Caroline Ruiner, Mona Bardmann: Soziologie
Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 26.09.2024
Caroline Ruiner, Mona Bardmann: Soziologie. Theorien, Methoden und Teildisziplinen. Wilhelm Fink Verlag (München) 2024. 263 Seiten. ISBN 978-3-8252-6073-6. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 32,00 sFr.
Hinführung
Auch die Soziologie ist im Fluss. Der schnelle Wandel der Lebensverhältnisse und die Internationalisierung auch der soziologischen Forschungsgemeinde rufen gerade auch nach soziologischer Erklärung. Einflüsse der Betrachtung gesellschaftlicher Veränderungen in Frankreich haben die sozialstrukturellen Schichtungs-Vermessungen über die Begriffe des Habitus und des kulturellen Kapitals in volatilere Milieus abgelöst. Im anglo-amerikanischen Raum ist der Strukturalismus mit seiner Sichtweise wechselseitiger Beeinflussung von einzelnen und ihrer umgebenden Sozialumwelt aufgekommen. Neue Bindestrich-Soziologien sind mit dem Wandel von Lebensverhältnissen entwickelt worden wie Medizin-, Umwelt-, Technik- und Medien-Soziologie. Dies führt dazu, dass gängige soziologische Lehrbücher völlig neu konzipiert werden müssen. Eine solche neue Darstellung der Soziologie legen jetzt die beiden Lehrenden und Forschenden Caroline Ruiner und Mona-Maria Bardmann der Universität Hohenheim mit dem bei Brill-Fink in Paderborn erschienenen 264seitigen Band „Soziologie“ vor.
Autorinnen
Professorin Dr. Caroline Ruiner, Soziologin und Betriebswirtin, lehrt und forscht an der Universität Hohenheim Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeitssoziologie und Einflüsse der Digitalisierung auf die Arbeitswelt.
M.A. Mona-Maria Bardmann ist als Master of Arts in Media & Cultural Sociology und Wirtschaftsfachwirtin als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Hohenheim tätig mit den Schwerpunkten Organisationssoziologie und Einflüsse der Digitalisierung auf die Erwerbsarbeit.
Inhalte
Der neue Band „Soziologie“ von Caroline Ruiner und Mona-Maria Bardmann umfasst sechs Abschnitte: Drei Basis-Module mit soziologischer Einführung, wissenschaftlicher Arbeitsweise und Empirik, zwei Aufbau-Modulen mit den soziologischen Klassikern und den Bindestrich-Soziologien sowie dem Schlusskapitel „Soziologie im Wandel“ mit dem Blick auf demographische, siedlungsstrukturelle und geschlechtsspezifische Wandlungen sowie auf Einflüsse von Verwissenschaftlichung und Digitalisierung.
Die Einführung von Basismodul 1 beleuchtet den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft über gesellschaftliche Normen, Werte und Strukturen. Über Koordination der Individuen können sich Ordnung, Kohärenz und Integration ergeben. Die Handlungen der Individuen und die gesellschaftlichen Strukturen sind ständigen Veränderungen unterworfen. Sie werden laufend neu geformt und verändert. Akteure mit Macht und Dominanz können
Rollen, Normen und Strukturen prägen. Im ideen-historischen Rückblick wird dem Kampf aller gegen alle von Thomas Hobbes die friedliche Natur des Menschen bei Jean-Jacques Rousseau, wird der Rationalität Max Webers der klassenkämpferische Impetus von Karl Marx gegenüber gestellt. Die strukturalistische Betrachtung der Mikrowelt und der Makrowelt wird mit Anthony Giddens als wechselseitig einander beeinflussend dargestellt. Voraus geblickt wird am Ende dieses Moduls auf die im Aufbau-Modul 2 breiter behandelten Bindestrich- oder speziellen Soziologien.
Die Beschreibung des soziologischen wissenschaftlichen Arbeitens in Basismodul 2 fordert eine konzise Gedankenführung ohne schmückende Arabesken und Exkurse ein. Es haben aufeinander zu erfolgen Fragestellung, transparent gemachte Methodik, Ergebnis-Darstellung und Destillierung des Fazits mit Hinweis auf eine eventuell mögliche Anschluss-Untersuchung.
Basismodul 3 des neuen „Soziologie“-Bandes behandelt die empirischen Forschungsmethoden. Die empirische soziologische Forschung muss der Fragestellung angemessen sein. Es werden die qualitative Forschungsweise zum Einblick und Verständnis sozialer Prozesse und individueller Lebenswelten von der quantitativen Forschung unterschieden; letztere erbringt Überblicke auf der Grundlage möglichst großer, umfassender Datenmengen und eignet sich besonders zur Verallgemeinerung und zur Hypothesen-Prüfung. Dabei ist qualitative Forschung in ihrem Prozess auch veränderbar – zirkulär entsprechend des Beobachteten. Quantitatives Vorgehen ist dagegen in sich konzise und linear. Ein gemischtes Mixed-Vorgehen eignet sich zur Anwendung bei sowohl explorativ-ermittelnden wie auch explikativ-erklärenden Fragestellungen. Die methodischen Sequenzen können dabei in unterschiedlicher Reihenfolge eingesetzt werden: Je nachdem, ob man die qualitative Untersuchung quantitativ vorbereitet (explorativ) oder aber umgekehrt mit qualitativen Ermittlungen die quantitative Recherche angeht (erklärende Sequenz). Aufgeführt sind nutzbare Datenbanken und -Archive. Beleuchtet wird die Kontroverse zwischen Positivismus und Kritischem Rationalismus. Die Schilderung der qualitativen Methodik geht auch ein auf teilnehmende Beobachtung, Gruppendiskussion, freies oder leitfaden-gestütztes Interview und Dokumenten-Analyse; die Umschreibung der quantitativen Methodik umfasst auch Gütekriterien und Stichproben-Prüfung. Abschließend werden forschungs-ethische Erfordernisse wie Aufbewahrungspflicht der Daten angesprochen.
Im vierten Abschnitt ihres neuen „Soziologie“-Lehrbuchs stellen die Autorinnen im Aufbaumodul 1 in vier Teilkapiteln einige ausgewählte soziologische Klassiker vor.
Von Karl Marx wird dessen Aufteilung der Gesellschaft in Klassen heraus gestellt. Die nicht die Produktionsmittel besitzenden Proletarier leiden an der Entfremdung von ihren Einsätzen und ihrer Entfaltung, woraus die Gegenklasse Bourgeoisie über die Mehrwert-Aneignung profitiert. Émile Durkheim stellte das Faktum der Eigenständigkeit sozialer Tatbestände dar, die das Handeln der Menschen steuern. Diese können funktional oder dysfunktional sein. Die Solidarität nimmt mit zunehmender Arbeitsteilung ab, es treten Anomien auf wie Kriminalität und Selbstmorde. Historisch unabhängig identifizierte Georg Simmel soziale Interaktionen als Wechselwirkungen sozialen Handelns zwischen Individuum und Gesellschaft; je nach Position kommt es zu Rollen-Übernahmen. Die sozialen Muster und das individuelle Handeln können aber differieren. So kann auch Geld verbinden oder trennen. Max Weber untersucht soziales Handeln als in seinem Sinn auf andere Menschen bezogenes Verhalten. Es kann affektiv, tradiert, aber auch zweck- oder wertrational begründet sein. Ausweis göttlicher Gnade im Diesseits kann wirtschaftlicher Erfolg im Wirtschaften sein; das beflügelte den Kapitalismus mit seiner entzaubernden Rationalisierung und regelbasierten Bürokratisierung. Bürokratie setzt auf Regelhaftigkeit, Schriftlichkeit, Verlässlichkeit und Unpersönlichkeit. Die Forderungen Webers nach Abstinenz von Werturteilen in der soziologischen Forschung sind bis heute aktuell. Im Gegensatz dazu kommt die Kritische Theorie der Frankfurter Schule nicht ohne Beurteilung am Erwünschten im Sinn von Besser oder Schlechter aus, weil allein schon die Thematisierung eines Forschungsprojekts eine Entscheidung für ein Thema und gegen ein anderes sei. Jürgen Habermas sieht soziologische Forschung in ihrem Auftrag, emanzipatorische Veränderungen zu bewirken und die Einbindung in die Gesellschaft zu gewährleisten, auch wenn der Forschungsprozess selbst kritisch zu hinterfragen ist.
Der Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons ist am Bestand des Gesamtsystems Gesellschaft interessiert. Dieses bildet dazu miteinander in Beziehung stehende Teil-(Sub-)Systeme aus, die Normen und Werte tradieren als kulturelles (Gesamt-)System, welches über dem sozialen und über dem Persönlichkeits-System steht. Dagegen sieht Niklas Luhmann die sich ständig mehrenden Systeme der Gesellschaft in ständigem Wandel, um in ihrem Umfeld zu bestehen. Ihre Aufgabe besteht in der Verringerung von Komplexität. Die einzelnen Subsysteme sind kognitiv offen, indem sie sich von außen informieren, operativ aber geschlossen, indem sie im Inneren agieren. Sie sorgen für ihr eigenes Fortbestehen (Autopoiesis) und konstruieren eine sinngebende Realität.
In George Herbert Meads Symbolischem Interaktionismus sind über Zeichen (instinktive Reaktionen) und über Gesten (nonverbale Äußerungen) die Symbole als bedeutungs-geladene Mitteilungen die wesentlichen Träger der Mitteilung, der Verständigung und der Bindung unter den Menschen. Die Sozialordnung wird somit im Mikrobereich zwischen den Individuen (alter und ego) und nicht über abgehobene Proklamationen im Makrobereich aufrecht erhalten. Der generalisierte Andere, von dem man sozialverträgliches Verhalten erwarten darf, ist wichtig für Empathie und die Einnahme der eigenen sozialen Position und Zugehörigkeit. Für Harold Garfinkels Ethnomethodologie wird soziale Ordnung ständig (neu) durch das alltägliche Tun der Menschen ausgehandelt. Denn Menschen beobachten sich gegenseitig und orientieren sich so stets neu. Am Verhalten in der Mikrowelt erkennt auch Erving Goffman Unterschiede im gegenseitigen Verhalten zwischen respektierend und rücksichtsvoll gegenüber herab setzend und missachtend. Ursächlich ist für ihn der Handlungsrahmen, der auf das Handeln im einzelnen ausstrahlt. Es kommt zur Selbst-Interpretation der Akteure. Ihre Identität wird durch die Handlungsrahmen geformt, in die sie eingebettet sind. Das kann bei Klienten in Einrichtungen die totale Institution sein, die ihre Individualität beeinträchtigt. Missverständnisse können durch korrigierende Rituale ausgeglichen werden.
Eine Zwischenstellung zwischen individuell gesteuertem Handeln auf der Mikro-Ebene und den gesellschafts-strukturellen Prägungen der Makrowelt nimmt Norbert Elias mit dem von ihm entwickelten Begriff der Figuration ein. Soziale Abhängigkeiten prägen die sozialen Prozesse, es kommt durch komplexe Einbettungen aber zur zunehmenden Selbstregulierung der Individuen. Der Fremd-Zwang aus der Makro-Ebene wandelt sich durch Internalisierung von Normen immer mehr in Selbstzwang der Individuen um aus ihnen selbst heraus. Auch Michel Foucault sieht die Selbstdisziplinierung der Individuen als möglich, aber nicht zwingend, an. Erkenntnistheoretisch verneint er überzeitlich gültige Lehrsätze. Durch Diskussion entstehen je eigene Episteme, die von Machtstrukturen beeinflusst werden. Das Individuum ist somit nicht souverän, sondern Produkt eines komplexen Macht-Wissens-Verhältnisses, unter dem es agiert und sich an seiner Subjektivität versucht. Auf gesellschaftliche Ressourcen hebt auch die Soziologie von Pierre Bourdieu ab mit seiner Kategorie des Habitus als individueller Verhaltens-Leitvorstellung, die die Menschen im Verlauf ihrer Sozialisation entwickeln. Prägend hierfür sind Familie, Schule, Ausbildung und Peers. Sie beeinflussen die Entwicklung des Habitus als vor-reflexives, reaktives Muster, das Handlungen der Individuen prägt und ihre Reaktionen steuert; dabei ist dieser auf ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital fußende Habitus auch veränderbar. Ein wichtiges Moment ist auch die eher fiktiv wirkende symbolische Gewalt als Akzeptanz der Benachteiligten in ihre als gerecht und verdient erlebte prekäre Situation und der Begünstigten für deren bessere soziale Lage.
In Aufbaumodul 2 skizzieren die beiden Autorinnen zehn spezielle Forschungsgebiete der Soziologie, die auch als Spezial- oder Bindesstrich-Soziologien bezeichnet werden. Zunächst wenden sie sich der Sozialstruktur oder Schichtung der Gesellschaft zu. Hier werden betrachtet Demographie mit Alter und Geschlecht, Erwerbsstatus, Einkommens- und Vermögensverteilung, Bildungsstand und soziale Teilhabe. In vielen dieser Felder bestehen Ungleichheiten in der Zuteilung wertvoller Güter an die Individuen. Dies bewirkt deren Verortung in untereinander vertikal über- bzw. untergeordnet bewerteten Klassen, Schichten, Milieus und Lebensstilen. Die über den Lebensverlauf dauerhafte Prägung durch die geburts-erworbene Herkunfts-Sozialschicht hat durch Mobilität abgenommen. Das Geschlecht hat nach wie vor sozial strukturierende Auswirkungen. Von Andreas Reckwitz wird jüngst ein Zug zur Hochwertung der Besonderheit im Lebensstil mit dem Ziel der Singularisierung und Individualisierung festgestellt. In der Familiensoziologie wird die Familie als ein Grundtyp praktizierter zwischenmenschlicher Solidarität erblickt. Sie ist ein Vehikel des Übergangs von erzwungener mechanischer zu freiwilliger organischer Solidarität. Sie vermittelt als gesellschaftliche Agentur die sozialen Werte und Normen der Gesellschaft. Sie wird zunehmend von rational-ökonomischen Optionen berührt. Es ergeben sich mit der Individualisierung der Lebensstile neue Partnerschaftsformen, veränderte innerhäusliche Aufgabenteilungen, Beziehungsdauern, Kinderzahlen und Aufnahmen Familienfremder. Dominant wird für die partnerschaftliche Bejahung das Liebes-/​Zuneigungs-Ideal. Am fertilsten erweisen sich Paare mit Männern/Vätern mit dem höheren Sozialstatus als die Partnerin. Die Arbeitssoziologie erkennt, dass der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit bei zunehmender Autonomie von Arbeitsgruppen über deren eingeräumte Selbstständigkeit gemildert wird. Vernetzte und optimierte Produktionsprozesse können in der Industrie 4.0 mit Digitalisierung profitabel wirken. Kreative Tätigkeiten nehmen zu, routiniert-repetitive Arbeit verschwindet. Die Qualifikation der Arbeitenden steigt, das Dual Mensch-Maschine wandelt sich zur Partnerschaft zwischen Mensch und Technik. Arbeitszeiten und Arbeitsorte flexibilisieren sich, die Arbeitsverträge tendieren zu befristeten und selbstständigen Tätigkeiten. Die Erwerbsarbeit wird künftig vielfältiger, kundenorientierter und bietet mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Die Organisationssoziologie betrachtet soziale Gebilde zur umrissenen Ziel-Erreichung mit fest angebbarer Mitgliedschaft in Rollendifferenzierung unter einer festgelegten Autoritätsstruktur. Die offizielle Zielsetzung kann aber auch unbeabsichtigte Ziele implizieren. Zugleich kann sich die Motivation der Organisationsmitglieder wandeln. Zu beachten sind die sich informell verändernden Spielregeln der Akteure. Betrachtet werden Organisationsveränderungen durch isomorphe Prozesse. Die Wirtschaftssoziologie widmet sich der Dynamik von Märkten, den Konflikten zwischen produktiven Akteuren, den ökonomischen Machtstrukturen und den wirtschaftlichen Ungewissheiten. Über reine Zweckorientierung hinaus gehende soziale Optionen und produktive Innovationen führen zu wirtschaftlichem Wandel. Hierarchische Autonomie sind wie Vertrauen in Netzwerke gleichermaßen zu beachten.
Die Mediensoziologie fragt, wie die Massenmedien die Meinungen, Normen, Werte und das Verhalten beeinflussen. Wirkungsforschung und Medienkompetenz suchen nach der Fähigkeit, mit Medien umzugehen. Untersucht wird auch die Medienkonzentration im Hinblick auf Vielfalt und Diversität sowie Freiheit von Zensur. Medien schaffen Identitäten. Gefahr droht der ums Gemeinwohl diskutierenden bürgerlichen Öffentlichkeit durch die monopolisierte Verbreitung einseitiger Vorstellungen und interessengeleiteter Optionen bis zu Desinformation und Fake News. Auch die vielfach geforderte Moderierung von Internet-Inhalten kann, wenn sie denn erfolgt, zu Verzerrungen führen. Die Wissenssoziologie fragt nach den Prozessen der Bereitstellung von Wissen und nach der Bedeutung von Wissen für die Organisation der Gesellschaft. Wissen kann die reale Situation der Gesellschaft erforschen und definiert so das, was als Wissen angesehen wird, ist also sozial konstruiert und kontext-geprägt. Wissen ist sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Determinanten unterworfen. Medizinsoziologie stellt die Abhängigkeit der individuellen Gesundheit vom sozio-ökonomischen Status der Patienten fest. Es geht einmal um den Zugang zum Gesundheitssystem und seinen Institutionen sowie um die Ressourcen für die Behandlungen. Die Soziologie in der Medizin stellt Zugangs- und Verstehens-Fragen, die Soziologie der Medizin untersucht die Praktiken des Gesundheitswesens (Professionalisierung, Beziehungen der Berufsträger, Informationsdefizite, Medikalisierung). Es gibt die Vorstellung der Rollen-Entlastung des Kranken (Talcott Parsons) wie die Idee des erzwungenen Identitätsverlustes des Patienten (Erving Goffman). Die Techniksoziologie betrachtet die Implikation und Folgen der Produktion und der Bereitstellung technischer Geräte. Interdisziplinär wird der Mensch-Technik-Interaktion nachgegangen: Human- Technology-Interaction HTI. Es wird gefragt, wie sich Kooperation zwischen Mensch und Technik optimal vollzieht. Kritisch zu sehen sind ungewollte Folgen des Technik-Einsatzes. Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sind zu beachten. Die Rede ist von „Soziomaterialität: Selbstständige digitale Systeme SDS“ können Vorgänge optimieren, weil Software in der Anwendung lernt, es mithin „maschinelles Lernen“ ML gibt. Zwischen möglichen Wahlentscheidungen können SDS-Systeme die günstigsten Varianten autonom auswählen. Dies wird kritisch bei sozialen Tätigkeiten, kreativen Prozessen und solchen mit notwendiger persönlicher Expertise. Die Umweltsoziologie untersucht die Wechselwirkungen zwischen der Gesellschaft und ihrer natürlichen Umwelt. Es spielen hier hinein das Wirtschaften, soziale Strukturen, kulturelle Vorstellungen und politische Entscheidungen. Betrachtet werden politische Diskurse hinsichtlich der registrierten Umweltrisiken. Im Metabolie Rift wird die gesellschaftliche Einwirkung auf die Natur ergründet. Verzehr von Natur-Grundlagen wird entgegen gesetzt ausgeglichenes ökologisches Nachwachsen durch nachhaltiges Wirtschaften (etwa durch Solarpaneele, Emissionsreduktion, Ressourcen-Erhalt). Die Akteur-Netzwerk-Theorie ANT setzt auf die Kooperation von Menschen und von ihnen berücksichtigter Software mit Umwelt-Messdaten als gleichberechtigten, hybriden Partnern. So kann im Dreiklang Ökonomie-Ökologie-Soziales ein Gleichgewicht erreicht werden.
Im sechsten Abschnitt ihres Lehrbuchs „Soziologie“ resümieren die Autorinnen die Soziologie im Wandel anhand aktueller Veränderungs-Phänomene: Hierzu umschreiben sie demographische Entwicklungen wie alternde Gesellschaften, pluralere familiale und partnerschaftliche Verhaltensweisen mit Verkleinerung der Haushalte, technologischen Wandel in der Arbeitswelt mit zunehmender „entzaubernder“ Einbindung in technisch-digitale Gefüge, fortschreitende Urbanisierung und Migration mit Gefahren von Spaltung und Radikalisierung, neue Formen medialer Kommunikation mit Möglichkeiten, Online-Foren auch für die qualitative Forschung zu nutzen, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt, die sowohl die Überwachung der Erwerbstätigen erhöhen können wie deren Potenziale stärken können. So verbessern sich in progressiven Gesellschaften die Statuslagen ihrer Mitglieder, während sie sich in Ländern mit einfacher Dienstleistungs-Dominanz verschlechtern dürften. Insgesamt sehen die Autorinnen für SoziologInnen zur Deutung und Begleitung dieser Wandels-Phänomene gute Betätigungs-Chancen in Wissenschaft, Arbeitswelt und Organisationen.
Diskussion
Der neue „Soziologie“-Band von Wissenschaftlerinnen der Universität Hohenheim ist ein reichhaltiges, in seiner Konzentrierung nicht immer leicht lesbares Kompendium historischer und aktueller soziologischer Positionen. Sowohl herausragend überdauernde Lehrmeinungen wie die empirische Methodik werden gerafft dargestellt. In den summarischen Darstellungen der speziellen Teilgebiets-Soziologien im mit 90 Seiten quantitativ stärksten zweiten Aufbaumodul wird bei aller Aktualität von neuen Einflüssen durch Migration, sozialen Wandel und Technik-Einflüssen immer wieder die Brücke geschlagen zu soziologischen Klassikern wie Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel, George Herbert Mead, Erving Goffman oder Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Das macht das neue Lehrbuch attraktiv für eine in soziologischen Theorien bewanderte Leserschaft. Sie wird die auf Seite 22 behauptete „Gleichzeitigkeit“ der Mitteilungen von Max Weber und Karl Marx hinterfragen müssen, da Marx früher als Weber publizierte.
Ob es gleichermaßen für soziologische StudienanfängerInnen oder soziologische NebenfächlerInnen hilfreich ist, darf gefragt werden. Auch geht die didaktische Konzeption des Lehrbuchs mit einer konzentrierten, 20seitigen, schwer zu lesenden Einführung in die theoretische Soziologie im Basismodul 1 und der erst später im Aufbaumodul 1 erfolgenden Darstellung der soziologischen Klassiker nicht schlüssig pädagogisch vom Allgemeinen zum Besonderen, weil im Basismodul Begriffe verwendet werden, die erst im späteren Aufbaumodul schlüssig erhellt werden, wie zum Beispiel der Symbolische Interaktionismus (Seite 24 genannt und Seite 125 erläutert). Eine Darstellung im historischen Ablauf der Genese der Soziologie hat doch mehr für sich als das Vorschalten einer theoretischen Überschau vor die historische Einführung der Lehren.
Leider ist unter dem von den Verfasserinnen gebildeten Schwerpunkt der Einflüsse von neuen digitalen Techniken und Künstlicher Intelligenz auf die Arbeitswelt die Auslassung wesentlicher soziologischer Inhalte zu bemerken. So vermisst man leider eine Behandlung von unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Migration so wichtigen Erscheinungen wie Bildung von Subkulturen und Devianz. In der Darstellung der Spezial-Soziologien hätten die Kapitel Arbeits-, Wirtschafts- und Organisations-Soziologie zu einem Kapitel zusammen gefasst werden können, zumal die neuen technologischen Entwicklungen in allen drei Kapiteln behandelt werden; so wäre Raum gewonnen worden, um wichtige, ausgelassene Gebiete wie die Jugendsoziologie und die Politische Soziologie anzusprechen. Letztere mag sich zwar als Politikwissenschaft zu einem eigenständigen Fachgebiet entwickelt haben; Wahlforschung, Wahlanalysen und Wahlprognosen sind und bleiben aber ein genuin soziologisches Gebiet.
Insgesamt betont die Darstellung gerade auch mit den Systemtheorien das Funktionieren der Gesellschaft. Stimmige Bilder von Integration, Kohäsion, Entsprechung und disziplinierter Selbststeuerung dominieren. Angesichts zunehmender Radikalisierung, Rücksichtslosigkeit, von Übergriffen, Straßen- und sexueller Gewalt erscheint die Darstellung von Norbert Elias’ Figurationen mit der Selbstregulierung des Individuums ohne Relativierung zu einseitig. Hier macht sich das Auslassen der Behandlung von Dissozialität sowie des abweichenden Verhaltens doch nachteilig bemerkbar.
Auch die Darstellung des Kommunitarismus Amitai Etzionis sucht man in dem neuen Band vergebens. Obwohl er als Inklusions-Hilfe nach wie vor in Sozialer Arbeit ein probates Mittel zur Abhilfe bei Unterprivilegierung und Ausschließung ist. In der Darstellung der soziologischen Lehrmeinungen in Aufbaumodul 1 hätten im Anschluss an Pierre Bourdieu auch die Vorstellungen von Andreas Reckwitz mit seinem Zwang zur Kreativität des modernen Individuums Platz finden können, weil sich dieser Appell gut an die Erscheinungen von aus dem kulturellen Kapital fließenden Habitus angeschlossen hätte. Denn gerade Angehörige mittlerer Schichten driften auf den Ruf nach vermeintlicher individueller Autonomie gern über aufwändige Objekte, Techniken und Szenen in neue Abhängigkeiten, ohne dies zu realisieren. Reckwiz wird nur mit seiner Tendenz zur Singularisierung (Seite 163) erwähnt.
Mit Gewinn sind die empirischen Darstellungen von qualitativem und quantitativem Forschen in der Soziologie zu lesen. Forschungs-Schritte und -Instrumente sowie prüfende Kriterien werden eingängig und verständlich umrissen.
Die eingebrachten, erhellenden optischen Skizzen sind zwar instruktiv, typografisch aber meistens sehr klein gehalten und damit nicht leicht identifizierbar. Testfragen zur Wiederholung des Stoffes finden sich nur in großen Abständen am Ende der übergeordneten Kapitel, so auf Seiten 31, 55, 95, 156, 244 und 256. Diese Abstände sind für ein rekapitulierendes Wiederholen der komprimierten Stoffdarstellung gerade für Studierende zu groß. Die zu jedem Modul beigefügten Literaturlisten sind reichhaltig, Internetquellen werden keine genannt. Zur Organisationssoziologie vermisst wird die Nennung der dieses Gebiet wesentlich befruchtenden Renate Mayntz.
Fazit
Caroline Ruiner und Mona-Maria Bardmann legen ein modernes „Soziologie“-Lehrbuch vor, das vor allem den Auswirkungen des technologischen Wandels und der Digitalisierung auf die Arbeitswelt nachgeht. Diese Sicht in die Zukunft mit dem möglichen Dual erwerbstätiger Mensch und autonomes Techniksystem ist mit Gewinn zu lesen und öffnet Zukunftsblicke. Die gliedernde Aufteilung des Stoffes hätte gerafft werden können, um Platz für fehlende Inhalte (Jugendsoziologie, Subkultur, Devianz, Kommunitarismus) zu gewinnen.
Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Es gibt 105 Rezensionen von Kurt Witterstätter.
Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 26.09.2024 zu:
Caroline Ruiner, Mona Bardmann: Soziologie. Theorien, Methoden und Teildisziplinen. Wilhelm Fink Verlag
(München) 2024.
ISBN 978-3-8252-6073-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32466.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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