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Katarina Schneider-Bertan: Kritische Pädagogik im 21. Jahrhundert

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 26.08.2024

Cover Katarina Schneider-Bertan: Kritische Pädagogik im 21. Jahrhundert ISBN 978-3-8376-7400-2

Katarina Schneider-Bertan: Kritische Pädagogik im 21. Jahrhundert. Zur Aktualität von Henry A. Giroux´ »Critical Pedagogy«. transcript (Bielefeld) 2024. 366 Seiten. ISBN 978-3-8376-7400-2. D: 49,00 EUR, A: 49,00 EUR, CH: 59,80 sFr.
Reihe: Pädagogik.

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Thema

Das Ziel dieser Arbeit ist es, das Werk von Henry A. Giroux, einem zentralen Vertreter der Critical Pedagogy, insbesondere in den USA und Kanada, umfassend zu analysieren und für die deutschsprachige Diskussion fruchtbar zu machen. Dabei wird untersucht, wie Giroux' Ansätze, die an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und das Demokratieverständnis Deweys anknüpfen, durch den interaktionistischen Konstruktivismus erweitert werden können. Die Arbeit verfolgt das Ziel, die Verbindungen zwischen Giroux' Critical Pedagogy und den Cultural sowie Postcolonial Studies herauszuarbeiten, um die Rolle von Macht, Hegemonie und Bildung in gesellschaftlichen Kontexten zu beleuchten. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Frage, wie Giroux' Forderungen nach radikaler Demokratie in aktuellen gesellschaftlichen Debatten relevant bleiben können. Abschließend werden Ansätze entwickelt, wie auf Herausforderungen wie Neoliberalismus und Populismus reagiert werden kann.

Autorin

Katarina Schneider-Bertan (Dr. phil.), Jahrgang 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Internationale Beziehungen der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Ihre Forschung und Lehre im Department für Erziehungs- und Sozialwissenschaften konzentrieren sich auf kritische Pädagogik, Cultural und Postcolonial Studies, radikale Demokratietheorie sowie konstruktivistische Pädagogik. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ihre Dissertation, die im Dezember 2023 von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert, die systematisch die theoretischen Grundlagen, die historische Entwicklung und die spezifischen Ansätze von Henry A. Giroux’ Critical Pedagogy untersuchen und diese in den Kontext der deutschsprachigen Diskussion stellen.

Teil I der Arbeit stellt die Grundlagen der interaktionistisch-konstruktivistischen Pädagogik und Didaktik vor, wobei ein konstruktivistisches Kulturverständnis entwickelt wird, das auf radikale Demokratie abzielt. Der interaktionistische Konstruktivismus, wie von Kersten Reich entwickelt, versteht sich als sozial-kultureller Ansatz, der die Rollen von Beobachter*in, Akteur*in undTeilnehmer*in sozialen Kontexten beleuchtet. Er grenzt sich von zu stark subjektivistisch orientierten Konstruktivismen ab, indem er Wissen als soziale Konstruktion versteht und eine explizite Beobachtertheorie formuliert, die den/die Beobachter*in als variable Größe reflektiert. Damit wird sowohl einer Überbewertung subjektiver Erkenntnis als auch einer unhinterfragten Beobachterwirklichkeit der Moderne eine Absage erteilt (S. 43). Reichs Theorie betont die dynamische Natur von Wirklichkeit und Diskursen, die durch Prozesse der Konstruktion, Dekonstruktion und Rekonstruktion geformt werden. Der Ansatz integriert verschiedene konstruktivistische Strömungen, darunter Jean Piagets subjektivistische Psychologie und Lev Wygotskis sozial-kulturelle Theorie. Außerdem wird der radikale Konstruktivismus, der methodische Konstruktivismus und John Deweys Pragmatismus aufgegriffen. Reichs interaktionistischer Konstruktivismus unterscheidet sich durch seine transdisziplinäre Offenheit und betont die Bedeutung kultureller Kontextualisierung. Die Arbeit analysiert schließlich, wie dieser Ansatz die Herausforderungen der Postmoderne und der sozialwissenschaftlichen Analysen adressiert.

Teil II beleuchtet die Entstehung der Critical Pedagogy und die theoretischen Diskurse, die sie geprägt haben. Besonders Henry A. Giroux gilt als Hauptbegründer, der den Ansatz in den 1980er Jahren in den USA systematisierte, inspiriert durch die Befreiungspädagogik Paulo Freires, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und die Cultural Studies. Giroux sah Bildung als politischen Akt und betonte die Rolle von Schule und Pädagogik in der Demokratisierung der Gesellschaft. Er verband pädagogische Praxis mit kulturellen und politischen Analysen, um Machtstrukturen zu hinterfragen und Emanzipation zu fördern. Giroux’ Werk steht in einer Tradition, die Pädagogik als Mittel zur Ermächtigung Marginalisierter und zur Schaffung einer radikalen Demokratie betrachtet. Im Zentrum der Critical Pedagogy steht die Politisierung von Bildung und die Notwendigkeit, hegemoniale Ideologien zu dekonstruieren, um eine gerechtere Gesellschaft zu ermöglichen.

Im Rahmen der Rezeption von Henry A. Giroux werden zunächst die Einflüsse der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule auf seine frühe Arbeit beleuchtet. Im Anschluss wird seine Auseinandersetzung mit Paulo Freire und den Cultural Studies, ergänzt durch postkoloniale Perspektiven, analysiert. Abschließend wird die Wirkung der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe sowie der Arbeiten von Habermas und Bauman auf Giroux’ Konzept der Critical Pedagogy betrachtet, wobei jedes Kapitel die Rezeption und den Einfluss auf diese pädagogische Richtung diskutiert.

Teil III der Arbeit beschäftigt sich mit der Theorie und Praxis der Critical Pedagogy. Er ist in drei Kapitel gegliedert, die die Entwicklung und die zentralen Themen von Henry Giroux' Ansatz untersuchen. Im ersten Kapitel, das sich mit der Entwicklung von Giroux' Theorien zur Rolle der Schule und deren gesellschaftlicher Kontext beschäftigt, wird der Übergang von der Theorie der Reproduktion zur Theorie des Widerstands kritisch reflektiert. Die interaktionistisch-konstruktivistische Interpretation analysiert, wie Giroux’ Konzepte in Bezug auf die Herausforderungen der Moderne und Postmoderne die Verknüpfung von Erziehung und sozialen Veränderungen neu gestalten. Im zweiten Kapitel, das die Pädagogik als Kulturpolitik untersucht, schließt die Interpretation mit einer Betrachtung darüber ab, wie Giroux’ Theorien zur Repräsentation und öffentlichen Bildungspolitik im Kontext interaktionistisch-konstruktivistischer Perspektiven wirken. Diese Perspektive beleuchtet die Interaktionen zwischen pädagogischen Praktiken und kulturellen sowie politischen Kontexten und ihre Auswirkungen auf gesellschaftliche Strukturen. Das dritte Kapitel, das sich der Kritik am Neokonservatismus und Neoliberalismus sowie den Herausforderungen durch (Rechts-)Populismus und Neonationalismus widmet, endet mit einer interaktionistisch-konstruktivistischen Analyse der politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf Giroux' Theorien. Diese Interpretation stellt dar, wie Giroux’ Ansätze zur Bewältigung aktueller politischer Herausforderungen beitragen können und reflektiert die möglichen Implikationen für die Critical Pedagogy. Am Ende jedes Kapitels in Teil III wird eine interaktionistisch-konstruktivistische Interpretation vorgenommen. Diese Auswertung bietet eine vertiefte Analyse von Giroux' Ansätzen im Lichte des interaktionistischen Konstruktivismus.

Teil IV greift die Forderungen nach radikaler Demokratie auf, die in der Arbeit formuliert wurden. Die durchgängige Forderung nach radikaler Demokratie – implizit in den Arbeiten der Cultural Studies und des Postkolonialismus sowie explizit in den Theorien des interaktionistischen Konstruktivismus und der Critical Pedagogy – wird im Folgenden dezidiert behandelt. Zunächst werden retrospektiv die Arbeiten von John Dewey betrachtet, die eine zentrale Tradition für eine Pädagogik der radikalen Demokratie darstellen. Im Anschluss wird das Konzept der Postdemokratie von Colin Crouch sowie die radikaldemokratischen Theorien, insbesondere von Chantal Mouffe, diskutiert. Der Fokus liegt darauf, wie diese Konzepte auf die aktuellen Herausforderungen von Neoliberalismus, Populismus und Nationalismus angewendet werden können. Jedes Kapitel endet mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Entwicklungen bei Giroux und deren Verknüpfung mit dem interaktionistischen Konstruktivismus.

Die Arbeit schließt mit fünf Thesen ab, die die wesentlichen Ergebnisse zusammenfassen und die zentrale Bedeutung von Henry Giroux’ Ansatz sowie mögliche Weiterentwicklungen für die Critical Pedagogy und den interaktionistischen Konstruktivismus herausstellen. Zunächst wird betont, dass die Auseinandersetzung mit Kultur, Politik und Erziehung in postmodernen Gesellschaften ein komplexes Verständnis von Kultur und Gesellschaft erfordert. Dies umfasst die Berücksichtigung von Pluralität, Diversität und Ambivalenz sowie die Fähigkeit, historische und kontextuelle Phänomene umfassend zu analysieren. Giroux’ Ansatz, der sich aus dem Cultural Turn ableitet, hebt die Relevanz von Sprache und Diskurs hervor, um die Konstruktion von Bedeutung und Machtverhältnissen zu verstehen und zu dekonstruieren. Im Zentrum seiner kritischen Pädagogik steht die Politisierung von Bildungsprozessen, die durch das Verständnis von Erziehung als kulturelle und politische Praxis ergänzt wird. Der interaktionistische Konstruktivismus, der auf poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Theorien basiert, wird als fruchtbare Metatheorie betrachtet, die Giroux’ Critical Pedagogy perspektivisch erweitern kann. Schließlich wird die Notwendigkeit betont, Bildung und Erziehung als politische Kräfte zu begreifen und sie in die Demokratisierung der Gesellschaft einzubinden, um soziale Ungleichheiten und andere zeitgenössische Herausforderungen zu adressieren. Die Analyse zeigt, dass beide Ansätze voneinander profitieren können, indem sie ihre Perspektiven auf die Re-/De-/Konstruktion von Wissen und Identität vereinen und so eine kritisch-konstruktivistische Pädagogik radikaler Demokratie fördern.

Diskussion

Die vorliegende Arbeit stellt eine beeindruckend umfassende Auseinandersetzung mit den Theorien einer kritischen Pädagogik dar, die zweifelsohne hohe Relevanz für die Pädagogik und damit auch für die Demokratie besitzt. Denn zentral für eine kritische Pädagogik ist die Notwendigkeit, das Pädagogische politischer und das Politische pädagogischer zu gestalten (Giroux/​Freire 1988).

Kritisch anzumerken ist jedoch, dass die Arbeit an einigen Stellen durch Redundanzen gekennzeichnet ist, insbesondere durch wiederholte zusammenfassende Ausblicke auf die nachfolgenden Argumente. Auch der rote Faden der Arbeit geht m.E. in einigen Bereichen verloren. Leser*innen, die eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Giroux’ Ideen erwarten, könnten sich in den umfangreichen theoretischen Ausführungen zum interaktionistischen Konstruktivismus und den detaillierten Erörterungen der Bezugsdiskurse der Critical Pedagogy und der Cultural Studies etwas verlieren. Diese Abschnitte wirken teils wie lexikalische Exkurse. Erst in den letzten Abschnitten der Kapitel wird eine systematische Verknüpfung zwischen dem interaktionistischen Konstruktivismus und Giroux’ Theorien sowie den entsprechenden Diskursen hergestellt. Mein Leseeindruck war es, dass die Arbeit vor allem auch darauf abzielt, die Diskurslinie des interaktionistischen Konstruktivismus mit den Ideen von Giroux zu verbinden. Hierbei wird jedoch nicht etwa eine produktive Differenz herauszuarbeitet, aus der heraus etwas Neues entwickelt werden könnten. Stattdessen werden die Ansätze komplementär zusammen gedacht.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die methodische Umsetzung von Giroux’ kritischer Pädagogik. Obwohl anschauliche Beispiele, die aus Giroux Arbeiten stammen, wie die Interpretation des Films ‚Club der Toten Dichter‘ verwendet werden, um die praktische Relevanz der kritischen Pädagogik zu verdeutlichen, wird die bei Giroux bemängelte Auslassung konkreter Handlungsanweisungen für die Umsetzung seines Bildungskonzepts nicht wirklich weiterverfolgt. Stattdessen wird (lediglich) auf den interaktionistischen Konstruktivismus verwiesen, der vielfältige Perspektiven und Methoden biete und auf dessen Grundlage didaktische Umsetzungs- und Anwendungsmöglichkeiten entwickelt werden könnten. Diese Bezugnahme lässt eine detaillierte Auseinandersetzung mit den praktischen Herausforderungen der kritischen Pädagogik vermissen, die insbesondere für Praktiker*innen von Bedeutung sein könnte.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Arbeit eine wertvolle und umfassende Auseinandersetzung mit den Theorien der kritischen Pädagogik bietet und wichtige Impulse für die pädagogische Theorie liefert. Eine klarere Strukturierung und eine detailliertere Auseinandersetzung mit der praktischen Umsetzung würden die Lektüre vereinfachen und zugleich einen (impliziten) Ausblick aufzeigen, wie auf der Grundlage des Bandes weitere theoretische und auch empirische Forschungen anschließen können.

Fazit

Die Arbeit stellt eine beeindruckende und umfassende Auseinandersetzung mit den Theorien der kritischen Pädagogik dar und hebt deren bedeutende Relevanz für die Pädagogik und Demokratie hervor. Sie verbindet den interaktionistischen Konstruktivismus mit Giroux' Ideen und bietet wertvolle theoretische Einsichten. Die wiederholten Zusammenfassungen und Exkurse unterstützen das Verständnis der komplexen Konzepte, auch wenn sie gelegentlich die Kohärenz der Argumentation beeinflussen. Das Buch richtet sich besonders an Leser*innen, die sich intensiv mit kritischer Pädagogik und deren Anwendung in Theorie und Praxis auseinandersetzen möchten, und bietet Ansätze für weitere wissenschaftliche Forschung und praxisorientierte Entwicklungen.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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Es gibt 22 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 26.08.2024 zu: Katarina Schneider-Bertan: Kritische Pädagogik im 21. Jahrhundert. Zur Aktualität von Henry A. Giroux´ »Critical Pedagogy«. transcript (Bielefeld) 2024. ISBN 978-3-8376-7400-2. Reihe: Pädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32477.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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