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Jannis Panagiotidis, Hans-Christian Petersen: Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland

Rezensiert von Dr. Hasan Gencel, 27.02.2025

Cover Jannis Panagiotidis, Hans-Christian Petersen: Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland ISBN 978-3-7799-6823-8

Jannis Panagiotidis, Hans-Christian Petersen: Antiosteuropäischer Rassismus in Deutschland. Geschichte und Gegenwart. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 238 Seiten. ISBN 978-3-7799-6823-8. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779939139.

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Thema

In letzter Zeit wird das Thema Rassismus in Deutschland offener, vielseitiger, intensiver, aber auch kontroverser diskutiert. Häufig stehen in diesem Zusammenhang nur bestimmte Gruppen bzw. einige Erscheinungsformen von Rassismus im Fokus. Es gibt jedoch viele „spezielle“ Formen von Rassismus, die nicht hinreichend beachtet werden – so beispielsweise der Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa.

Oft werden diese Gruppen ausgeklammert, weil sie vermeintlich „europäisch“ aussehen und daher weniger von Rassismus betroffen seien – so einige Stimmen. Dies ist jedoch aus wissenschaftlicher Perspektive nicht haltbar, und es gibt zu wenig Studien zu diesem Thema. Es bedarf breiterer und vielschichtigerer gesellschaftlicher Diskurse, um dieses wichtige Thema angemessen zu beleuchten und daraus Maßnahmen abzuleiten.

Autoren

Prof. Dr. Jannis Panagiotidis ist wissenschaftlicher Leiter des Research Center für the History of Transformations (RECET) an der Universität Wien. Er war zuvor Juniorprofessor für die Migration und Integration der Russendeutschen an der Universität Osnabrück.

PD Dr. Hans-Christian Petersen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa (BKGE) und Dozent an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Entstehungshintergrund

Die Grundlage für dieses Buch wurde von Frau Magdalena Herzog vom Beltz Juventa Verlag im Mai 2021 gelegt, mit der Idee, einen erweiterten Essay über antislawischen Rassismus zu verfassen. Im Laufe des Planungs- und Erstellungsprozesses entwickelte sich daraus ein umfangreiches Buch über antislawischen und antiosteuropäischen Rassismus.

Des Weiteren wird die Veröffentlichung als Ergebnis eines kollaborativen Denk- und Schreibprozesses verstanden. Das Hauptziel der Veröffentlichung war es, die häufig übersehene Diskriminierung und den Rassismus gegenüber Menschen aus Osteuropa von der Vergangenheit bis zur Gegenwart darzustellen und zu beleuchten.

Aufbau

Das Buch ist aus einer chronologischen Perspektive in elf Kapitel unterteilt. Nach der Einleitung wird im zweiten Abschnitt das Thema „Intellektuelle Grundlagen des antiosteuropäischen Rassismus“ beleuchtet. Im dritten Kapitel wird der historische Kontext „Die Paulskirche und der ‚Deutsche Osten‘ “ diskutiert. Anschließend folgt die Darstellung von „Deutschland und ‚der Osten‘ vom Kaiserreich bis zur Zwischenkriegszeit“.

Im fünften Abschnitt wird das Thema „Die Wissenschaft und ‚der Osten‘ “ im Zeitraum vom späten 18. bis frühen 19. Jahrhundert skizziert. Das nächste Kapitel beleuchtet „Besatzung ‚im Osten‘ und Zwangsarbeit ‚aus dem Osten‘ “. Im siebten Abschnitt wird der Blick auf „Deutschland und ‚der Osten‘ nach 1945“ gerichtet.

Das darauffolgende Kapitel thematisiert die „Ost-West-Migration“ im Zeitraum von 1945 bis 2004. Im neunten Kapitel werden die Themen „Arbeitsmarkt und Ausbeutung“ behandelt. Die letzten beiden Abschnitte widmen sich „Schreiben über antiosteuropäischen Rassismus: Autobiografien“ sowie Statt eines Schlusswortes: Antiosteuropäischer Rassismus in Zeiten des Krieges, Online-Aktivismus und die Notwendigkeit einer Osterweiterung der Rassismusdebatte“.

Inhalt

Im ersten Kapitel wird unter anderem festgestellt, dass die Frage „Gibt es in Deutschland Rassismus gegen Menschen aus dem östlichen Europa?“ bisher nicht ausreichend erforscht wurde und somit ein Desiderat darstellt. Diese Gruppe hat eine hohe gesellschaftliche Relevanz und macht rund 40 % aller in Deutschland lebenden Personen mit Migrationshintergrund aus. Diese Veröffentlichung möchte dazu beitragen, diese Lücke zu schließen.

Des Weiteren wird auf den Aufbau des Buches eingegangen und es werden Grundlagen erarbeitet, wie etwa Begriffsdefinitionen, um ein gemeinsames Verständnis herzustellen.

Das zweite Kapitel widmet sich der Alterität Osteuropas. Es wird auf die historische Konstruktionsverdichtung abwertender und hierarchisierender Bilder in der deutschsprachigen Perspektive eingegangen. Neben diesen erweiterten 'Geostereotypen' werden besonders die Phänomene Balkanismus und Antislawismus dargestellt.

Im dritten Kapitel liegt der zeitliche Fokus auf dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert. In diesem Kontext werden wichtige Ereignisse skizziert, wie zum Beispiel die Frankfurter Nationalversammlung und ihre Auswirkungen auf den ‚Osten‘. Konkret wird die Intention der Verschiebung der Grenzen in Richtung Osten beschrieben und dabei auf die damit verbundenen deutschen Hegemonialvorstellungen (Expansionsideologie) eingegangen. Als Begründungen werden das Völkerrecht und daraus abgeleitet die Hierarchisierung von Nationen herangezogen.

Das vierte Kapitel skizziert die kolonialen Diskurse über Osteuropa in Bezug auf die 'Ostmarkenromane'. Es wird deutlich, dass diese Veröffentlichungen häufig diverse Verschränkungen von Diskriminierungsformen beinhalten, wie zum Beispiel Antipolonismus, Judenfeindschaft sowie Geschlechterhierarchisierung. Die Ostjuden galten als 'fremde' Gruppe, die die 'deutsche Kultur' bedrohten. Hier wurde ein Narrativ erschaffen, das im Nationalsozialismus aufgegriffen wurde.

Im fünften Kapitel erarbeiten die Autoren die Rolle der Ostforschung in der Zeit des Nationalsozialismus und deren Missbrauch für die NS-Politik. Es wird strukturiert dargestellt, wie wissenschaftliche Einrichtungen und Diskurse zur Legitimation von Expansionsansprüchen, Vernichtungspolitik und Rassenideologie genutzt wurden.

Das sechste Kapitel zeichnet die NS-Besatzungspolitik in Zusammenhang mit Osteuropa und Zwangsarbeit im Deutschen Reich nach. Der ‚Osten‘ wird als Lebensraum definiert, den es zu erobern gilt. Adolf Hitler bezeichnet Russland sogar als 'unser Indien' und legitimiert den Feldzug mit einem Bild vom 'Rassenfeind'. Diese Propaganda diente als Grundlage für Gewalt, Ausbeutung und die Selektion von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern.

Im siebten Kapitel wird die Zeit nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches beschrieben. Zugleich zeigen die Autoren, dass dieser historische Wendepunkt nicht als ‚Stunde Null‘ anzusehen ist, sondern als ein Fortwirken des Rassismus gegen den ‚Osten‘. Es wurden neue rassistische Narrative und Praktiken erfunden oder umgedeutet, die weiterhin Gesellschaft und Politik beeinflussten. So wurden beispielsweise Stereotype geschmiedet, nach denen osteuropäische Länder (kulturell) rückständig und bedrohlich seien und ihre gesamte Bevölkerung unterdrückt werde.

Im achten Kapitel wird das komplexe Thema der Ost-West-Migration zwischen 1945 und 2004 in verschiedenen Kontexten beleuchtet. Ein Teilbereich ist die Migration im Kalten Krieg sowie der intersektionale Rassismus in Form der Diskriminierung osteuropäischer Roma. Diese wurden in einem aggressiven und überhitzten Asyl- und Migrationsdiskurs als kriminell abgewertet. Darüber hinaus werden in diesem Abschnitt die Ängste und Befürchtungen im Hinblick auf die Osterweiterung erläutert.

Das neunte Kapitel zeigt auf, wie der Arbeitsmarkt ̶ insbesondere im Kontext der Osterweiterung ̶ beschaffen war und wie er die strukturelle Ausbeutung von Osteuropäern begünstigte. Dies wird exemplarisch unter anderem in den Branchen Pflege, Bau, Fleischindustrie, Landwirtschaft und Sexarbeit beschrieben. Neben vielen Ungerechtigkeiten mussten die Betroffenen rechtliche Lücken, prekäre Arbeitsbedingungen, Lohnungleichheit oder die Nicht-Anerkennung von Abschlüssen hinnehmen.

Im zehnten Kapitel werden Autobiografien bzw. Erfahrungen aus der Perspektive der Betroffenen beschrieben. Persönliche Erlebnisse werden mit strukturellen Analysen verbunden und systematisch dargestellt. Beispielsweise werden die Beschreibungen in Kategorien wie 'Abwertung', ‚unsichtbar gemacht werden‘, 'Segregation', 'Gewalt' oder 'Hierarchien' unterteilt.

Das elfte und letzte Kapitel geht auf den aktuellen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein und zeigt, dass dadurch rassistische Narrative verstärkt wurden und soziale Medien in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle spielten. Des Weiteren werden in diesem Kapitel Handlungsempfehlungen formuliert. Gesellschaft und Politik sollten sich intensiver mit dem Thema antiosteuropäischer Rassismus befassen – ebenso wie die Wissenschaft.

Diskussion

Jannis Panagiotidis und Hans-Christian Petersen bearbeiten in diesem Buch ein wichtiges und oft vernachlässigtes Phänomen in Deutschland: Antiosteuropäischer Rassismus. Es gibt relativ wenige Veröffentlichungen, die dieses Forschungsthema in Bezug auf Geschichte und Gegenwart analysiert haben.

Die Autoren untersuchen dieses Phänomen in ihrem Werk detailliert, fundiert und mit ausreichend historischer Tiefe. Die gewählte chronologische Gliederung erweist sich dabei als sehr hilfreich und unterstützt die Einordnung der Teilthemen. Darüber hinaus sind die Textgestaltung und -sprache sowie die Abbildungen gut gewählt und fördern die Verständlichkeit. Der intersektionale Aspekt erhöht die Qualität der Inhalte und trägt zur Ganzheitlichkeit bei. Zudem stützen die Verfasser ihre Ausführungen mit umfangreichen und vielfältigen Quellenangaben. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass in der Veröffentlichung auf zentrale Forschungsdesiderate hingewiesen und deren Bedeutung verdeutlicht wird.

Zwar werden aktuelle Themen im Zusammenhang mit osteuropäischem Rassismus angesprochen und bearbeitet, jedoch könnte dieser Teil ausführlicher und thematisch breiter behandelt werden. Auch der Einbezug internationaler sowie interdisziplinärer Perspektiven wäre hilfreich und würde zu einer umfassenderen Auseinandersetzung mit dem Thema beitragen. Wünschenswert wäre zudem, dass der Praxisbezug und die Handlungsempfehlungen ausführlicher und detaillierter dargestellt worden wären.

Insgesamt verringern diese Punkte jedoch nicht die Qualität und Leistung der Veröffentlichung. Wie die beiden Autoren erläutert haben, soll die Publikation eine Basis und einen Ausblick darstellen. Darüber hinaus soll es zu weiteren Diskursen, Studien und Forschungen anregen. Diese Ziele wurden in diesem Werk mit bemerkenswerter Güte erreicht.

Fazit

Panagiotidis und Petersen ist es mit dieser Veröffentlichung gelungen, den antiosteuropäischen Rassismus historisch umfassend und nachvollziehbar darzustellen und zu analysieren. Das Buch ist besonders geeignet für Leserinnen und Leser, die das Thema holistisch verstehen möchten. Zugleich stellt es eine wichtige Quelle für weitere Diskurse und Forschungsvorhaben dar.

Rezension von
Dr. Hasan Gencel
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Es gibt 3 Rezensionen von Hasan Gencel.

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ISSN 2190-9245