Jule Govrin: Politische Körper
Rezensiert von Angela M. Laußer, 20.12.2024
Jule Govrin: Politische Körper. Von Sorge und Solidarität.
Matthes & Seitz
(Berlin) 2022.
261 Seiten.
ISBN 978-3-7518-0545-2.
D: 15,00 EUR,
A: 15,50 EUR,
CH: 19,90 sFr.
Reihe: Fröhliche Wissenschaft - 206.
Thema
Die Pandemie hat weltweit die Verwundbarkeit aller Menschen erfahrbar und spürbar gemacht, zugleich ist sichtbar geworden, wie ungleich diese Verwundbarkeit verteilt ist. Die Menschen, die unter prekären Bedingungen leben, werden in einer Pandemie am stärksten belastet. Die Pandemie ist jedoch nur ein markantes Beispiel für Jule Govrins Rekonstruktion von ideengeschichtlichen Körperbildern und den Verschränkungen von Politik, Gesellschaft und Körpern, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet hat. Nachgezeichnet wird, dass Körper in zweifacher Hinsicht politisch sind, zum einen als Instrument und Zielobjekt von Politik und zum anderen entwickeln Körper eigene Formen des Politischen. Jule Govrin geht daher nicht nur der Frage nach, in welchem Ausmaß Körper im Laufe der Geschichte unterschiedlich verwundbar sind und verwundbar gemacht werden. In Anlehnung an die feministische Sozialphilosophie und deren Kern von der ontologischen Verletzlichkeit als Modus einer grundlegenden Gleichheit der Körper sucht sie zugleich nach den Spuren eines Universalismus von unten, den sie in solidarischen Widerstandsformen und egalitären Körperpolitiken (body politics) findet.
Autorin
Jule Govrin ist Philosophin und politische Autorin. Sie forscht an der Schnittstelle von Sozialphilosophie, Politischer Theorie, Feministischer Philosophie und Ästhetik. Zuletzt hatte sie eine Gastprofessur am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und ist im Wintersemester 2024/25 Gastprofessorin am Institut für Philosophie an der Universität Hildesheim.
Entstehungshintergrund
Es war die Pandemie und der ungleiche Schutz aller verwundbaren Körper, die Jule Govrin veranlasst hat, zunächst der Frage nachzugehen, wie im Verlauf der Geschichte aus der Verwundbarkeit aller Körper sich Politiken des ungleichen Schutzes entwickelt haben und im nächsten Schritt zu eruieren, ob und welche widerständigen und solidarischen Gefüge es gibt, die sich gegen diese ungleiche Verteilung von Verwundbarkeit wenden und zugleich Anzeichen eines Universalismus von unten erkennen lassen, der von den Körpern ausgeht.
Aufbau und Inhalt
In Anlehnung an die Grundaussagen der feministischen Sozialphilosophie von Judith Butler geht die Autorin von der „ontologischen Verwundbarkeit“ der Körper als „Modus der grundlegenden Gleichheit zwischen Körpern“ (S. 8) aus. Das bedeutet zugleich, dass wir als körperliche Wesen „fortwährend der affektiven und physischen Fürsorge“ (S. 9) bedürfen.
Die Geschichte der politischen Körper zeigt jedoch andere Bilder, Bilder struktureller Ungleichheit politischer Körper von der Antike bis in die Gegenwart. Aber es entstehen auch Ansätze eines Universalismus von unten. Die Autorin geht daher in vier Kapiteln auf Spurensuche.
Kapitel I: Produktive Körper
Ausgehend von der Erkenntnis, dass „Körper zutiefst politisch sind“ (S. 11), insofern unsere Wahrnehmungsmuster, auch unsere persönlichen Körperempfindungen „geschichtlich bedingt“ (S. 15) sind, werden in diesem Kapitel vier Wegetappen skizziert: Die erste Etappe kennzeichnen die „Körpermetaphern der body politic“ (S. 18–26). Das bedeutet, dass Körper als Metaphern für Gemeinschaften und ihre Ordnungssysteme dienen, sie repräsentieren Herrschaft und Macht, sie zeigen, wer oben und unten, wer rechts und links steht. So weist Govrin darauf hin, dass bereits in der antiken Philosophie das Wohlergehen von Staat und Gemeinschaft mit dem Gesundheitszustand der Körper verglichen wird. Auch die Figur des Doppelkörpers, eines leiblichen und eines symbolischen Körpers finden sich zuerst in der frühchristlichen Gemeinschaft. Der menschliche Körper von Jesus ist verwundbar und sterblich, hingegen sein sakraler Körper ist unsterblich und stiftet die christliche Gemeinschaft (S. 20), „sodass die Gemeinschaft der Gläubigen als Einheitskörper erscheint“ (S. 21). Diese christliche body politic wird dann in der mittelalterlichen Welt auf den königlichen Körper übertragen, dessen sakraler Körper symbolisch als von Gottgesandter nicht nur unbegrenzte Macht repräsentiert, sondern auch die feudale Ständeordnung als gottgegebene Gemeinschaft legitimiert. Obgleich diese Figur des königlichen Doppelkörpers mit der Französischen Revolution (des geköpften Königs) verschwand, lebt sie als säkularisierte Körpermetapher in der „organischen Einheit von Volk und Staatswesen“ (S. 23) im 19. Jahrhundert in den Diskursen des Rechts und den neu entstandenen Sozialwissenschaften fort, vor allem wenn es um die Beschreibung von staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen ging. Mit und nach der Aufklärung erscheint der Doppelkörper der body politik in der Unterscheidung bzw. Ungleichmachung zwischen bürgerlichen „souveränen“ Körpern, die entkörpert werden, sobald ihre symbolische Macht zu nimmt und den prekären, feminisierten, rassifizierten „Körpermassen“, die nicht ausreichend vernunftbegabt sind und denen ein „Überschuss an Leiblichkeit und Natur“ zugeschrieben wird (S. 26). Auf der zweiten Etappe der politischen Körpergeschichten erkundet die Autorin bei den englischen Aufklärungsphilosophen David Hume und John Locke, die Ideen des Körpers als Privateigentum und Kraftmaschine (S. 27–46). Beide Frühaufklärer gehen zwar von der Gleichheit aller Körper aus, doch betrachtet David Hume das Individuum als atomistisches Einzelwesen, das im „Krieg aller gegen alle“ einer rationalen Rechts- und Staatsordnung bedarf, die die Einzelkörper in einer politischen Ordnung vereint und ihnen als Unterworfene „Schutz und Sicherheit“ gewährt. Es geht jedoch nicht nur um den staatlichen Schutz der Einzelkörper und ihre bedingungslose Unterordnung unter die staatliche Macht, sondern auch um den Schutz der besitzenden Eigentümer materieller Güter vor den mittellosen Massen. (S. 29) Weil dieser von David Hume konstruierte Besitzindividualismus auch die Körper selbst „ergreift“, werden Körper zu „kleinen Kraftmaschinen, deren Arbeit und Produktivität bemessen wird.“ (S. 30) John Locke geht noch weiter, insofern, als er den Körper selbst als sein Eigentum betrachtet. Da er jedoch Besitzlosen ein vernunftfähiges Leben abspricht und somit auch nicht als vollwertige Rechtssubjekte betrachtet, legitimiert er auf diese Weise die entstehende Gesellschaft der Ungleichheit zwischen Besitzenden und besitzlosen Arbeitern. Auch bei Jacques Rousseau, der eher ein romantisiertes Bild vom „guten, selbstgenügsamen“ Menschen hat, sofern er die „verdorbene“ Gesellschaft meidet, erkennt Govrin eine einseitige Sichtweise, da er Menschen nicht als soziale Wesen begreift, die aufeinander angewiesen sind. Auch wirft sie ihren kritisch feministischen Blick auf die Aufklärungsphilosophien von Kant, Hegel und Marx, die ebenso wie ihre Vorgänger, die Ansicht vertraten, dass der Mensch über seinen Körper, seine Arbeitskraft frei verfüge, „ohne versklavt zu sein“ (S. 34) während die zeitgleiche Versklavung in den Kolonien ausgeblendet wurde. Nicht nur in den anthropologischen Schriften von Kant, sondern auch in natur- und humanwissenschaftlichen Diskursen im 18. und 19. Jahrhundert wurde die Ungleichmachung von „schwarzen Körpern“ durch die angebliche Überlegenheit „weißer Körper“ begründet. Ebenso wurde der Ausschluss von Frauen aus der politischen Öffentlichkeit biologistisch begründet, insofern sie „naturnäher und geistferner“ (S. 40) sind. Damit beginnt in der bürgerlichen Gesellschaft die geschlechtliche Arbeitsteilung, Frauen werden in das Haus verbannt und ihnen wird die Sorgearbeit zugewiesen. Während der Gleichheitsgrundsatz der Aufklärung in der entstehenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft durch Enteignung, Ausbeutung und Ausschluss in der Praxis unterlaufen wird, findet die Autorin erste „Spuren eines Universalismus von unten“ (S. 45): z.B. bei Olympe de Gouges, die die Freiheitsrechte auch für Frauen reklamierte oder in der Haitischen Revolution von 1791, die letztlich zum Sturz der französischen Kolonialherrschaft führte. Die dritte Wegetappe (S. 46–57)der politischen Körpergeschichte ist gekennzeichnet durch die zum Ende des Absolutismus entstehende Biopolitik, die nach Michel Foucault als Disziplinarmacht den einzelnen Körper dressiert und als Biomacht auf den Massenkörper ausgerichtet ist. Die jahrhundertelang in den Klöstern praktizierten Disziplinartechniken werden im 17./18. Jahrhundert auf andere Räume, auf Hospitäler, Gefängnisse, Kasernen, Fabriken, Erziehungsanstalten und Familien übertragen. Zentrales Merkmal der Disziplinarmacht ist eine besondere Form der „Ökonomie des Körpers“: sie spaltet die Körper, indem sie ihre Produktivkraft steigert, um ihre ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen und gleichzeitig schwächt sie dieselben Kräfte, um sie politisch fügsam zu machen. Die Biomacht hingegen umfasst ein breites Spektrum an Regierungstechnologien, die regulierend, reglementierend, moralisierend auf den „Bevölkerungskörper“ einwirkt, um die Körper in ihrer Gesamtheit, differenzierend und hierarchisierend in die „Produktionsapparate“ einzuspannen. Mittels neuer Wissenstechnologien z.B. der Statistik, der Demografie, der Biologie, der Epidemiologie werden weitere Voraussetzung für Biopolitiken der Ungleichmachung von Körpern geschaffen: Welche Leben wie gelenkt werden, wessen Leben verelenden kann, welche Leben dem Sterben überlassen werden. (S. 55) Die vierte Wegetappe trägt die Überschrift „Verkörperte Herrschaft und widerspenstiges Wissen“. Die Autorin diskutiert zunächst das Habituskonzept von Pierre Bourdieu, wonach die soziale Herkunft, die damit verbundenen Erfahrungen und das erworbene Wissen sich unbewusst in die Körper einschreiben, sich in Gesten, Geschmack, in der Sprache ausdrückt und sich in die bestehenden Herrschaftsstrukturen ein- bzw. unterordnet. Obgleich Govrin diese Form der Habitualisierung nicht grundsätzlich anzweifelt, erkennt sie ein Widerstandspotenzial insofern, als trotz aller gewaltvoller Einschreibungen und Eingrenzungen „Menschen als verkörperte, affektive Wesen niemals vollends unterworfen“ (S. 63) sind. Sie verweist an dieser Stelle auf die feministischen body politics, die in den 70er und 80er Jahren das emanzipative Potenzial politischer Körper entdecken. „Während body politic und Biopolitik den Körper als Herrschaftsmetapher oder als Ausbeutungsinstrument von oben betrachten, bieten die feministischen body politics einen Blick von unten auf Körper, indem sie auf deren Eigensinn aufmerksam machen“ (S. 64).
Kapitel 2: Egalitäre Körper
Weil Menschen körperliche Wesen sind, sind sie verwundbar und bedürfen zeitlebens der Sorge und Ansprache. Menschen sind keine rein autonomen, voneinander unabhängigen Einzelwesen, sondern sie sind soziale Wesen, die in ihrer körperlichen und affektiven Abhängigkeit aufeinander angewiesen und aneinander gebunden sind. Diese soziale Verfasstheit verweist zugleich auf ihre politische Dimension (S. 69), denn die „ontologische Verwundbarkeit“ als Grundbedingung des Daseins ist ungleich verteilt. Zu unterscheiden ist daher zwischen der „ontologischen Verwundbarkeit“ die für alle Körper gilt und der „strukturellen Verwundbarmachung“ als politisch bedingten und historisch gemachten Zustand. „Die Annahme einer ontologischen Verwundbarkeit führt zu ethischen, egalitären Forderungen.“ (S. 72) Der analytische Begriff der strukturellen Verwundbarmachung dient der machtkritischen Untersuchung von Strukturen und Praktiken, die Körper ungleich machen. Von diesen Grundannahmen ausgehend diskutiert Govrin unterschiedliche „Verwerfungen“ in der globalisierten Welt, die aufgrund ihrer Kolonialgeschichte asymmetrisch gestaltet ist. Das gilt für die Ausbeutung in prekären Arbeitsstrukturen wie auch für die europäische Migrationspolitik, die den menschenrechtlich zugesicherten Schutz verweigert und die flüchtenden Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt. Verwundbarkeit „als Modus der Gleichheit“ zu verstehen, heißt jedoch nicht Körper gleichförmig zu machen, sondern zielt auf einen Universalismus von unten, der „das Recht auf Differenz in der Gleichheit“ meint. Damit wendet sich Govrin gegen den Universalismus von oben, der eine normative Gleichheit anstrebt, die sich orientiert an der „Norm der entkörperten, bürgerlichen, weißen Männlichkeit“ und letztlich bis heute einen Großteil der Weltbevölkerung insbesondere im globalen Süden als Ungleiche behandelt und sie ausschließt. Den zentralen Unterschied zwischen einem hegemonialen Universalismusdiskurs und einem Universalismus von unten, sieht Govrin darin, dass erstere asymmetrische Ungleichheiten bis heute fortschreibt, während sich letzterer an den Prinzipien globalen Gemeinwohls orientiert und sich in Beziehungen der Sorge und Solidarität konkretisiert.
Kapitel 3: Pandemische Körper
Ausführlich widmet sich Govrin den widersprüchlichen „Schutzpraktiken“ und den weltweiten Folgen der Coronapandemie. Sie thematisiert den seit der Pandemie auch in der Alltagssprache gängigen Vulnerabilitätsbegriff, der wenig bzw. nichts gemein hat mit der sozialphilosophischen Verwundbarkeit. Vulnerabilität aus medizinischer, epidemiologischer, entwicklungspolitischer Sicht wird in der Regel als defizitärer Zustand verstanden, der mittels resilient machender Praktiken überwunden werden soll. Diese letztlich paternalistische Sichtweise verdeckt die Schattenseite einer Sorge, die in der Pandemie besonders sorgebedürftige Menschen über Monate isoliert hat und denen fast jegliche Selbstbestimmungsfähigkeiten abgesprochen wurde. In der Pandemie gesellte sich zu diesem defizitären Vulnerabilitätsdiskurs stellenweise ein sozialdarwinistischer Jargon, der die Frage aufwarf, ob sich die Kosten des Schutzes für unproduktive, alte sterbenskranke Menschen überhaupt noch lohnen. Eine weitere Diskussionsarena ist die Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte in der EU, insofern der drastische Sparkurs auch in den EU-Staaten zu einer Gefährdung der Gesundheit insbesondere der Ärmeren führte. Ein eindrückliches Beispiel sind die Politiken und Folgen der Wirtschaftskrise in Griechenland in den 2010er Jahren, die nicht nur eine „humane Katastrophe“ zur Folge hatte, sondern mit stigmatisierenden Praktiken die schwächsten Gruppen – wie HIV-Infizierte, Sexarbeiterinnen und Geflüchtete – als Sündenböcke für die wirtschaftlichen Krisen identifizierte und mit entsprechenden Kontrollen drangsalierte. Ein weiterer Aspekt staatlicher Politik war die „pandemiepolitische Raumeinteilung“ (S. 121 f.), bei der manche Körper verwundbarer gemacht wurden als andere, indem sie „als vulnerabel ausgemacht und isoliert wurden oder der Massenquarantäne unterstellt wurden (S. 121).“ Dabei kamen zwei Logiken zum Tragen: die Logik der Kontaktbeschränkung, die individuelle Körper voreinander schützen soll und die Logik der Herdenimmunität, die auf das „Wohl des Gattungskörper“ zielt (S. 123). Auch die Entdeckung der „systemrelevanten“ Arbeiter:innen, die der Sorge und Versorgung – somit der sozialen Reproduktion – dienten, war eine neue Gruppenkategorie. Das Paradoxon jedoch war, dass diese „symbolische Anerkennung“ der Sorge- und Versorgungsarbeiter:innen weder in der Pandemie noch danach wenig an deren prekären Lebens- und Arbeitsverhältnissen veränderte (S. 130) In den letzten Abschnitten werden die Verschleierungsmechanismen des Resilienzbegriffs vor allem bei sog. Impfgegner:innen und die Gefährdung von Körper in der Klimakrise diskutiert insbesondere derer, die am wenigsten dazu beitragen.
Kapitel 4: Solidarische Körper
Das letzte Kapitel widmet sich der Frage, wie und wo entsteht ein Universalismus von unten, der mit den Menschenrechten den Anspruch teilt, für alle Körper den gleichen Schutz einzufordern, aber egalitäre Körperpolitiken (bodypolitics) praktiziert. Denn in der politischen Praxis werden universelle Menschenrechte oft noch mit „einer Haltung westlicher Überlegenheit“ versprochen und können daher dazu dienen „imperiale Interessen“ (S. 168) durchzusetzen. Zudem besteht trotz oder gerade wegen der humanitären Absicht die Gefahr, dass andere, nicht westliche Gruppen, die gefährdet sind, zu „schutzbedürftigen, vulnerablen Subjekten“ (S. 169) erklärt werden, die dann Formen von paternalistischen Hilfen erhalten, die sie in neue Abhängigkeiten bringen. Govrin sieht jedoch auch, dass sich durch die Mitwirkung z.B. von ehemals kolonialisierten Staaten, von Staaten des globalen Südens, von NGOs und zivilgesellschaftlichen Gruppen die Forderungen der Menschenrechte erweitert haben, insofern als die Ungleichheit von Frauen, von Menschen mit Behinderung, von indigenen Gruppen mehr in den Blick geraten ist. Durch diesen offeneren, erweiterten „Prozesses der Universalisierung“ (S. 172) von Menschenrechten öffnet sich der Blick auf die „Graswurzelbewegungen“ von unten, die Körper in ihrem Sorgebedürfnis, ihrer geteilten Abhängigkeit betrachten und sich in egalitären Körperpolitiken manifestieren. Eine solche widerständige Körperpolitik ist 2016 in Buenos Aires mit der feministischen Frauenprotestbewegung „Ni una Menos“ (S. 173) entstanden, die sich gegen die strukturelle Gewalt der Feminizide wendet und damit „neue Bilder von Kollektivität und Körperlichkeit“ (S. 189) produziert. Im Mittelpunkt dieser Proteste steht die Sorge umeinander im Mittelpunkt, mehr noch, sie zeigen die vier Dimensionen solidarischer, egalitärer Körperpolitiken: erstens wenden sie sich gegen die Repräsentation von Körpern als autonom und unabhängig voneinander, zweitens wehren sie sich gegen die strukturelle Verwundbarmachung und Ungleichmachung, drittens entwerfen sie neue Perspektiven des kollektiven Widerstandes durch die Kraft „des Begehrens nach Veränderung“ von repressiven Ausbeutungsverhältnissen und viertens „ermöglichen sie affektive Gegen-Habitualisierungen“, sodass „Spuren eines Universalismus von unten aufscheinen“ (S. 189) Govrin beschreibt weitere Protestformen und „Sorgeökonomien“, die von verwundbaren Körpern, ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und ihren geteilten Bedürfnissen nach Sorge und Solidarität ausgehen. In den Schlussbemerkungen formuliert die Autorin die zukunftsweisende Ansicht, dass sich in der „Verwundbarkeit die Gleichheit der Körper entfaltet“ und damit die „Idee, uns als verschieden anzuerkennen und als Gleiche zu behandeln“ (S. 227). Ein solcher Universalismus von unten eröffnet transformative Wege in eine globale Gesellschaft, die nicht weiter unbegrenztes Wachstum, Profit und Akkumulation als Ziele bestimmt, sondern die gegenseitige Sorge, das Gemeinwohl und das elementare Bedürfnis nach einem guten Leben erstrebt.
Diskussion
Die Pandemie ist für Jule Govrin sowohl Ausgangspunkt als auch Analysegegenstand der vorliegenden Schrift, denn sie hat uns die Verletzlichkeit und die Verbundenheit aller Körper erfahren lassen und das entgegen dem neoliberalen Dogma vom autonomen, jeglicher Bindung befreiten, flexiblen Menschen und einer Politik eines nicht reglementierten freien Marktes. Die Pandemie hat uns jedoch nicht nur gezeigt, dass die Körper der anderen uns gesundheitlich gefährden und wir die anderen gefährden. Erfahrbar wurde auch, wie sehr wir auf andere angewiesen sind, ihrer sorgenden Nähe bedürfen. Zugleich wurde sichtbar, dass diejenigen, die unter prekären Bedingungen ihr Leben meistern müssen, am stärksten belastet wurden. Weil die Pandemie als globale Krise diesen Zusammenhang zwischen der Gleichheit aller Körper in ihrer Verwundbarkeit und der ungleichen Verteilung von erlebter Verwundbarkeit sichtbar gemacht hat, setzt sich Govrin zunächst mit der Geschichte der Körperpolitiken auseinander. Beginnend mit den Körpermetaphern der Antike und vor allem mit den Grundpositionen der Frühaufklärung und Aufklärung. Dort findet sie eine bis heute wirkmächtige Wurzel körperlicher Ungleichmachung, insofern als die Gleichheit aller Körper an das vereinzelte Individuum geknüpft wird, das sich selbst als Eigentum besitzt und sich als Produktivkraft im Kapitalismus verausgabt. Govrin skizziert insgesamt vier Wegetappen, die zeigen, wie der Gleichheitsanspruch der Aufklärung im Verlauf der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft mittels Biopolitiken unterlaufen wird. Sie beschreibt differenziert, welche Körper ökonomisch und politisch als „wertvoll“ gelten und welche ausgebeutet, vernachlässigt, an den Rand gedrängt werden können. Besonders deutlich wird dies in Krisenzeiten, in denen die Verwertungslogik von Wirtschaftsprozessen soziale Unterschiede noch vertieft und Menschen, die strukturell benachteiligt sind, noch mehr ausbeutet und stigmatisiert. Sie erinnert z.B. daran, wie zu Beginn der Pandemie in einer Schlachtfabrik von Tönnies ein Infektionsausbruch nicht etwa den Arbeitsbedingungen und den unzureichenden Schutzmaßnahmen zugeschrieben wird, sondern die Arbeiter:innen verantwortlich gemacht wurden, die das Virus angeblich aus Rumänien und Bulgaren mitgebracht hätten. Der damalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, hat diese Schuldzuweisung noch verstärkt. Allein dieses Ereignis zeigt, wie Ökonomie und Politik zusammen spielen, wie insbesondere migrantische Arbeiter:innen stigmatisiert und zum „Sündenbock“ gemacht werden.
Jule Govrin bleibt nun nicht bei der Analyse und Beschreibung von struktureller Benachteiligung und von asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnissen stehen, sondern sie wirft die Frage auf, welche widerständigen Praktiken, welche solidarischen Gefüge rebellieren gegen diese ungleiche Verteilung von Verwundbarkeit. Sie begibt sich auf die Suche nach einem „Universalismus von unten“, der von konkreten Menschen in ihren jeweiligen historischen und sozialen Kontexten ausgeht. Diesen „Universalismus von unten“ erkennt sie in Protestformen und „Sorgeökonomien“, die die „ontologische Verwundbarkeit“ ihrer Körper, ihrer gegenseitige Abhängigkeit und ihrer geteilten Bedürfnisse nach Sorge und Solidarität zum Ausgangspunkt nehmen. Sie benennt und beschreibt verschiedene Protestformen, die sich in der Regel lokal bilden, wie z.B. feministischen Proteste, aber auch die Black Lives Matter oder die Fridays for Future Bewegung, die auch globale Wirkungsmacht entwickelt haben, können als Bewegungen „von unten“ gesehen werden. Allerdings taucht die Frage auf, wie solche Praktiken der Sorge und Solidarität ohne institutionelle oder gesetzgeberische Verankerung auf Dauer und über einen lokalen und zeitlichen Anspruch hinaus Geltung beanspruchen können. Eine mögliche Antwort, die mir dazu einfällt und die ich implizit aus dem Schluss des Buches heraus lese, ist, dass insbesondere in der gegenwärtigen Zeit der Klimakrise, der Kriege und Naturzerstörungen, der Gefährdungen demokratischer Rechte, zunehmend solche Bewegungen „von unten“ notwendig sind, um erkämpfte Rechte zu verteidigen, weitere Bedrohungen zu verhindern und mehr „Sorgeökonomien“ zu erkämpfen, die ein „Miteinander gleicher Körper“ erstreben und die „Menschenrechte nicht als Haltung aufführen, sondern als Handlung umsetzen“ (S. 223), auch wenn all diese Bewegungen einem „Flickenteppich“ gleichen und damit noch (zu) weit entfernt von einem globalen „Universalismus von unten“ sind.
Fazit
Das vorliegende Buch ist nicht nur für theorieaffine Leser:innen lesenswert, denn es ist eine kluge, aufschlussreiche Schrift zur Genealogie der Körperpolitiken seit der Zeit der Aufklärung bis in unsere Gegenwart. Govrin rekonstruiert einerseits die Dominanz männlicher Macht, die eine Vielzahl von Ausbeutungs-, Ausschluss- und Kontrolltechnologien für Menschen bereithält, denen einen Überschuss an Natur und Leiblichkeit zugeschrieben wird: den feminisierten, rassifizierten, prekären Körpern. Andererseits gelingt es ihr in Anlehnung an das Konzept von der ontologischen Verwundbarkeit aller Körper in widerständigen solidarischen Graswurzelbewegungen ermutigende Spuren eines Universalismus von unten – ein Miteinander gleicher Körper in der Verschiedenheit - zu entdecken.
Rezension von
Angela M. Laußer
Dipl. Soziologin, Beraterin, Trainerin und Coach
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Es gibt 18 Rezensionen von Angela M. Laußer.
Zitiervorschlag
Angela M. Laußer. Rezension vom 20.12.2024 zu:
Jule Govrin: Politische Körper. Von Sorge und Solidarität. Matthes & Seitz
(Berlin) 2022.
ISBN 978-3-7518-0545-2.
Reihe: Fröhliche Wissenschaft - 206.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32465.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
Urheberrecht
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