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Stefan Ripplinger: Kunst im Krieg

Rezensiert von Johannes Schillo, 20.08.2024

Cover Stefan Ripplinger: Kunst im Krieg ISBN 978-3-89438-836-2

Stefan Ripplinger: Kunst im Krieg. Kulturpolitik als Militarisierung. PapyRossa Verlag (Köln) 2024. 135 Seiten. ISBN 978-3-89438-836-2. D: 14,90 EUR, A: 15,40 EUR.
Reihe: Neue Kleine Bibliothek - 344.

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Thema

Thema der Veröffentlichung ist die Rolle der Kunst in Kriegs- und Vorkriegszeiten, fokussiert auf die vom Autor konstatierte militaristisch aufgestellte Kulturpolitik, die in Deutschland ‚nach Corona‘ beim Ukraine- und Gazakrieg Platz gegriffen hat.

Autor

Der Autor ist Übersetzer und freier Journalist, der bereits zahlreiche Veröffentlichungen zu kulturpolitischen Themen, zu traditioneller und avantgardistischer Kunst vorgelegt hat.

Aufbau und Inhalt

Ein kurzes Vorwort benennt die Grundthese des Essays – „Kulturpolitik wird zur Militarisierung“ (S. 9) – und seine doppelte Fragestellung – wieso gerade Kunst zum Objekt politischer Beaufsichtigung wird und wieso dabei „die früheren Friedensfreunde“ (S. 9) als die entscheidenden politischen Subjekte agieren –, wobei der Autor auch offen über eigene Irrtümer im Fall des Golfkriegs von 2003 informiert.

Es folgen zehn Kapitel, die zwei Exkurse (zur Beteiligung der BRD am völkerrechtswidrigen Kosovokrieg und zur FAZ-Polemik gegen die Philosophin Judith Butler) sowie Ausführungen zur aktuellen Rolle der Medien einschließen. Das Einleitungskapitel erläutert die neue Lage, in der „nicht nur eine gewaltige Aufrüstung (…), sondern auch eine Abkehr von der Friedensrhetorik der vorangegangenen Jahrzehnte“ (S. 11) stattfinde. Kunst habe sich zwar schon immer in der Doppeldeutigkeit von Herrschaftskritik und -legitimierung bewegt, doch seien jetzt das Wirken eines „fundamentalen Kulturwandels“ (S. 24) und der Verlust des „Autonomiestatus“ (S. 25) zu verzeichnen.

Die Kapitel 2 bis 4 greifen die Vorgeschichte dieses Kulturwandels auf und zeigen z.B. die lange Tradition einer Formierung der Kunstproduktion durch Zensur und Förderungspolitik oder gehen anlässlich des Kosovokriegs auf die Neustrukturierung der politischen Klasse im Sinne einer internationalistisch orientierten Interventionsbereitschaft ein. Der Spruch „Wir sind im Krieg“ (S. 49) wird dann zur Phase der staatlichen Pandemiebekämpfung ab 2020 zitiert – eine Metaphorik, die Ripplinger insofern ernst nimmt, als er hier eine Vorbereitung, ja einen „Wendepunkt“ (S. 53) hin zur späteren Gängelung der Kunst sieht. Dabei kritisiert er einerseits die Notstandsmaßnahmen der Regierung fast im Sinne der Querdenkerszene – Kunst sei „ganz offiziell systemirrelevant geworden“ (S. 7) –, erinnert aber andererseits an das speziell in der BRD vorfindliche, engmaschige Netz der Kunstförderung und an einschlägige „Nothilfen“, dank derer „etliche freie Künstlerinnen und Künstler zum ersten Mal in ihrer Karriere Geld vom Staat (erhielten)“ (S. 52).

Die Kapitel 5 bis 7 kommen dann zum eigentlichen Thema der Instrumentalisierung von Kunst im Blick auf die Militarisierung der Gesellschaft, auf die Parteinahme im staatlich erwünschten Sinne und auf den Ausschluss oppositioneller Bestrebungen, die sich der Forderung nach „Kriegstüchtigkeit“ widersetzen. Mit dem Ukraine- und Gazakrieg sei Kunst wieder systemrelevant geworden, was Ripplinger an den Zensurmaßnahmen im Blick auf russische Kunst und Kultur, vor allem aber an der unter heftiger politischer Beteiligung geführten Debatte um die „documenta fifteen“ demonstriert: Die Freiheit der Kunst ist praktisch eingebunden in ein ganzes System von Genehmigung, Förderung und Ausgrenzung, das je nach Bedarf in Aktion gesetzt wird. Zahlreiche Beispiele von Eingriffen und Verboten werden aufgeführt bis hin zum Statement der saarländischen Kultusministerin, dass natürlich „jede Freiheit Grenzen hat“ (S. 93). Von Kulturfunktionären wird dies euphemistisch als Schritt hin zu einem „neuen Gesellschaftsvertrag in der Kultur“ (S. 96) gefasst, de facto gehe es um den Ausschluss von Kriegsgegnerschaft aus dem Kulturleben.

Das 8. Kapitel erweitert den Blick von der Kunst- zur Pressefreiheit. Ripplinger spricht von der „freiwilligen Selbstgleichschaltung“ (S. 98) der Medien, wirft auch einen Blick auf ähnliche Tendenzen bei der Freiheit der Wissenschaft. Der Exkurs des 9. Kapitels bebildert dies nochmals an der öffentlichen Kampagne, die speziell die FAZ als Medium des Bildungsbürgertums gegen die Philosophin Butler führte. Deren Einspruch gegen die unbedingt eingeforderte Parteinahme für den israelischen Vernichtungskrieg im Gazastreifen sei von einer staatstreuen Presse als antisemitisch ausgegrenzt worden und habe somit einen Markstein in der neuen Formierung der Öffentlichkeit gesetzt. Das Schlusskapitel „Über die Unbotmäßigkeit der Kunst“ hält die grundsätzliche Doppeldeutigkeit fest: Kunst und Kultur stehen in einer langen Tradition sowohl der Kriegsverherrlichung als auch der pazifistischen (An-)Klage, agieren normalerweise in „Räumen der Propaganda als auch des Protestes“ (S. 115), werden aber jetzt angesichts einer Neuformierung der politischen Klasse zur eindeutigen Dienstleistung an der Militarisierung der Gesellschaft verpflichtet. Ripplinger veranschaulicht die – eher angedeutete – These der dahinter stehenden politischen Neustrukturierung an der Kontroverse der US-Politik um Isolationismus (Typus Trump) und Interventionismus (Typus Biden). Da in beiden Fällen aber die Sorge um die herrschaftliche Regelung des imperialistischen Staatenverkehrs dominiere und damit die Produktion endloser Konfliktfälle programmiert sei, bestehe die Chance, dass sich die Kunstsphäre, auch durch den Widerstand aus dem globalen Süden bestärkt, nicht länger als „Handlangerin der Schlächter“ (S. 121) in Beschlag nehmen lasse und wieder zu einer unbotmäßigen Rolle zurückfinde.

Diskussion

Bundespräsident Steinmeier erklärte programmatisch zur Einleitung der öffentlichen Auseinandersatzung um die Kasseler Documenta und als Auftakt zur nachfolgende Säuberung des Kunstbetriebs von angeblich antisemitischen Positionen: „Kunst hat keinen politischen Auftrag“ (S. 70). Dass dies eine Lüge ist, die in der Tradition einer bürgerlichen Ideologie des Kulturlebens steht und die Praxis staatlicher Beaufsichtigung beschönigt, macht Ripplingers Essay schlagend deutlich. Sein Einspruch gegen die Formierung der Öffentlichkeit – die den akademischen Betrieb, die Medien und den Bildungsbereich betrifft – ist gut begründet, auch wenn die klassen- oder imperialismustheoretische Aufarbeitung der gegenwärtigen Lage, wie der Autor selber vermerkt, noch weiterer Klärung bedarf. Der Kulturwandel, der hier konstatiert wird, ist dabei kein Novum. Ripplinger erinnert auch an Varianten der Kulturpolitik, die etwa mit der Freiheit der Kunst in der Weise ernst machten, dass sie sie fürs politische Feindbild nutzten. Er verweist z.B. auf den Neo-Avantgardismus der Nachkriegs-BRD, als abstrakter Expressionismus, ja künstlerische Experimente und Provokationen eines Neo-Dadaismus – bedingt – salonfähig wurden. Nicht zuletzt von Geheimdiensten gesteuert sollte die künstlerische Freiheit im Westen als Gegenbild zur Gängelung der Kunst im Ostblock unterm Leitbild des sozialistischen Realismus inszeniert werden. So war, nach einem Wort des Kulturtheoretikers Frederic Jameson, „der späte Modernismus, wenn auch auf vertrackte Weise, ein Produkt des Kalten Krieges“ (S. 65)

Die Kunst lässt also vieles mit sich machen. Der Sache nach ist hier das angesprochen, was in Adornos Ästhetik als der „Doppelcharakter der Kunst“ – „Autonomie“ und „fait social“ – gefasst ist. Wobei Adorno, anders als von Ripplinger angeführt (vgl. S. 81), nicht an der sozialen Bedingtheit die künstlerische Kritikfunktion festmacht, sondern am Wahrheitsgehalt, der sich gerade aus der autonomen Gestaltung der Kunst, ihrer Verweigerung gegenüber dem gesellschaftlichen (Verblendungs-)Zusammenhang, ergibt. Ripplingers Ausführungen dazu zeigen, dass auch das Pochen auf Autonomie in ideologische Gefilde führen kann. Es grenzt die höhere Kunstsphäre vom Bereich der „Kulturindustrie“ ab, in der staatliche Zensur etwa bei der Massenunterhaltung („Freiwillige Selbstkontrolle“ und Ähnliches im Namen von Jugendschutz etc.) immer eine Selbstverständlichkeit war und ist. Im höheren Kulturbetrieb wird die politische Indienstnahme durch finanzielle Förderung und die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur gestaltet. Und selbst da, wo Kunst von direkter politischer Stellungnahme freigesetzt ist, kann sie – siehe den Hinweis zum Kalten Krieg – ihren Dienst an der Militarisierung erfüllen.

Insofern wurde sie auch in der Lockdown-Phase der staatlichen Seuchenbekämpfung nicht vergessen. Gewisse Härten hatten künstlerische Kleingewerbetreibende auszuhalten, aber das reiht sich ein in das sozial- und wirtschaftspolitische Management einer Krisenlage, das die Existenz der deutschen Klassengesellschaft zu seiner unabdingbaren Grundlage hat und haben will; die kritische Armutsforschung, etwa die Studien von Christoph Butterwegge (siehe die Rezension bei socialnet https://www.socialnet.de/rezensionen/32143.php), haben dazu ja das einschlägige Material beigetragen. Der Kunstbetrieb oder der Kunstmarkt wurden ‚unter Corona‘ nicht geschlossen, was Ripplinger auch selber vermerkt. Sie wurden im Blick auf ihre kompensatorischen Leistungen betreut, sortiert und in Dienst gehalten, standen den Bessergestellten in großem Umfang zur Verfügung. Wer wie Paul McCartney über das entsprechende Equipment verfügte, konnte sogar neue Musik produzieren und vermarkten. Schon allein aus diesem Grund ist die Parallelisierung „Corona, Ukraine, Gaza – in drei Konflikten vollzog sich eine grundlegende Transformation der deutschen Gesellschaft“ (S. 114) – nicht haltbar. Unabhängig von der Kunstfrage sind ja auch die damit angesprochenen politischen Vorgänge von ganz unterschiedlichem Charakter. Das trägt dann übrigens Ripplinger bei Gelegenheit wieder nach, wenn er bei Besprechung der drei Fälle eingesteht, „dass sie an sich kaum etwas miteinander zu tun haben“ (S. 114). Alles in Allem, muss man der hier vorgelegten essayistischen Zuspitzung also zugute halten, dass sie trotz einigen steilen Thesen die nötige Differenzierung nicht vergisst.

Fazit

Ripplingers Essay, der einer „Geschichte und Theorie der kulturellen Militarisierung als Vorarbeit dienen“ (S. 25) soll, gibt eine eindrucksvolle Bilanz aktueller Problemfälle, die der Autor vor allem an der öffentlichen Begleitung des Ukraine- und Gazakriegs in Deutschland festmacht. Die Analyse arbeitet überzeugend den ideologischen Charakter des verbreiteten Lobs der Kunstfreiheit, die die deutsche Demokratie von totalitären Regimen kategorisch unterscheiden soll, heraus und stellt dies in einen theoretischen Kontext, dessen Konsequenzen allerdings oft nur angedeutet werden können (Imperialismusbegriff, Rolle der Intellektuellen und Medienschaffenden, Neustrukturierung der Klassenverhältnisse). Nicht schlüssig ist hier die Parallelisierung der aktuellen Kriegsfälle mit dem ‚Krieg gegen das Covid-Virus‘. Doch werden in den Ausführungen dazu auf jeden Fall der prekäre Status eines ‚freien‘ Kunstschaffens und die problematischen Prämissen hiesiger Kunstförderung deutlich.

Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Es gibt 17 Rezensionen von Johannes Schillo.

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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 20.08.2024 zu: Stefan Ripplinger: Kunst im Krieg. Kulturpolitik als Militarisierung. PapyRossa Verlag (Köln) 2024. ISBN 978-3-89438-836-2. Reihe: Neue Kleine Bibliothek - 344. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32444.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


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