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Sophie C. Holtmann: Belastungsdiagnostik bei Jugendlichen

Rezensiert von Prof. Dr. Reinhold Weiß, 12.11.2024

Cover Sophie C. Holtmann: Belastungsdiagnostik bei Jugendlichen ISBN 978-3-7639-7276-0

Sophie C. Holtmann: Belastungsdiagnostik bei Jugendlichen. Prävention von Ausbildungsabbrüchen und Belastungsfolgen. wbv (Bielefeld) 2023. 288 Seiten. ISBN 978-3-7639-7276-0. 44,90 EUR.
Reihe: Teilhabe an Beruf und Arbeit - 5.

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Thema

Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in eine Berufsausbildung stellt für junge Menschen einen wichtigen Lebensabschnitt dar. Gelingende Übergänge und erfolgreiche Verläufe erleichtern den weiteren Berufs- und Karriereweg. Misslingende Übergänge, beispielsweise in Form von Ausbildungsabbrüchen, können sowohl Ursache als auch Folge psychischer Probleme von Auszubildenden sein. Generell scheinen Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen im Jungendalter zugenommen zu haben. Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, welche Rolle das psychische Wohlbefinden bei Auszubildenden spielt und wie psychischen Belastungen vorgebeugt werden kann.

Autor:in oder Herausgeber:in

Sophie C. Holtmann hat ein Studium der Psychologie an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg abgeschlossen. Ihre Forschungsschwerpunkte am Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen waren die Diagnostik der emotionalen und sozialen Entwicklung sowie psychische Belastungen in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise im Strafvollzug.

Entstehungshintergrund

Die Untersuchung enstand als Dissertation am Lehrstuhl für Pädagogik bei Verhaltensstörungen der Universität Würzburg. Sie steht im Zusammehang mit dem Forschungsprojekt „Inklusive Berufliche Bildung in Bayern (IBB)“.

Aufbau

Zu Beginn der Untersuchung steht eine Analyse der Theorien zum psychischen Wohlbefinden im Jugendalter und den dazu vorliegenden Befunden. Daraus leitet die Autorin ihre Forschungsziele und Forschungsfragen ab. Weitere Kapitel widmen sich der empirischen Arbeit, insbesondere der Testkonstruktion, dem Pretest sowie der Normung des Instrumentariums.

Inhalt

Im Zentrum der Dissertation steht die Entwicklung eines standardisierten Fragebogens, um Belastungen in der dualen Berufsausbildung und das psychische Wohlbefinden von Auszubildenen zu untersuchen. Die Grenzen zwischen Verhaltensauffälligkeiten und therapiebedürftigen Verhaltensstörungen werden als fließend angesehen. Der Fragebogen beruht auf einem umfassenden Verständnis der Genese von Auffälligkeiten und Störungen im Verhalten von jungen Menschen. Dem interaktionistischen Analysemodell in Anlehnung an Stein liegen vier verschiedene Perspektiven zugrunde:

  • Die personenorientierte Perspektive erfasst genetische und organische Ursachen, aber auch zurückliegende biographische Faktoren, die die Persönlichkeit überdauernd prägen.
  • Die interaktionistische Perspektive berücksichtigt sozialisationsbedingte und umweltbezogene Faktoren.
  • Aus situationistischer Perspektive werden jeweils aktuelle Anlässe und Erlebnisse thematisiert.
  • Die Wahrnehmung von Beobachtern, hier von Psychologen oder geschulten (Sonder-)Pädagogen, geht in die Beobachterperspektive ein.

Der Fragebogen soll einen Beitrag leisten, um durch eine „frühzeitige Erkennung psychisch eingeschränkten Wohlbefindens Chronifizierungen, Ausbildungabbrüche und biograhische Brüche“ zu verhindern und Schüler/innen bei Bedarf gezielt zu unterstützen. Er wurde anhand einer Stichprobe von 712 Berufsschüler/innen in der Region Franken validiert und normiert. Psychische Belastungsfaktoren wurden anhand von acht Dimensionen skaliert:

  • Emotionalies Empfinden
  • Orientierung an (gesellchaftlichen) Konventionen
  • Körperliches Befinden
  • Ausdrucksformen innerer Anspannung
  • Soziale Orientierung
  • Impulskontrolle
  • Leistungsbezogene Aufgabenorientierung
  • Soziale Akzeptantz.

Die auf diese Weise entwickelte Item- und Skalenstruktur wird einer explorativen und konfirmatorischen Faktorenanalyse unterworfen. Die Testverfahren bestätigen im Großen und Ganzen die Validität und Reliabilität des Testverfahrens.

Diskussion

Das zugrunde liegende Analysemodell fokussiert auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale und persönliche Einschätzungen der Befragten. Das sind zweifellos wichtige Einflussfaktoren für das Verhalten von Auszubildenden. Sie verweisen auf relevante Phänomene, denen in der Ausbildungspraxis Aufmerksamkeit zuteil werden sollte. Sie können aber keine Auskunft über die Ursachen für Belastungen und Auffälligkeiten geben. Dazu wären weitere Analysen, zum Beispiel in Form von Beobachtungen, Gesprächen und Befragungen erforderlich. Dies erkennt die Autorin ausdrücklich an.

In einer umfasenderen Analyse müssten zusätzlich auch die spezifischen Anforderungen in den Ausbildungsberufen sowie die Bedingungen in den Ausbildungsbetrieben und Berufsschulen in den Blick genommen werden, ebenso der familiäre und soziale Hintergrund der jungen Menschen. Diese für die Zufriedenheit in der Ausbildung und einen möglichen Ausbildungsabbruch relevanten Faktoren werden in der Untersuchung ausgeblendet. Somit kann der Anspruch, den der Untertitel verheißt, nämlich Ursachen für einen Ausbildungsabbruch, besser die vorzeitige Lösung von Ausbildungsverträgen, aufzuklären, nur sehr beschränkt eingelöst werden. Die Problematik des Ausbildungsabbruchs wird lediglich am Rande, nämlich in einem als Exkurs gekennzeichneten Abschnitt, thematisiert. Es bleibt somit offen, welche Rolle die untersuchten Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen bei einer vorzeitigen Vertragslösung spielen.

Der Fragebogen stellt ein für wissenschaftliche Zwecke entwickeltes Instrumentarium dar. Die Entwicklung des Fragebogens und das methodische Vorgehen bei seinem Einsatz und seiner Normierung werden ausführlich und methodenkritisch dargestellt. Zum Einsatz kommen elaborierte statistische Verfahren. Darin liegt der besondere Wert der Untersuchung. Hingegen werden Untersuchungsergebnisse nur insofern vorgestellt als sie für die testtheoretische Einordnung und Bewertung der Daten relevant sind. Für den interessierten Leser, vor allem aus der Praxis der Berufsausbildung, wäre es hingegen von Interesse gewesen, mehr über die Ergebnisse der Befragung und ihre Interpretation sowie die Anwendung des Fragebogens in der schulischen Praxis zu erfahren. Für eine pädagogische Intervention wäre es zudem hillreich zu wissen, an welchen Indikatoren Handlungsbedarfe festgemacht werden, welche Handlungsmöglichkeiten Lehrkräfte an Berufsschulen haben und in welchen Fällen therapeutische Unterstützung in Anspruch genommen werden sollte. Auf derartige praktische Konsequenzen geht die Untersuchung leider nicht ein.

Fazit

Die Untersuchung lenkt den Blick auf Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Verhaltensauffälligkeiten von Auszubildenden. Der dazu entwickelte Fragebogen ist als Instrument für den wissenschaftlichen Einsatz entwickelt worden. Hier hat er seine Berechtigung und findet seine Anwendung. Für den Einsatz in der schulischen Praxis ist er dagegen weniger geeignet. Sinnvoller als der Einsatz eines Fragebogens dürften Gespräche mit den betreffenden Schülerinnen und Schülern sowie der Austausch mit Kollegen, Ausbildern und Eltern sein.

Rezension von
Prof. Dr. Reinhold Weiß
ehemaliger Vize-Präsident und Forschungsdirektor im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB)
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Es gibt 3 Rezensionen von Reinhold Weiß.

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Zitiervorschlag
Reinhold Weiß. Rezension vom 12.11.2024 zu: Sophie C. Holtmann: Belastungsdiagnostik bei Jugendlichen. Prävention von Ausbildungsabbrüchen und Belastungsfolgen. wbv (Bielefeld) 2023. ISBN 978-3-7639-7276-0. Reihe: Teilhabe an Beruf und Arbeit - 5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32437.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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