Stephan Ellinger, Oliver Hechler (Hrsg.): Lehramt Sonderpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Birgit Werner, 24.06.2025

Stephan Ellinger, Oliver Hechler (Hrsg.): Lehramt Sonderpädagogik. Professionalisierung im Schwerpunkt Lernen. wbv (Bielefeld) 2024. 170 Seiten. ISBN 978-3-8252-6264-8. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 32,50 sFr.
Thema
Der UTB-Verlag setzt sich in Kooperation mit anderen Verlagen mit einer Reihe von Publikationen das Ziel, Lehr-, und Lernmedien für ein erfolgreiches Studium zu publizieren.
Diese Intention greifen die Herausgeber auf, um die scheinbar schlichte Frage zu diskutieren: Wer ist ein guter Lehrer, wer eine gute Lehrerin? (S. 7). Absicht ist es, eine Skizze eines Lehramtsstudium vorzulegen, das „das Lehramtstudium sehr bewusst auf die Persönlichkeitsbildung, die Beziehungsfähigkeit und die pädagogische Qualifikation der Lehrkraft“ ausrichtet (S. 8).
Autor:in oder Herausgeber:in
Mit insgesamt 10 Autorinnen und Autoren – alle Lehrende am Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen an der Universität Würzburg – wird ein Gemeinschaftswerk vorgelegt, dass – im Gegensatz zu vielen anderen Sammelbänden – sich dieser übergeordneten Zielsetzung widmet und die Themen nicht additiv bearbeitet.
Die Publikation umreißt den curricularen Rahmen der Würzburger Lehramtsausbildung. Für dessen Konzept wurden die Autoren 2020 mit dem Pädagogikpreis des Bayrischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) gewürdigt.
Aufbau
Das Werk versteht sich als fachwissenschaftliche Einführung in die sonderpädagogische Fachrichtung LERNEN. Von den insgesamt 13 Kapiteln widmen sich zunächst acht grundlegenden Fragen, die das Selbstverständnis des Faches umreißen: allgemeine Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik, wissenschaftstheoretische, psychosoziale, (fach-) didaktische, soziologische, psychologische wissenschaftstheoretische Grundlagen. Diese traditionellen Bezugswissenschaften verstehen sich hier nicht in Abgrenzung voneinander, sondern beleuchten deren Relevanz unter dem Aspekt der fachrichtungsspezifischen Professionalisierung.
Die nachfolgenden Kapitel widmen sich konkreten „Baustellen“ (S. 8) dieses komplexen Handlungsfeldes, wie beispielweise Fragen der Kasuistik bzw. des Fallverstehen, den Potenzialen von Praktika sowie der Relevanz pädagogischer Beratung.
Inhalt
Die übergeordneten Aspekte Persönlichkeitsbildung, Beziehungsfähigkeit und pädagogische Qualifikation begründen den Zugang, das Lehramtsstudium ebenso wie schulische Bildungsprozesse als Teil einer jeweils individuellen Bildungsbiografie zu begreifen. Illustriert wird dies durch die Rahmengeschichte zweier Studienanfänger, Tim und Julia mit der Frage, wie sich das universitäre Bildungsangebot in die Bildungsbiografie der Studierenden einordnet. Dieser Gedanke basiert auf den Thesen zur Erziehung nach Kobi (1993) (S. 17) in deren Mittelpunkt in der Pädagogik das interaktionistische Moment, das „Aushandeln“, der „bilaterale Beziehungswandel“ und weniger eine „gegenstandbezogene Produktion“ von Wissen stehen. Vor jedem Kapitel formulieren die beiden Protagonisten Fragen, die dann nach jedem Kapitel vor ihren Erkenntnisgewinn sowie ihre neu entstandenen „blinden Flecken“ reflektiert werden. Diese Stilmittel – ergänzt durch Fallbeispiele bzw. Vignetten – unterstreicht, dass es sich bei dieser Professionalisierung um eine mehrperspektivische, interdisziplinäre Expertise in einem genuin pädagogischen Arbeitsfeld handelt/handeln muss. Schwerpunkte bilden dabei das Unterrichten als Handlungsfeld sowie Schule und Universität als Orte der Professionalisierung.
Professionalisierung selbst wird hier operationalisiert über Fragen zur Persönlichkeitsbildung, zur Beziehungsgestaltung, zu Kasuistik und zum Fallverstehen, zum Praktikum, zur Beratung sowie als querlegende Thematik zur Digitalisierung und dem Einsatz von Medien. Damit werden die Autorinnen und Autoren dem Anspruch gerecht, jede Phase einer Bildungsbiografie generell von der „Person“ und weniger von der „Sache“ hier der erziehungswissenschaftlichen, sonderpädagogischen Disziplin zu denken.
Prominent wird als soziologische Basis wird in Kapitel 5 das Konzept des Resonanzerlebens von Hartmut Rosa (2016) referiert, um auf die Gefahren von Entfremdungsprozesse in der Schule aufmerksam zu machen. Zentral ist dabei der Wirkmechanismus, wie aus einer sozialen Gefährdungslage eine relevante soziale Benachteiligung und schließlich in der Schule eine Lernbeeinträchtigung wird und wie dieser pädagogisch begegnet werden kann.
Die Ausführungen zu den psychologisch-diagnostischen Grundlagen (Kapitel 6) legen dem Leser einen distanziert-reflektierten Umgang mit Diagnose-, Testverfahren nahe. Trotz ihrer fachdisziplinären Professionalität können diese erst evidenzbasiert, wirksame Hilfs-, Unterstützungsmomente ihr Potenzial für eine genuin pädagogische Arbeit entfalten.
Mit Kapitel 7 beginnt der interessante Diskurs um die Frage, ob sich Lehren/Unterrichten mit Forschung versteht oder resp., ob man als Lehrkraft eigentlich etwas von Forschung verstehen muss und wenn ja, wieviel. Diese Trennung wird hier dialektisch aufgehoben, wenn jede Frage innerhalb eines Studiums, einer pädagogischen Herausforderung zu ihrer reflektierten Bearbeitung einen Kreislauf empirischer Forschung durchläuft. An deren Beginn steht die Bereitschaft und Fähigkeit, (mit Freude) Fragen zu stellen. So sollte es im Studium zu einer „befreienden Normalität“ (S. 83) werden, ganz bewusst Fragen zu stellen, Hypothesen zu formulieren, subjektive Annahmen mit Theorien zu verknüpfen und auf diese Weise in einen forschenden Habitus zu gelangen. Forschendes Lernen wird als wirkmächtiger Mechanismus des Studiums herausgearbeitet, zu denen auch klassische Formate wie Hausarbeiten, Referate usw. gehören.
Kapitel 8 führt zu der Frage: „Glaubst du wirklich, dass jeder Mensch sinnvoll handelt?“ (S. 106). Das Verstehen jedweder menschlichen Handlung – jedoch nicht automatisch deren Rechtfertigung – führt zu psychosozialen Grundlagen des Arbeitsfeldes, hier konkretisiert über Aspekte der Bindungstheorie und der Psycho- und Gruppendynamik. Damit wird die (Lehrer-)Persönlichkeit zum zentralen Punkt innerhalb der Beziehungsgestaltung. Dies wiederum setzt reflektierte Selbsterfahrungen voraus, um i.S. einer Hodegetik den Sinn und Zweck des akademischen Studiums zu erkennen und zu nutzen.
Ein abschließendes Kapitel widmet sich der notwendigen, aber nicht abschließend zu beantwortenden, trivialen und zugleich komplexen Frage zur Rolle der Digitalisierung und dem Einsatz digitaler Medien in diesem Arbeitsfeld. Fünf Perspektiven skizzieren deren Potenziale in jeweils unterschiedlichen Funktionen auf, z.B. zur Überwindung von Lernwiderständen, zur Diagnostik, zur Gestaltung eines adaptiven Unterrichts (S. 155) usw. Letztlich aber haben all diese Zugänge nicht per se einen ‚Eigenwert‘, sondern entfalteten diesen erst als eine, neben vielen anderen, „Möglichkeit zur Förderung im erschwerten Lernprozess“ (S. 161).
Diskussion
Der Grundtenor der fachrichtungsspezifischen Professionalisierung mündet in das – leider in der Pädagogik oft überstrapazierte – Prinzip der Individualisierung, dass hier aber stringent von den jeweiligen Bedürfnissen und Bedarfen, den tatsächlichen Lern- und Leistungsmöglichkeiten, den Interessen und Vorerfahrungen der Lernenden ausgeht. Es ist im Selbstverständnis der Fachrichtung verankert, dass der Fokus auf den Umgang mit sozialer Benachteiligung gelegt wird.
Nach jedem Kapitel finden sich prägnante Zusammenfassungen aus dem aktuellen Diskurs der Fachrichtung, deren Spezifik in den Berücksichtigungen erschwerender Sozialisationsfaktoren resp. hinderlicher und exkludierenden Lernbedingungen liegt. Ergänzt werden diese durch Hinweise zur (überschaubar) vertiefenden Literatur.
Die Stärke des Buches liegt im Zusammendenken von Persönlichkeitsbildung der Lehrkraft mit der Komplexität des pädagogischen Arbeitsfeld. Die Argumentationen sind vom Adressaten – hier Studierende – mit ihrem Blick auf ihre eigene Professionalisierung zu lesen. Gleichzeitig kann es als Advance organizer Studierenden eine Orientierung zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik bieten.
Fazit
Trotz der immer wieder beklagten begrifflichen Unschärfe gelingt es hier in beeindruckender Weise, den Fokus des sonderpädagogischen Schwerpunkts Lernen mit Leben zu füllen und nicht zu „leeren Worten“ (Hempel/Buschhaus/Melzer; 2025) verkommen zu lassen.
Es wäre der Publikation zu wünschen, dass diese Intention von allen Rezipienten wahrgenommen und als gewinnbringend erfahren wird.
Literatur
Hempel, H./Buschhaus, M./Melzer, C. (2025). Alles nur leere Worte? -Begriffsentwicklung im Kontext des Phänomens Lernbeeinträchtigung im Zeitraum 1994 – 2022. In: Zeitschrift für Heilpädagogik (76). Heft 5/2025; S. 203 – 212
Rosa, H. (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp
Rezension von
Prof. Dr. Birgit Werner
Pädagogische Hochschule Heidelberg; Institut für Sonderpädagogik
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