Gerd Rudolf: Therapeut werden
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 02.10.2024
Gerd Rudolf: Therapeut werden. Eine psychodynamische Lebensreise.
Schattauer
(Stuttgart) 2024.
160 Seiten.
ISBN 978-3-608-40191-2.
D: 22,00 EUR,
A: 22,70 EUR.
Reihe: Wissen & Leben. .
Thema
Gerd Rudolfs neues und (im Text angekündigt) letztes Buch versucht die schwierige Synthese zwischen Lebenserinnenung, Dialog mit einer jungen Generation von Psychotherapeut-innen, Bilanz.
Autor
Der inzwischen 85-jährige (*1939) Psychiater und Facharzt für psychotherapeutische Medizin Gerd Rudolf war bis 2004 Professor und Direktor der Unversitätsklinik für Psychosomatische Medizin in Heidelberg. Er ist einer der Protagonisten der empirischen Psychotherapie, (Ergebnis)forschung in Deutschland gewesen, wesentlicher Mitinitiator der OPD-(Prozess)Forschung u.a. mit dem Ziel, zuvor ausschließlich intuitiv erfassbare psychodynamische Kategorien zu beschreiben und zu operationalisieren. Er entwickelte die stukturbezogene Psychotherapie und erreichte mit seinem Kollegen Ulrich Rüger die Integration der Menschen mit Persönlichkeitsstörungen in die Richtlinienpsychotherapie.
Entstehungshintergrund
Gerd Rudolf war immer streitbar und kämpfte Kontroversen mit der Majorität seiner Berufsgruppe aus. Noch als Rentner trat er aus Protest gegen deren Annäherung an die IPA aus der DPG aus. Er bezeichnet sich immer weniger als Psychoanalytiker und verficht die Ansicht, dass psychodynamische Therapie keine reduzierte (kleine) psychoanalytische Psychotherapie sei, sondern etwas eigenständig Wertvolles mit gemeinsamen Wurzeln.
Aufbau und Inhalt
Das Vorwort von Wulf Bertram ist eine Hymne auf Rudolfs Lebensleistung. Es folgt ein Geleitwort des niedergelassenen ärztlichen (Internist und Allgemeinmediziners) Psychotherapeuten Wolfgang Weisser, der beschreibt, wie er Ende der 90er Jahre in Gerd Rudolfs Bann geriet. Rudolfs Text beginnt auf Seite 19 und ist gegliedert in 9 Kapitel und ein Literaturverzeichnis.
Frühe Erfahrung
Rudolf bedenkt den Sinn autobiographischen Schreibens. Anhand des „frühesten Traums“ an den sich ein bildender Künstler erinnert, zeigt er auf, wie sich Verbindungen schließen lassen zu späteren Symptomen und Charakterzügen. Er setzt sich damit ein hohes Ziel (und wird im vorliegenden Werk davor zurückschrecken, diesen Maßstab an sein eigenes Leben anzulegen).
Das Autobiographische beginnt mit den Familien der Eltern, strebsam, fleißig, religiös und trotzdem zu einer bescheidenen Lebensführung gezwungen. Nur Rudolfs Vater besucht die höhere Schule und wird Jurist, seine jüngere Schwester Lehrerin, der nächste Junge Laienbruder in einer nahegelegenen Ordensgemeinschaft ein. Die jüngste Schwester heiratet einen jungen Offizier, der kurz nach Kriegsbeginn sein Leben verliert (deren Sohn will zuerst Priester werden und wird dann doch Arzt).
Rudolfs Herkunftsfamilie ist vom Krieg beschädigt; er schildert einfühlsam beängstigende Erfahrungen als evakuierter Junge mit seiner depressiven Mutter mit Kleinkind auf dem Arm.
Wie schon in seinem letzten Buch taucht an signifikanten Stellen Anne auf, eine Nichte und junge Psychotherapeutin, die Rudolfs Text taktvoll und gelegentlich kritisch kommentiert.
Nach dem Krieg
1945 wird der Autor eingeschult; die Umstände sind elend. Ein Klassenfoto zeigt 70 Kinder mit ihrer Lehrerin, einer alten Dame, die man aus der Pension zurückgeholt hatte. Das Klassenzimmer ist auch im Winter nicht beheizt; zum Aufwärmen wird zügig im Kreis marschiert. Es gab Konflikte mit wilden anderen Kindern, die schon, wenn z.B. Lebensmittel „umkamen“, eine Todsünde begingen. In dieser frühen Zeit beginnt Rudolfs lebenslange Passion, verlorene oder versteckte Dinge zu suchen und zu finden. Daraus wird sich eine Sammlung, ein privates Museum entwickeln – und vielleicht ist es auch die Materialisierung des Begehrens, die ihn später zur Psychoanalyse bringt (Der Psychoanalytiker als Archäologe). Zwei Jahre nach Kriegsende kehrt der versehrte und traumatisierte Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Es gelingt ihm, sich beruflich zu rehabilitieren, er hatte den Einsatz an der Front einer Tätigkeit als Kriegsgerichtsrat vorgezogen. Rudolf findet zwar wohlwollende Aufmerksamkeit, aber keinen echten Kontakt.
Der Leben lernen
In diesem Kapitel beschreibt Rudolf seine Schulzeit. Der „brave“ Junge hat es nicht leicht; Schläger und Rabauken sind seine hauptsächlichen Widersacher. In einem Aufsatz schreibt der 14-jährige von seinem Wunsch, Naturforscher und Geologe zu werden und Weltreisen zu unternehmen. Zum Abitur hin lehnt er den Wunsch des Schulleiters ab, eine Rede vor allen zu halten, er habe sich nicht umsonst immer in der letzten Reihe versteckt und eine solche Aufgabe würde ihn zur Verzweiflung bringen.
Faszination des Fremden
Rudolf ist frankophil. Es zieht ihn nicht nur immer wieder nach Frankreich; selbstverständlich spricht er fließend französisch. Dass Franzosen ihn für einen Belgier halten, versteht er als Anerkennung, bis er eine Schmähung darin erkennt [1]. Er bereist auch die USA und Kanada, aber auch die ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika oder die persische Provinz außerhalb touristischer Infrastruktur und gerät dabei regelmäßig in gefährliche Situationen. Passend dazu ist Rudolf Marathonläufer, bis ihn Alter und ein Leiden zwingen, das aufzugeben.
Aufbruch in neue Welten
Es ist das Medizinstudium, das Rudolf eine neue Welt eröffnet; er probt nun das Leben, wechselt den Studienort, Berlin und später ein Praktikum in Kanada sind besonders bedeutungsvoll. Er lernt in der Zeit auch Michael Balits Konzept des Oknophilen (der Impuls sich, Schutz suchend anzuklammern) und des Philobatischen (sich bindungslos selbstbestimmt zu bewegen). Rudolf identifiziert sich mit dem Philobaten.
Sesshaft werden
Für eine lange Zeit wird er nun in Berlin sesshaft, durchlebt hier seine Ausbildungszeit als Psychiater, seine Ausbildung zum Psychoanalytiker der DPG, tritt ein in das von Dührssen geleitete Psychotherapieinstitut (damals AOK-Institut für psychogene Erkrankungen) und begleitet sie an die Freie Universität, wo er seine wissenschaftliche Praxis entwickelt.
Von der therapeutischen Praxis zur wissenschaftlichen Evaluierung
Die wissenschaftliche Karriere Rudolfs begann in Berlin; hier verfasst er, von Annemarie Dührssen angetrieben (oder sollte man sagen ausgebeutet), sein erstes Buch [2] (Krankheiten im Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose, 1977). Sein erstes quantifizierbares Erfassungssystem für den psychischen Befund erscheint als seine Habilitationsarbeit von 1978 (PSKB, 1981 veröffentlicht): Er schafft damit die Möglichkeit zur standardisierten Auswertung psychodynamischer Befunde. Er ist mit Ulrich Rüger zusammen Herausgeber der Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Gleichzeitig gewöhnt er sich an Nachtarbeit und die Arbeit an Wochenenden. Die Kommentierung Annes stellt einen Zusammenhang her zwischen den abenteuerlichen Reisen, der Arbeitsentgrenzung und Alkoholproblemen. Gleichwohl wird Rudolf mit 40 zum Professor berufen und leitet kommissarisch die Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Freien Universität. Er ist schon einige Jahre Lehr- und Kontrollanalytiker.
Die Universität Heidelberg
1989 wird Rudolf auf die C4 Professur für psychosomatische Medizin nach Heidelberg berufen. Heidelberg ist die älteste und vielleicht renommierteste psychosomatische Universitätsabteilung in Deutschland, 1950 von Alexander Mitscherlich gegründet; sein Vorgänger Walter Bräutigam hatte sich persönlich an Rudolf gewandt und ihn aufgefordert, sich zu bewerben. Für die DPV (deutsche Sektion der IPA) ist das ein Affront, was Rudolf aber nicht erwähnt. In Heidelberg entfaltet er sein wissenschaftliches Programm, das zur Operationalisierung der psychodynamischen Diagnostik (OPD) führt und schließlich zur Entwicklung der „Strukturbezogenen Psychotherapie“. Zunächst aber, um aus den vorgefundenen Fachleuten eine Arbeitsgemeinschaft zu machen, entwirft die Abteilung unter Rudolfs Leitung ein Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin und Psychotherapie auf psychodynamischer Grundlage, das meiner Ansicht didaktisch und wissenschaftlich das beste ist, was in deutscher Sprache verfügbar ist; auch namhafte Experten teilen diese Beurteilung [3]. 2004 wird er emeritiert.
Projekte und Gremien
Über viele Jahre ist Gerd Rudolf als Gutachter am Institut für Medizinische Prüfungsfragen und als Psychotherapiegutachter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung akkreditiert. Das ist insofern bedeutungsvoll, als in Deutschland Psychotherapie in der Regel als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung angeboten wird.
Diskussion
Rudolf ist zweifellos einer der wissenschaftlich bedeutungsvollsten analytischen Psychotherapeuten seiner Generation. Gleichzeitig fällt der Triumph der Verhaltenstherapie in seine Lebenszeit; medizinische Fakultäten an staatlichen Universitäten berufen keine Analytiker mehr, allenfalls psychodynamisch orientierte Kollegen auf Leitende Stellen psychosomatischer Kliniken. Und die Psychologen haben der Psychoanalyse völlig den Garaus gemacht; ein einziger Lehrstuhl für klinische Psychologie und Psychotherapie ist noch von einem Analytiker besetzt (anders ist es an privaten Hochschulen, hier lehren zahlreiche Analytiker). Diese Entwicklung hat auch Gerd Rudolf nicht verhindern können. Besprechung und Würdigung seines eindrucksvollen wissenschaftlichen Lebenswerks werden im vorliegenden Text umfassend geleistet. Was ausgelassen ist oder als Leerstelle unerwähnt bleibt, sind sein gesamtes Beziehungsleben, privat wie beruflich, sowie alle wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontroversen [4]. Die persönlich-professionellen Entwicklungen und Konflikte innerhalb des Fachs finden in den hier niedergelegten Erinnerungen des Autors nicht statt. Insofern ist das Buch für mich auch eine echte Enttäuschung. Von den wenigen auch psychodynamisch fruchtbaren Reflexionen Rudolfs, die er bespricht, fallen fast alle in seine Kindheit (z.B. seine Vaterentbehrung). Außer Rudolfs Möglichkeit als junger Psychiater zu Otto F. Kernberg nach New York zu gehen und seiner Entscheidung, das nicht zu tun, weil er nicht in den Vietnamkrieg verwickelt werden wollte, wird keine seiner erwähnten Entscheidungen als Erwachsener reflektiert. Als für ihn wichtige Personen angesprochen werden Annemarie Dührssen (1916-1998), eine der umstrittensten professionellen Akteurinnen der Zunft und Annelise Heigl-Evers (1921-2002); beide waren streitbare, mächtige weibliche Protagonisten in der Psychotherapeutischen Szene. Über ihre Persönlichkeiten, ihr Verhältnis zueinander und zu ihren fast ausschließlich männlichen Schülern erfahren wir fast nichts. Brigitte Bothe, die über den weiblichen Körper als emotionalen Bedeutungsraum publiziert, stellt eine Ausnahme dar. Wenn man einen lebendigeren Einblick in die Kämpfe der Zeit sucht, ist die ergänzende Lektüre von historischen Arbeiten unumgänglich. Alexa Geisthövel und Bettina Hitzers (Hg. 2019) Arbeit, „Auf der Suche nach einer anderen Medizin, Psychosomatik im 20. Jahrhundert“, gibt einen ersten Einblick. Die Mitscherlichbiograpie von Martin Dehli: Leben als Konflikt verschafft eine Tiefensicht (wenn auch nicht aus der Perspektive Gerd Rudolfs).
Fazit
Gerd Rudolf war einer der einflussreichsten Psychotherapieforscher und psychosomatischen Kliniker in Deutschland. Seine hier vorgelegte „psychodynamische Lebensreise“ weckt in mir zwiespältige Gefühle, ist jedoch eine für wissenschaftsgeschichtlich Interessierte notwendige Lektüre.
Literatur
Peter Caspari, Helga Dill, Cornelia Caspari, Gerhard Hackenschmied (IPP München, 2021): Irgendwann muss doch mal Ruhe sein! Institutionelles Ringen um Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch an einem Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Martin Dehli (2007): Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen: Wallstein
Alexa Geisthövel und Bettina Hitzers (2019): Auf der Suche nach einer anderen Medizin, Psychosomatik im 20. Jahrhundert, Frankfurt: Suhrkamp
Rolf Haubl, Wolfgang Mertens (1996): Der Psychoanalytiker als Archäologe, Stuttgart: Kohlhammer
Gerd Rudolf (1977): Krankheiten im Grenzbereich von Neurose und Psychose. Ein Beitrag zur Psychopathologie des Ich-Erlebens und der zwischenmenschlichen Beziehungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Gerd Rudolf, Ulrich Rüger (2016): Psychotherapie in sozialer Verantwortung – Annemarie Dührssen und die Entwicklung der Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer
Gerd Rudolf (2023): Dimensionen psychotherapeutischen Handelns, Stuttgart: Schattauer
[1] Andererseits ist George Simenon eben auch Belgier und den halten wohl sehr viele Menschen für den archetypischen Franzosen
[2] Die Monografie von 212 Seiten, und zahlreiche weitere Veröffentlichiungen reichen Dührsen nicht als Habilitationleistung
[3] Prof. Dr. Michael Geyer: Persönliche Mitteilung
[4] in die Zeit von Rudolfs Ordinariat, fällt einer der schwerwiegends Missbrauchsfälle in Deutschland am Heidelberger Institut für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, es ist evident das Rudolf den Täter gut kannte und sein Verhalten nicht unterband, was ihm in seiner Position wohl möglich gewesen wäre vergl. Caspari et al. 2021
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 39 Rezensionen von Ulrich Kießling.
Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 02.10.2024 zu:
Gerd Rudolf: Therapeut werden. Eine psychodynamische Lebensreise. Schattauer
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-608-40191-2.
Reihe: Wissen & Leben. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32461.php, Datum des Zugriffs 15.10.2024.
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