Anna Karger-Kroll, Lars Schäfers (Hrsg.): Gerechte Rente
Rezensiert von Prof. Dr. Josef Schmid, 30.01.2025

Anna Karger-Kroll, Lars Schäfers (Hrsg.): Gerechte Rente. Sozialethische Perspektiven einer interdisziplinären Sondierung der Alterssicherung.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2024.
338 Seiten.
ISBN 978-3-7560-1712-6.
59,00 EUR.
Reihe: Ethik in den Sozialwissenschaften - Band 5.
Thema
Die Rente ist für die meisten Menschen von existenzieller Wichtigkeit, zugleich wird sie derzeit durch mehrere Probleme einem Belastungstest unterzogen. Im politischen Raum werden verschiedene Lösungen diskutiert, die oft andersgeartete Interessen repräsentieren, von bestimmten ökonomischen Modellen ausgehen – oder aber von unterschiedlichen ethischen Überlegungen getragen werden. Was ist eine gerechte Rente? Das ist die Ausgangsfrage des Bandes an dem sowohl Sozialethiker als auch sozialwissenschaftliche Rentenexperten mitgearbeitet haben.
Aufbau und Inhalt
Der Band gliedert sich in fünf Bereiche und umfasst mit Vor- und Nachwort 18 Beiträge. Mit Florian Blank und Franz Ruland stellen zwei Rentenfachleute das Alterssicherungssystem, dessen wichtige Strukturelemente und Herausforderungen dar. Wichtig ist der Wechsel zu einer „einnahmeorientierten Ausgabenpolitik“, die dann verschiedene Kürzungen und Leistungsminderungen zufolge hatte, was in den vergangenen Jahren etwas relativiert wurde. Aber: „Eine echte Abkehr von den zuvor getroffenen Entscheidungen steht nicht an“(Blank; S. 45). Die Rentenversicherung stellt eine verpflichtende Vorsorge dar, die typische Bedarfe im Alter, aber nicht Bedürftigkeit absichert (Ruland; S. 62). Und sie verfolgt das Prinzip der Beitragsäquivalenz, d.h. Auszahlungen entsprechen Einzahlungen. Neben Beiträgen erfolgen Zuschüsse aus dem steuerfinanzierten Bundeshaushalt, die versicherungsfremde Leistungen ausgleichen sollen.
Hinter dieser Systemarchitektur stecken grundlegende normative Überlegungen –manchmal jedoch hat sich die philosophische Theorie weit von der „Realität des Sozialstaats“ entfernt. (23). So selbstkritisch Bernd Küppers. Gleichwohl bleiben einige wichtige Erkenntnisse relevant: etwa das Prinzip von Rawls, dass Regelungen den am wenigsten Begünstigten den größten Vorteil bringen sollten (S. 25). Oder: Zwar ist Gleichheit ein wichtiges Thema für sozialethische Debatten, allerdings ist es nicht das Ziel des Sozialstaats (S. 31). Auch nicht jede Form von Rückbau ist von vorneherein normativ negativ zu bewerten, dann sie kann auch im Einklang mit dem Gemeinwohl stehen, wenn sich die Umstände erheblich verändert haben (S. 37). Gerade aber, wenn die Ressourcen knapp werden, ist es zentral, Prioritäten zu setzen und sich dabei an sozialpolitischen Zielen und ethischen Überlegungen zu orientieren.
Anna Karger-Kroll sondiert das System der Alterssicherung nach Aspekten der Gleichheit, Ungleichheit und Gerechtigkeit unter Berücksichtigung der Vielzahl realer Lebenssituation. Ähnlich identifiziert Andreas Lob-Hüdepohl eine ganze Reihe von „Gerechtigkeitsdimensionen“ der Alterssicherung (S. 135).
Obgleich nicht das primäre Ziel der Alterssicherung, stellt die Vermeidung von Armut eine wachsende Herausforderung dar. Für Gerhard Bäcker stehen zwei Ziele im Vordergrund:
- ältere Menschen sollen nicht als materieller Not herausarbeiten müssen oder von Zuwendungen ihrer Kinder abhängig sein.
- Der nach einem langen Erwerbsleben erreichte Lebensstandard soll auch in der nachberufliche Lebensphase beibehalten werden können (S. 95).
Dabei sind sowohl Armut wie auch Lebensstandard nicht einfach zu definierende oder zu messende Sachverhalte. Des Weiteren kommt hinzu, dass die Rente aus ihrer Funktionslogik heraus nicht primär zur Armutsvermeidung konzipiert ist. Das hat sich mit der Einführung der Grundrente im Jahr 2021 (S. 112) geändert, aber auch diese Regelung hat Schattenseiten und Defizite, u.a. weil die Zahlung einer hohen Mindestrente die Balance zwischen Äquivalenz- und Solidaritätsprinzip zerstören würde (S. 118).
Georg Krämer verweist auf die unterschiedlichen Zuständigkeiten von Rentenversicherung und Sozialhilfe bzw. die jeweilige Rolle von Äquivalenz und Bedürftigkeit. Letzteres ist freilich nicht einfach aus der Rentenhöhe abzulesen, weil häufig andere Einkommen eine wichtige Rolle spielen. Wichtig ist allerdings der folgende Aspekt:
„Der Kollateralschaden der Debatte zur Grundrente, so wie sie im Vorfeld ihrer Einführung geführt wurde, ist die weitere Diskreditierung der Grundsicherung im Alter und damit das System der Sozialhilfe" (S. 128).
Johannes Steffen nimmt diesen Gedanken empirisch auf und belegt die hohe systemische Verschmelzung der beiden Systeme, was auch als Diffusionsniveau bezeichnet wird (S. 160 f.). Dabei werden oft ähnliche Sachverhalte unterschiedlich – oder ungerecht? – geregelt.
Um den Lebensstandard zu sichern, wird seit der Jahrtausendwende ergänzend auf die Rolle der betrieblichen Altersvorsorge sowie auf die Vermögensbildung und die private Vorsorge verwiesen. Sowohl Andreas Jansen als auch Lars Schäfers sehen die Leistungsfähigkeit dieser Instrumente als äußerst begrenzt an, wobei letzterer im Lichte der der christlichen Soziallehre durchaus Potenziale sieht.
Die Alterssicherung funktioniert bekanntlich nicht wie eine Spardose, sondern nach dem Modell des Generationenvertrags, wonach die arbeitende Generation für die Rentner aufkommt. Im Zuge des demografischen Wandels haben sich nicht nur die zahlenmäßigen Relationen verschoben, sondern auch die sozialpolitischen Diskurse. Mittlerweile geht es um die Frage „Solidarität oder Renditegleichheit“ (Antonio Brettschneider, S. 205). Das Problem verschärft sich, wenn die Kinder (der arbeitenden Generation) mit in Betracht gezogen werden und quasi zum Äquivalent von Geld werden (Elisabeth Zschiedrich). „Denn das wahre <Generationenkapital> wird nicht an der Börse, sondern in der Familie gebildet“. So pointiert Christoph Mandry (S. 332). Zugleich korreliert das stark mit der Frage der Geschlechtergerechtigkeit (Dina Frommert) sowie mit dem Wandel der Lebensformen, vor allem dem Armutsrisiko geschiedener und lediger Frauen sowie der ungeklärten Versorgung in nicht-ehelichen Gemeinschaften (Michaela Kreyenfeld u.a., S. 273, 276). Und:
„Das Risiko, im Alter nur eine niedrige Rente zu erhalten, wird zentral durch die Entwicklung und Struktur des Arbeitsmarktes bestimmt Punkt" (Jutta Schmitz-Kießler, S. 284).
Man denke in diesem Zusammenhang etwa an prekäre oder scheinselbstständige Jobs. Dabei kann ein Recht auf Arbeit nur ein ethisches Postulat bleiben und eine gewisse „Orientierungsfunktion“ für mehr Beteiligungsgerechtigkeit entfalten (Ursula Nothelle-Wildfeuer, S. 313).
Abschließend hält Christoph Mandy fest, dass die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Renten häufig (zu) situativ und kleinteilig verlaufen, und „eine grundlegende Debatte über Ziele, Grundsätze und die langfristige Nachhaltigkeit nicht nur in der Rentenfinanzierung, sondern auch in ihrer Abstimmung mit weiteren Feldern der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik“ sehr selten stattfindet (S. 323). Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Alterssicherungssystem einem sehr langfristigen Zeithorizont unterliegt, also etwa 40 oder 50 Jahre umfasst (Diana Frommert, S. 260).
Diskussion
In Zeiten, in denen die Rente als unsicher gilt, Lösungen politisch kontrovers diskutiert und die ökonomischen Probleme sowohl der Finanzierung der Alterssicherung als auch der Volkswirtschaft insgesamt groß sind, kann eine „interdisziplinäre Sondierung“ nur hilfreich sein. Das gilt besonders im Hinblick auf eine oft inflationäre Verwendung von „(Un-)Gerechtigkeit“. Offensichtlich ist es damit bei einer seriösen sozialethischen Begründung nicht so einfach, und Kriterien und Prinzipien sind ähnlich vielfältig wie die empirischen Befunde über Leistungen und Defizite sowie institutionelle Strukturen der Alterssicherung. Insofern sind auch keine oder nur wenige konkrete Handlungsempfehlungen zu finden. Sicherlich gibt es interessante Anregungen, aber keine Königswege, etwa zu den Themen Armut sowie Kinder und Frauen.
Was – wie so oft – auch in diesem Band nicht behandelt wird, sind zwei „heiße Eisen“, nämlich Rente und Migration sowie die Beamtenversorgung.
Fazit
Das Buch gibt einen Überblick zum Thema Rente – zu deren Leistungen, Defiziten und normativen Prinzipien – aus verschiedenen sozialethischen und sozialpolitischen Perspektiven. Die meisten Beiträge sind verständlich geschrieben, allerdings gibt es auch einige Redundanzen. Aber insgesamt wird die Komplexität der Materie gut wiedergegeben.
Literatur
Josef Schmid. Rezension vom 23.06.2020 zu: Tim Köhler-Rama: Das Rentensystem verstehen. Einführung in die Politische Ökonomie der Alterssicherung. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2020. ISBN 978-3-7344-0961-5 [Rezension bei socialnet]. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26724.php.
Rezension von
Prof. Dr. Josef Schmid
Professor a.D. für Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse an der Universität Tübingen, lehrt und forscht über Wohlfahrtsstaaten, Arbeitsmarktpolitik und Bürgerschaftliches Engagement in den Bundesländern. Er war 2010-2022 hauptamtlicher Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.
Website
Mailformular
Es gibt 21 Rezensionen von Josef Schmid.