Jürgen Große: Die kalte Wut
Rezensiert von Peter Flick, 09.08.2024
Jürgen Große: Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments. Büchner-Verlag eG (Marburg) 2024. 384 Seiten. ISBN 978-3-96317-375-2. D: 39,00 EUR, A: 39,00 EUR.
Thema
Den Ressentiment-Vorwurf versteht der Philosoph Jürgen Große als Teil eines sprachpolitischen „Kampfspiels“. Eine „Hermeneutik des Verdachts“, die auf Nietzsche zurückgeht, unterstellt, dass das Gefühl eigener Ohnmacht mit der moralischen Herabsetzung des Gegners kompensiert wird. Jürgen Großes Darstellung der Ressentimenttheorien und seine Kritik einer denunziatorischen Praxis ist ein Versuch gegen die Tendenz zu seiner Entwertung, den Ressentimentbegriff moralisch zu rehabilitieren.
Autor und Werk
Die Publikationen des Berliner Philosophen Jürgen Große (geb. 1963) verraten eine Vorliebe für die pessimistisch gefärbte Moralistik („Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989“, 2010; Erlaubte Zweifel. Cioran und die Philosophie, 2014; Der Tod im Leben. Philosophische Deutungen von der Romantik bis zu den «life sciences«, 2017). Eine Sammlung von Aphorismen ist zuletzt 2022 unter dem Titel „Die kreative Klasse. Nachrichten aus Winkel, Szene und Betrieb“ erschienen.
Aufbau und Inhalt
„Prolog: Ressentiment-Alarm!“ (9-17)
Im Prolog geht es nicht nur um die „alltäglichen Schreckensmeldungen“ (9), die entlang der bekannten „Triggerpunkte“ (Steffen Mau) die Ressentiments des Publikums bedienen. Auch sozialwissenschaftliche „Studien zum Populismusphänomen oder zur sogenannten Identitätspolitik“(12) ließen, so Große, jeden Spürsinn für Ambivalenzen und eine mögliche „kulturschöpferische Intention“ (14) des Ressentiments vermissen. Auch tiefergehende Analysen, wie die von Cynthia Fleury in ihrem Buch „Hier liegt die Bitterkeit begraben“ (Berlin 2023) endeten mit dem üblichen Pathologieverdacht (vgl. Anm. 11, 337).
Teil A: Theorie
Jürgen Großes begriffshistorische Rekonstruktion beginnt mit Montaigne.
Kapitel I: „Französische Moralisten“ (21-37)
Die Pionierleistung Michel de Montaignes besteht für den Autor darin, dass er einen neuen, nichtmoralisierenden Blick auf die Vielfalt von Ressentimenterfahrungen eröffnet. Seine Nachfolger, Jean de La Bruyère und Nicolas Chamfort, haben mit ihrer „Transformationen des Begriffs der Ranküne“ (36 f.) den Diskurs weiter vorangetrieben, v.a. was ihre Selbstanalysen zur Diskrepanz zwischen geistigem Machtanspruch und faktischem Ohnmachtsgefühl als Intellektuelle angeht.
Kapitel II: „Friedrich Nietzsche“ (38-63),
Nietzsches „Genealogie der Moral“ nimmt in dieser Richtung eine folgenreiche Weichenstellung vor. Das Ressentiment ist für ihn Ausdruck einer „unbefriedigten Rachelust“ der vom Neid auf das Leben zerfressenen schwächlichen Naturen. Diese „Verunglückten und Wurmstichigen“ (Nietzsche, 39) verdienten kein Mitleid, wie eine christlich-bürgerliche Morallehre insinuiert, sondern intellektuelle Verachtung, besonders wo sich die vom Leben Benachteiligten zu Richtern über die Begabten und Erfolgreichen aufschwingen. Denn nur ein von Gewissensbissen freier „aristokratischer Radikalismus“ (47) kann eine kulturell hochstehende Kunst hervorbringen. Von denjenigen, die in ihrer „ohnmächtigen Missgunst“ (47) feststeckten, seien keine oder allenfalls zweitrangige Kulturleistungen zu erwarten.
Kapitel IV: „Ludwig Klages“ (64 -73)
Die Ansätze Max Webers (49 f.) und Max Schelers werden als kultursoziologische Weiterentwicklungen eines nietzscheanischenGeistesaristokratismus bewertet. Klages Kritik des „lebenszersetzenden Geistes“ (72) dagegen könne heute nur Vertreter einer „konservativen Revolutionen “ oder „ökologischer Weltrettungsutopien“ (72 f.) ansprechen.
Kapitel V: „Emil Cioran“ (74 -99)
Die „singuläre Stellung“ des rumänisch-französischen Philosophen in der Geschichte der Ressentimenttheorie begründet Jürgen Große damit, dass Cioran Nietzsches moralphilosophische Diffamierung des Ressentimenttypus als „krank“ und kulturell „unproduktiv“ überwindet. Er bejaht und erkennt im Ressentiment eine „somatische Triebkraft des Denkens und Schreibens“ und eine „Inspirationsquelle“, die neue ästhetische und metaphysische Erfahrungen erschließt, wenn auch um den Preis eines „ frivol-verzweifelten Zynismus“ (74 ) Mit dieser Position gehe Cioran hinter Nietzsches auf die „Schopenhauer-Schule“ und ihre Idee einer „finalen Auflösung des Lebenswillens“ (99) zurück. In jedem Fall befreit Cioran den Ressentimentbegriff vom nietzscheanischen Stigma: „Nicht bloß Schwache, sondern überhaupt Mensch sein heißt sich rächen wollen, mithin in der Verneinung leben.“ (99). Eine Sublimierung des „Furors der Weltverachtung“ (98), wie sie Freud als Zivilisationsleistung verteidigt, sei indes unmöglich. Groll, Rancune seien nicht sublimierbar, so Cioran.
Eine „Zwischenbilanz“ (100-106) stellt den Zusammenhang der Ideengeschichte mit der historischen Praxis des Bürgertums, ihren „Ambitionen und Ängsten“ (101) her, die in Teil B analysiert wird.
Teil B: Praxis
Kapitel II: Besitzgier und Statusneid (123 ff.)
Konservative und linksliberale Kulturkritik, so lassen sich beide Kapitel zusammenfassen, pflegen wechselseitig ihre Ressentiments. Positionen und Konfliktlinien sind dabei klar abgesteckt: städtischen Kosmopolitismus vs. provinzielle Beschränktheit (Kapitel I) und in der Sozialpolitik heißt es: „gerechter Zorn“(124), der die „Gier der Reichen“ anklagt vs. „Statusneid“ der Leistungsunwilligen (vgl. 125 ff.) (Kapitel II).
Kapitel III: Affektreaktion und Anarchokalkül (148 ff.)
Kapitel III umfasst einen historischen Exkurs zum Thema Ressentiment, der eine deutsch-französische Tradition des Antimodernismus und Antisemitismus in Erinnerung ruft: von der französischen Gegenaufklärung („De Maistres Groll“, 152ff) über die „Renouveau catholique“ (156 ff.) bis zu ihrem „deutschen Seitenstück Carl Schmitt“ (162 ff.).
Kapitel IV: Naturstolz und Kulturleid (176 ff.)
Danach folgt in Kapitel IV eine Tour d’Horizon durch die Geschichte feministischer Theoriebildung, in der der Autor Selbstwidersprüche eines „Allmachtsfeminismus“ (215) zu erkennen glaubt. Dieser „oszilliere“ zwischen der Forderung nach „weiblicher Macht“ und „tradierte(n) Formen der Selbstdarstellung als Opfer“ (216). Das Kapitel endet mit einem verquastes Cioran-Zitat, die der zum Selbstbewusstsein gelangten Frau „>jene geheimnisvolle(n) Überlegenheit<“ attestiert, „> die eine jahrtausendealte alte Sklaverei verleiht< (E.M. Cioran)“ (216).
Kapitel V: „Berufskunst und Bildungsphilisterium“ (217 ff.)
Das danach folgende Porträt des zeitgenössischen Kulturbürgertums, das der Autor als „kreativen Klasse“ oder als „Boheme-Bourgeoisie“ (kurz „BoBo“) bezeichnet, bestätigt Ciorans These, dass eine „Selbstveredelung“ durch die neobürgerlich Erziehung zur „Achtsamkeit“ scheitern muss. Sie steigern nur das Misstrauen des postmodernen Egos, das sich dann notgedrungen auch „gegen seinesgleichen“ richte und eine Spirale von gegenseitigen Ressentimentunterstellungen in Gang setze. Was als postmodernes Kreativitätspostulat daherkommt, entpuppt sich so als Distinktionsmittel gegenüber Konkurrenten und einem „materialistischen“ Lebensstil der Normalbürger.
Epilog: Gefühl zeigen (328 ff.)
Das Fazit lautet: das zeitgenössische Denken des „liberalen Juste Milieu in Medien, Wissenschaft, Gesellschaft“ (334) folgt der Logik einer ressentimentgetriebenen Identitätspolitik. Das tonangebende liberale Kulturbürgertum sperre sich gegen die Einsicht, dass negative Affekte und Ressentimentgefühle „weder sublimierbar noch überwindbar“ (334) sind. Boshaftigkeit und Rachebedürfnisse als unvermeidlich zu erkennen, mache es aber erst möglich, dass man„ im Gegenüber genau das erblickt und erkennt, was man in sich selbst nicht zu fühlen und zu leiden wagt“ (334).
Diskussion
Es drängt sich die Frage auf, warum ausgerechnet die „Entsublimierung“ des Ressentiments ein „Gegengift“ zur „Gereiztheit und Gehässigkeit der >Kreativen<“ (79) darstellen soll. Führt Ciorans „intime Selbstbeobachtung des Künstlers“ (79) und sein Bekenntnis, dass wir „Individuation als Schuld wie als Leiden, an sich selbst und gegen andere realisiertes Unglück“ (79) betrachten sollen, nicht eher noch tiefer in den Sog von Depression und Dauerreflexion? Eine radikale Kritik des Bestehenden darf sich die normative Fähigkeit zutrauen, Spuren eines Glücks im bestehenden Schlechten auszumachen (Vgl. dazu Peter E. Gordon: Prekäres Glück. Adorno und die Quellen der Normativität, Berlin 2024).
Fazit
Mit seiner Kritik an den zynischen „sprachpolitischen Kampfspielen“ in öffentlichen Debatten hat der Autor sicher einen Nerv getroffen. Aber seine kritische Haltung, auf der einen Seite den denunziatorischen Gebrauch des Ressentimentbegriffs zu beklagen, aber Ressentiments zugleich als unvermeidlichen Teil der „conditio humana“ zu bejahen, bleibt zweideutig.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 09.08.2024 zu:
Jürgen Große: Die kalte Wut. Theorie und Praxis des Ressentiments. Büchner-Verlag eG
(Marburg) 2024.
ISBN 978-3-96317-375-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32443.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.
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