einer Mutter und einem Baby. Vor diesem Hintergrund stellt sie noch einmal den Kontrast zu nicht gelingenden frühen Interaktionen dar.
Ein „Exkurs (über den Film) Rainman" schließt dieses Kapitel ab.
Im Nachwort geht sie darauf ein, wie im therapeutischen Rahmen neue Erfahrungen gemacht werden können und Entwicklung möglich wird.
Diskussion
Die Autorin beleuchtet ihren Standpunkt immer wieder neu aus verschiedenen Perspektiven. Besonders gut fand ich, dass sie nicht nur ihre Patienten und deren Eltern einfühlsam beschreibt, sondern immer wieder ehrlich und offen ihre eigenen Emotionen dazu reflektiert. Die Offenheit der Autorin gerade gegenüber den emotionalen Entwicklungsmöglichkeiten dieser Kinder steht in erfreulichem Gegensatz zu ausschließlich Verhaltensweisen trainierenden Methoden.
Ihre komplette Ablehnung der TEACCH-Methode teile ich allerdings nicht ganz, die Strukturierung unter anderem des Schulalltags nach dieser Methode ist enorm hilfreich und steht m.E. nicht im Widerspruch zu einer beziehungsorientierten Arbeit.
Fazit
Eine erfrischende, lebendige und nachvollziehbare Darstellung der psychodynamischen Position bei der Therapie autistischer Kinder und Jugendlicher.
Rezension von
Ortrud Aden
M. A. Sonderpädagogik und Rehabilitationswissenschaften, zur Zeit tätig in einer Autismusambulanz
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Es gibt 21 Rezensionen von Ortrud Aden.