Rebecca Adami: Childism, Intersectionality and the Rights of the Child
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 24.04.2025

Rebecca Adami: Childism, Intersectionality and the Rights of the Child. The Myth of a Happy Childhood. Routledge (New York) 2024. 208 Seiten. ISBN 978-1-032-63619-1. 168,35 EUR.
Thema
Wenn wir von Kindern und Erwachsenen oder von Kindheit und (seltener) von Erwachsenheit sprechen, gebrauchen wir Begriffe, die aufeinander verweisen. Sie ergäben ohne den Gegenbegriff keinen Sinn. Doch in der gesellschaftlichen Realität, wie wir sie erleben und mitgestalten, handelt es sich nicht nur um eine Entsprechung oder einen Unterschied, sondern um ein Verhältnis der Ungleichheit, der Über- und Unterordnung. Erwachsene üben Macht über Kinder aus, die gut gemeint sein mag, aber für Kinder unangenehm ist und ihre Menschenwürde verletzen kann. Für dieses ungleiche Machtverhältnis hat sich im Deutschen der Begriff Adultismus eingebürgert, verstanden als Kritik an diesem Machtverhältnis. Im Englischen wird hierfür neben dem Begriff adultism zunehmend auch der Begriff childism verwendet, nicht immer in derselben Bedeutung. Im vorliegenden Buch wird er im Sinne von Vorurteilen gebraucht, die Kinder abwerten und verletzen. Wenn wir versuchen, ihn in diesem Sinne ins Deutsche zu übersetzen, könnten wir von Infantilismus sprechen (im Folgenden bleibe ich bei childism). Im Buch wird der Begriff in Beziehung gesetzt zu anderen Formen von Ungleichheit und Diskriminierung, die z.B. mit den Begriffen Rassismus, Sexismus oder (weniger üblich) Ableismus bezeichnet werden. Für diese Mehrdimensionalität von Ungleichheiten und ihre diskriminierenden Folgen für die betroffenen Menschen hat sich der Begriff intersectionality oder Intersektionalität eingebürgert. Dabei stellt sich auch die Frage, inwieweit durch diese ungleichen Machtverhältnisse die Menschenrechte, im Falle der Kinder die Kinderrechte, berührt und, so wird meist angenommen, auch verletzt werden.
Hintergrund und Autorin
Das hier zu rezensierende Buch knüpft an die englischsprachige Debatte über die Diskriminierung von Minderheiten oder sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen an. Insoweit Kinder in den Blick genommen werden, wird diese Debatte vor allem in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Kindheitsforschung, aber am Rande auch in den Rechtswissenschaften geführt. Die Autorin orientiert sich vor allem an einem Forschungsansatz, der zu Beginn der 2000er Jahre von der Psychotherapeutin Elizabeth Young-Bruehl in den USA begründet wurde. Sie hat in diesem Zusammenhang den Begriff childism aufgegriffen, der Mitte der 1970er Jahre von den Psychiatern Chester Pierce und Gail Allen eingeführt worden war. Diese hatten childism als die automatische Annahme der Überlegenheit eines Erwachsenen gegenüber einem Kind verstanden. In ähnlicher Weise verwendet Young-Bruehl diesen Begriff im Sinne von negativen Vorurteilen über Kinder und ihre Folgen für das kindliche Erleben.
Rebecca Adami, die Autorin des vorliegenden Buches, ist Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Stockholm. Ebenso ist sie als Forscherin am Centre for International Studies and Diplomacy der SOAS University of London tätig.
Zielsetzung des Buches
Die Autorin stellt ihr Buch anspruchsvoll als erste Studie vor, die das Konzept des childism umfassend entwickelt, um die altersbasierte Diskriminierung von Kindern zu analysieren. In ihren Worten: „Es präsentiert eine kritische Theorie, die dabei helfen soll, sich überschneidende Vorurteile gegenüber Kindern zu verstehen und die schwache Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte des Kindes zu untersuchen sowie zu analysieren, auf welche Weise Übergriffe gegen Kinder durch die Überschneidungen von rassistischer, sexistischer und ableistischer Diskriminierung analysiert werden können. Das Buch bietet Wissenschaftler*innen außerdem eine neue Perspektive bei der Untersuchung struktureller Formen von Diskriminierung und Unterdrückung von Kindern und stellt Fachleuten ein neues Vokabular für Vorurteile gegenüber Kindern zur Verfügung, wenn sie Theorien, Richtlinien und Praktiken für ‚kinderfreundliche‘ und ‚kindgerechte‘ Initiativen bewerten, die die Notwendigkeit des Schutzes von Kindern vor Diskriminierung übersehen.“ (Einführung)
Ihrem Buch stellt die Autorin die Widmung voran: „To every child who did not make it through childhood”, was etwa so übersetzt werden könnte: „An jedes Kind, das es nicht durch die Kindheit geschafft hat.“
Inhalt und Aufbau
Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert. In Kapitel 1 („Critical child rights theory: Power, discrimination, and epistemic injustice”) geht die Autorin im Sinne einer kritischen Kinderrechtsforschung den Gründen nach, warum die UN-Kinderrechtskonvention bisher kaum – vor allem nicht bei sozial benachteiligten Kindern – umgesetzt wurde. Dabei richtet sie den Fokus auf die immanenten Widersprüche oder Paradoxien der Kinderrechte. Die den Kindern versprochene Gleichheit vor dem Gesetz kämen ihnen am Ende nur in ungleicher Weise zugute. Sie sieht dies vor allem in der ungleichen politischen Macht zwischen Erwachsenen und Kindern und der Nichtbeachtung oder dem „epistemischen Unrecht“ gegenüber den Kindern begründet.
In diesem Kapitel stellt die Autorin auch dar, wie sie die Begriffe adultism und childism versteht. Ihr zufolge ist adultism „die Machtstruktur, durch die Erwachsene eine unterdrückende Macht über Kinder ausüben“ (S. 13). Diese werde durch childism aufrechterhalten: „Childism bezieht sich im weiteren Sinne auf altersbezogene Vorurteile, Diskriminierung oder Feindseligkeit gegenüber Menschen im Alter von 0 bis 18 Jahren, die auf der Überzeugung beruht, dass Erwachsene überlegen sind. Childism charakterisiert Kinder als Personen, die nicht über die Fähigkeiten von Erwachsenen verfügen und Erwachsenen mit solchen Fähigkeiten unterlegen sind. Auf dieser Grundlage werden Kindern bestimmte wahrgenommene Fähigkeiten, Fertigkeiten oder Charaktereigenschaften zugeschrieben oder abgesprochen. Childism basiert auf dem Glauben, dass die diskriminierende Behandlung von Kindern gerechtfertigt ist, da diese als den Interessen von Erwachsenen dienend und nicht als Menschen mit eigenen Interessen und Rechten angesehen werden. Das entsprechende Verhalten besteht in paternalistischen Eingriffen von Erwachsenen, die Kindern psychischen und physischen Schaden zufügen. Dieser Diskurs bezieht sich auf Handlungen sowie auf schriftliche oder mündliche Äußerungen, die Kinder zu bloßen Instrumenten oder Bürden für Erwachsene degradieren (anstatt sie für ihre eigenen Verdienste zu schätzen), wodurch das Selbstwertgefühl der Kinder beeinträchtigt wird.“ (S. 13). Hierbei betont die Autorin, dass childism durchaus „wohlwollend“ gemeint sein könne (benevolent childism).
In Kapitel 2 („Childism: To study the unbearable in the everyday”) stellt die Autorin anhand von Beispielen aus dem täglichen Leben von Kindern dar, wie sie durch verschiedene Arten von Vorurteilen behindert werden und leiden. Insbesondere setzt sie sich kritisch mit Interpretationen und Anwendungen der UN-Kinderrechtskonvention auseinander, die nur auf der Sichtweise von Erwachsenen beruhen, wie dem restriktiven Verständnis des Prinzips der „evolving capacities“ oder der unzureichenden Beteiligung von Kindern bei Gerichtsverfahren und der Gesetzgebung, also auch der Verweigerung des Wahlrechts. Ebenso erläutert sie in diesem Kapitel ihr Verständnis von intersektionaler Analyse als unabdingbarer Basis einer Theorie von Adultismus und childism.
Die drei folgenden Kapitel sind drei wesentlichen Säulen der intersektionalen Analyse gewidmet. In Kapitel 3 („Childism and racism intersecting: On a perceived natural inequality”) verdeutlicht die Autorin, dass Kinder unter sehr verschiedenen Bedingungen aufwachsen, und widmet sich insbesondere der sozialen Benachteiligung und Diskriminierung von „children of color“. In Kapitel 4 („Childism and sexism intersecting: On emancipation versus protection”) setzt sie sich mit der Verharmlosung und Entpolitisierung häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch von Kindern auseinander. Ebenso entwickelt sie hier ihr Konzept einer transformativen Kindergerechtigkeit („child-equity“ und „transformative equality“), das über eine bloß formale Altersgleichstellung („age equality“) hinausweist. In Kapitel 5 („Childism and ableism intersecting: On a perceived lack of abilities“) setzt sich die Autorin damit auseinander, wie die Einstufung von Kindern als „behindert“ und der Umgang mit ihnen auf fragwürdigen Vorstellungen von Entwicklung und Normalität („normativity“) beruht und von Erwachsenen mit Macht durchgesetzt wird.
In Kapitel 6 („Challenging adultism“) greift die Autorin zwei zentrale Postulate der UN-Kinderrechtskonvention auf: erstens, wie dem „best interest of the child“ (im Deutschen meist mit „Kindeswohl“ übersetzt) gerecht zu werden ist; zweitens, wie „das Recht, gehört zu werden“, so umzusetzen ist, dass Kinder tatsächlich nennenswerten Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnen. In ihrer Auseinandersetzung mit der bisher eher von den Interessen Erwachsener bestimmten Umsetzung dieser Postulate entwickelt die Autorin einige Überlegungen zur Partizipation, die über Scheinbeteiligung („tokenism“) hinausgeht, repräsentativ ist und tatsächlich den Interessen der Kinder entspricht.
In Kapitel 7 („Justice in childhood“) widmet sich die Autorin sowohl der Frage intragenerationaler als auch intergenerationaler Gerechtigkeit. Sie präsentiert einige praktische Vorschläge, wie das Gewicht von Kindern gegenüber der Macht von Erwachsenen im Sinne von „age equality“ gestärkt und die Interessen künftiger Generationen bei politischen Entscheidungen eher zum Zuge kommen könnten.
Im abschließenden, recht kurz geratenen Kapitel 8 („Discussion: Anti-childist policy and practice“) reflektiert die Autorin darüber, wie die wichtigsten Menschenrechtskonventionen mit Blick auf Kinder intersektional gelesen und welche Maßnahmen gegen die vielfältige Diskriminierung von Kindern ergriffen werden könnten.
Das Buch wird mit einem Glossar zu den wichtigsten Begriffen und einem Index zu den angesprochenen Themen und Personen abgeschlossen.
Diskussion
Altersbasierte Diskriminierung von Kindern ist bisher ein vernachlässigtes Thema, in den Kindheitswissenschaften fast ebenso wie in der Öffentlichkeit und Politik. Im deutschen Sprachraum wird das Problem erst in jüngster Zeit in einigen Publikationen aufgegriffen, die meist auf den Begriff des Adultismus zurückgreifen (siehe https://www.socialnet.de/rezensionen/30384.php; https://kinderrechte-konkret.de/jugend/was-ist-adultismus/deutsch/)
Es ist ein Verdienst des Buches von Rebecca Adami, die Diskussion des Problems altersbasierter Diskriminierung mit einer intersektionalen Perspektive zu verbinden. Dadurch wird die Komplexität der von Kindern erfahrenen Diskriminierung sichtbar, hinsichtlich ihrer Gründe ebenso wie hinsichtlich ihrer gravierenden Folgen. Es wird so auch sichtbar, dass nicht alle Kinder von dieser Diskriminierung in gleicher Weise betroffen sind, sondern vor allem diejenigen Kinder, die ohnehin schon sozial benachteiligt und besonders marginalisiert sind. Klassenspezifische Gründe von Diskriminierung werden zwar in ihrem Verständnis von Intersektionalität nur am Rande berücksichtigt, aber zurecht beklagt die Autorin, dass für den Schutz der vielfältig benachteiligten Kinder vor Diskriminierung zu wenig getan wird.
Das Buch macht verdienstvollerweise auch auf Mängel und Ungereimtheiten des Diskurses und der Praxis der Kinderrechte aufmerksam. Die UN-Kinderrechtskonvention hat zwar seit ihrer Verabschiedung im Jahr 1989 dazu beigetragen, für das an Kindern begangene Unrecht zu sensibilisieren, und manche Initiativen zur Verbesserung ihrer Situation angeregt, aber es wird noch immer wenig bedacht, dass die in dieser Konvention verankerten Kinderrechte weitgehend ein Konstrukt in den Händen von Erwachsenen geblieben sind. In ihrer Rechtsanalyse setzt sich Rebecca Adami vor allem mit dem liberalen Rechtskonstrukt „formaler Gleichheit“ auseinander, welches die altersspezifischen Besonderheiten von Kindern zu wenig berücksichtigt, und entwickelt als Alternative ein Konzept von „substanzieller Gleichheit“, um Kindern zu ermöglichen, ihre Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Indem sie ihre intersektionalen Analysen mit konkreten Beispielen aus dem Leben vielfach diskriminierter Kinder belegt, gewinnt ihre Rechtskritik zusätzlich an Plausibilität.
Die Frage, warum sich Adultismus bzw. altersbasierte Diskriminierung von Kindern auch in den „modernen“ Gesellschaften, die sich als aufgeklärt und demokratisch verstehen, so hartnäckig hält, findet in dem Buch meines Erachtens keine befriedigende Antwort. Wenn die Autorin dazu im Sinne ihres Verständnisses von childism auf das Fortbestehen von Vorurteilen verweist, stellt sich die Frage, ob diese Vorurteile nicht selbst in den Strukturen und Reproduktionsmechanismen einer Gesellschaft begründet sind, die auf Ausbeutung und Verwertung und somit auch auf Abwertung und Beherrschung der Menschen basiert. Es wäre also notwendig, über eine psychologische, auf persönliche Einstellungen und Beziehungen begrenzte Perspektive hinauszugehen und größere strukturelle Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Das ist sicher leichter gesagt als getan, aber unverzichtbar, wenn den miteinander verschränkten Formen der Diskriminierung und der Gewalt gegen Kinder dauerhaft der Boden entzogen werden soll.
Die Autorin sagt dem Adultismus den Kampf an und will ihn in allen seinen Erscheinungsformen aus der Welt schaffen. Am Ende des Buches macht sie dafür einige konkrete Vorschläge, die sogar bis zur Schaffung bestimmter Institutionen und die Finanzierung von Maßnahmen reichen. Doch obwohl sie auf das Beispiel eines 10-jährigen Jungen in Kanada verweist, der mit seinen Schulkameraden eine Organisation zur „Befreiung der Kinder“ („Free the Children“) gegründet hatte, bleibt die mögliche Rolle junger Menschen bei der Überwindung des Adultismus unterbelichtet. Dies liegt meines Erachtens daran, dass die Autorin trotz ihrer Versicherung, Kinder nicht als „passive Opfer“ ihrer Lebensumstände zu verstehen (S. 29), dazu neigt, die Handlungsfähigkeit und -motivation junger Menschen zu unterschätzen, und sich nur selbst als Wissenschaftlerin zutraut, mögliche Auswege aufzuzeigen.
Fazit
Rebecca Adami hat eine Studie vorgelegt, die eindrucksvoll darlegt, wie das komplexe System der Macht über Kinder die Kindheit zur Qual machen kann. Sie hat auch plausibel gezeigt, dass die Kinderrechte nur dann ein Instrument zur Befreiung von Diskriminierung sein können, wenn ihre Begrenzungen und Widersprüche bedacht werden und vor allem Kinder selbst über sie verfügen können. Allerdings bleibt die Frage offen, wie der Reproduktion des Adultismus strukturell der Boden entzogen und welche Rolle die jungen Menschen dabei einnehmen können, die von Diskriminierung und Gewalt besonders betroffen sind.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Prof. a.D. für Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Unabhängiger Kindheits- und Kinderrechtsforscher
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