Jörg Maywald: Sexualpädagogik in der Kita
Rezensiert von Alexandra Großer, 17.09.2024
Jörg Maywald: Sexualpädagogik in der Kita. Sexuelle Bildung und Schutz vor sexualisierter Gewalt. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2024. 160 Seiten. ISBN 978-3-451-39838-4. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 26,00 sFr.
Autorin oder HerausgeberIn
Prof. Dr. Jörg Maywald hat Soziologie, Psychologie und Pädagogik in Berlin, Amsterdam und Paris studiert. Er ist Mitbegründer des Berliner Kinderschutz-Zentrums und ist seit 2011 Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam. Von 1995 bis 2021 war er Geschäftsführer der deutschen Liga für das Kind und von 2002 bis 2022 Sprecher der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Er ist Autor und bietet Vorträge und Fortbildungen an. https://joerg-maywald.de/
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht neben Einleitung, Schlusswort, Anhang und Literaturverzeichnis aus sieben Kapiteln mit Unterkapiteln. In farblich abgesetzten Kästen finden sich Überblicks- und Grundlageninformationen sowie Fallbeispiele. Im Anhang finden sich Anlaufstellen im Netz sowie Buch- und Materialtipps für Kinder. Jedes Kapitel wird mit einer extra Seite eingeleitet, die in Stichpunkten die Themen benennt, die im Kapitel behandelt werden.
1. Kinder und Sexualität: Wie passt das zusammen?
Jörg Maywald geht zunächst in einem kurzen Abriss auf die Geschichte der Kindheit ein. Er stellt dar, wie sich das Bild des Kindes gewandelt hat. Anhand der Kinderrechte zeigt er das besondere „Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen“ (S. 14) auf. Im Anschluss geht er auf die Merkmale kindlicher Sexualität vom ersten Jahr bis zur Pubertät, die psychosexuelle Entwicklung sowie „koginitive Geschlechterrollenentwicklung“ (S. 26) und „unterschiedliche[n] Verläufe sexueller Orientierung ein.
2. Rechtliche Rahmenbedingungen
In diesem Kapitel erläutert und diskutiert der Autor die gesetzlichen Grundlagen die Kinder vor Gewalt und sexuellen Missbrauch schützen. Angefangen mit den Artikeln der Kinderrechte über das Grundgesetzt und Strafgesetzbuch hin zum Bundeskinderschutzgesetz und Kinder- und Jugendhilfegesetz. Dabei liegt der Fokus auf dem Dreiklang von Schutz, Förderung und Beteiligung.
3. Fachliche Orientierung: sexuelle Bildung, Gender-Mainstreaming und Schutz vor sexualisierter Gewalt
„Eine an den Rechten der Kinder orientierte Sexualpädagogik in der Kita stellt beides sicher: sexuelle Bildung und den Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt“ (S. 53). Jörg Maywald definiert zunächst die verschiedenen Begriffe, die die „ganzheitliche Sexualpädagogik umfasst“ (S. 53). Die veröffentlichten Fachstandards für Sexualaufklärung empfehlen bereits für die ersten Lebensjahren Sexualaufklärung und sexuelle Bildung (vgl. S. 58). „Ziel soll sein, das natürliche Lernen der Kinder durch aktives Informieren zu ergänzen, um auf diese Weise das Thema zu normalisieren“ (ebd.). Gefördert werden soll „die Entwicklung der kindlichen Sinnes- und Körperwahrnehmung und des Körperbildes […] und das Kind zu befähigen, sich verantwortlich gegenüber sich selbst und anderen zu verhalten“ (ebd.). Der Autor erläutert die sieben Grundsätze, die in den Standards genannt werden und zeigt den Bezug zu den Bildungsrahmenplänen auf, die in unterschiedlicher Weise „Aussagen zu geschlechterbewusster und geschlechtergerechter Pädagogik“ (S. 66) enthalten. Exemplarisch stellt der Autor „besonders aussagekräftige Passagen […] für das Thema ‚Sexuelle Bildung und Erziehung‘ […] ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ und ‚Schutz vor sexuellem Missbrauch‘“ (ebd.) aus dem „Berliner Bildungsprogramm“ (ebd) beziehungsweise dem „Bayerische[n] Bildungs- und Erziehungsplan“ (ebd.) vor. Neben den Ausführungen enthalten die verschiedenen Abschnitte damit verbundene Analysefragen „mit Bezug auf die psychosexuelle Entwicklung“ (S. 66).
4. Sexualpädagogik im Kita-Alltag
Jörg Maywald kritisiert zunächst, dass die Fort- und Weiterbildungsangebote zu Sexualpädagogik in Kindertageseinrichtungen noch zu einseitig auf bestimmte Schwerpunkte ausgerichtet sind. „Entweder die Angebote sind einem Gender-Ansatz verpflichtet und beschränken sich darauf, die Fachkräfte für geschlechtertypisches Verhalten zu sensibilisieren und Anregungen zu vermitteln. […] Oder aber es werden Fortbildungen angeboten, die sich zum Ziel gesetzt haben, sexualisierte Gewalt präventiv zu verhindern und bei Anzeichen für sexuellen Missbrauch professionell zu handeln. Veranstaltungen, in denen die psychosexuelle Entwicklung der Kinder einschließlich der körperlichen Aspekte (sex) und der Herausbildung der sexuellen Identität (gender) thematisiert werden, sind selten. Angebote schließlich, die sich einem ganzheitlichen Ansatz sexueller Bildung verpflichtet fühlen und in denen Schutz, Förderung und altersgerechte Partizipation der Kinder gleichermaßen eine Rolle spielen, sind fast gar nicht vorhanden“ (S. 74). Sexualpädagogik ist „ein heikles Thema“ (ebd.), welches wenig beachtet wird und unbeliebt ist (vgl. ebd.). Neben Unsicherheiten geht es auch um die eigene Haltung und Umgang mit Sexualität. Neben dem „Erwerb von Fachwissen“ (S. 76) gehört deshalb die „Selbstreflexion […] zur sexualpädagogischen Professionalität“ (S. 75f) sowie die „Reflexion im Team“ (S. 77). In diesem Kapitel geht der Autor auf die alltäglich sexualpädagogische Arbeit in Kitas ein. Mit konkreten Fallbeispielen lädt er pädagogisch Tätige und Teams zur Reflexion verschiedener Aspekte einer sexualfreundlichen und geschlechterbewussten Pädagogik ein. Darüber hinaus gibt er konkrete Beispiele zur Raumgestaltung in Kitas sowie Beteiligung von Eltern. Pädagogisch Tätige sind Sprachvorbilder, daher plädiert er für eine „offizielle Sprache“ (S. 87) in der Kita und die richtigen Bezeichnungen von Geschlechtsorganen von Anfang an.
5. Körpererkundungsspiele oder sexuelle Übergriffe
Geht es hier noch um Körpererkundungsspiele oder sind es schon sexuelle Übergriffe unter Kindern? Welche Regeln braucht es für Körpererkundungsspiele? Diese Fragen beantwortet Jörg Maywald anhand von Fallbeispielen. Ebenso zeigt er auf, was Kita-Teams tun können, wenn es zu sexuellen Übergriffen kommt, worin mögliche Ursachen liegen könnten und welche psychischen und physischen Folgen sexuellen Übergriffen für beide Kinder haben können.
6. Kinder stark machen: sexualisierte Gewalt vorbeugen
Jörg Maywald geht hier noch einmal auf die Notwendigkeit und gesetzliche Vorgabe eines Kinderschutzkonzepts als Präventionsmaßnahme in Kitas ein. Deren Inhalt sich an den „zehn Punkte[n] für ein Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt“ (S. 125) orientiert. Er macht noch einmal deutlich, dass es die Pflicht aller Personen ist, „die in einer Kita tätig sind“ (S. 126), den Kinderrechtsansatz auf allen Ebenen einer Kita zu verankern. Angesprochen sind Träger*innen von Kitas genauso wie Eltern und pädagogisch Tätige. Vom Leitbild des Trägers bis hin zum pädagogischen Alltag.
7. Was tun bei Anzeichen für sexuellen Missbrauch?
Im letzten Kapitel geht Jörg Maywald auf den sexuellen Missbrauch außerhalb und innerhalb einer Kita ein und gibt einen Überblick über unterschiedliche Formen von „Missbrauchshandlungen“ (S. 129). Unterstützt durch Fallbeispiele zeigt er Signale sexuellen Missbrauchs von Kindern auf. „Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte in der Kita ist es, die Signale gefährdeter Kinder ernst zu nehmen, ihren verbalen und nonverbalen Äußerungen Glauben zu schenken und ihnen verständlich zu machen, dass die Einrichtung daran mitwirkt, die Gefährdung zu beenden“ (S. 137). Gespräche mit betroffenen Kindern zu führen ist für pädagogisch Tätige herausfordernd, daher benennt der Autor wichtige Punkte für „Gespräche mit jungen Kindern“ (S. 138). Findet der sexuelle Missbrauch in der Kita statt, haben Kita und Eltern die Möglichkeit „die Strafverfolgungsbehörden“ (S. 145) einzuschalten. Wie und wann Kitas und/oder Eltern diese Möglichkeit in Erwägung ziehen sollten, stellt der Autor ausführlich anhand eines Fallbeispiels dar.
Diskussion
Von der Theorie zum Handeln, so könnte man den Einstieg in das Thema beschreiben. So führt der Autor die Leser*innen über entwicklungspsychologische Aspekte und rechtlichen Grundlagen zu den Aufgaben und Ausgestaltung einer ganzheitlichen Sexualpädagogik in Kindertageseinrichtungen. Indem er aufzeigt, welche Rechte Kinder haben, er die einzelnen Gesetze durchleuchtet und erklärt, wie Menschen des „Runden Tisches“ (S. 63) Leitlinien beschlossen, die in Gesetze aufgenommen wurden, bekommen die Leser*innen ein tieferes Verständnis darüber, weshalb (nicht nur) Kitas ein Sexualpädagogisches Konzept haben sollten, weshalb es wichtig ist, sich mit den theoretischen Grundlagen zu beschäftigen, weshalb Risikoanalysen, Notfallpläne und „Aufarbeitungsprozesse“ (S. 65) wichtige Bestandteile eines Sexualpädagogischen Konzeptes beziehungsweise eines Schutzkonzeptes sind. Zugleich erfahren die Leser*innen die Hintergründe und damit auch, weshalb Sexualpädagogik Aufgabe von pädagogischen Fachkräften ist. Viele Ziele und Aufgaben einer ganzheitlichen Sexualpädagogik in Kindertageseinrichtungen sind in vielen Facetten bereits in anderen Bildungsbereichen enthalten und Auftrag pädagogisch Tätiger. Jörg Maywald zeigt unter anderem auf, was Selbstwirksamkeit, Selbstwertgefühl und die Entwicklung eines Selbstkonzepts mit sexueller Bildung zu tun hat und wie diese Ziele konkret im pädagogischen Alltag gefördert werden.
Auch wenn das Buch den Titel „Sexualpädagogik in der Kita“ trägt, ist es ein wichtiger Beitrag für den Schutz der Kinder vor Gewalt. Neben der ausführlichen Darstellung sexualpädagogischer Bildung in Kitas bekommen pädagogisch Tätige ausführlich die Notwendigkeit von Schutzkonzepten ans Herz gelegt. Unbestritten ist, dass es keinen Hundertprozentigen Schutz gibt, doch durch die intensive Auseinandersetzung mit Gefährdungen und Präventionsmaßnahmen deren Ergebnisse in das Schutzkonzept einfließen und dargestellt werden, geraten Risiken ins Bewusstsein und können, wenn nicht vermieden, doch minimiert werden.
Fazit
Theorie und Praxis verständlich erklärt und miteinander verbunden. Das Buch macht nicht nur deutlich weshalb ein Kinderschutzkonzept beziehungsweise ein sexualpädagogisches Konzept in Kitas Pflicht ist, sondern zeigt auch auf, wie sexualpädagogische Bildung in der Kita umgesetzt werden kann und gelingt.
Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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Zitiervorschlag
Alexandra Großer. Rezension vom 17.09.2024 zu:
Jörg Maywald: Sexualpädagogik in der Kita. Sexuelle Bildung und Schutz vor sexualisierter Gewalt. Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2024.
ISBN 978-3-451-39838-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32459.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.
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