Wolfgang Hegener, Shulamit Bruckstein et al. (Hrsg.): Im Anfang war die Schrift
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 25.11.2024
Wolfgang Hegener, Shulamit Bruckstein, Uta Karacaoglan, Bernd Nissen, Uta Zeitzschel (Hrsg.): Im Anfang war die Schrift. Sigmund Freud und die Jüdische Bibel.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
495 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3213-3.
D: 59,90 EUR,
A: 61,60 EUR.
Reihe: Jahrbuch der Psychoanalyse / Beiheft - 29.
Thema
Sigmund Freud hat seit der Erfindung der Psychoanalyse stets und penibel darauf geachtet, sein Jude-Sein so weit als möglich unsichtbar zu machen. Er wollte nicht, dass „die Sache“, das psychoanalytische Projekt, von außen, seinen Gegnern zumal, als jüdisch identifiziert würde; das hätte, da war Freud politisch hellsichtig genug, Anlass gegeben, es mit Mitteln des Populismus und des Antisemitismus zu diffamieren. Eine seiner seltenen öffentlichen Äußerungen in der Sache hatte einen besonderen Anlass. Der bestand in der Herausgabe der Übersetzung von Totem und Tabu (1913) ins Neuhebräische (Ivrit).
Im Vorwort des genannten Buches schreibt Freud: „Keiner der Leser dieses Buches wird sich so leicht in die Gefühlslage des Autors versetzen können, der die heilige Sprache nicht versteht, der väterlichen Religion – wie jeder anderen – völlig entfremdet ist, an nationalistischen Idealen nicht teilnehmen kann und doch die Zugehörigkeit zu seinem Volk nie verleugnet hat, seine Eigenart als jüdisch empfindet und sie nicht anders wünscht. Fragte man ihn: Was ist an dir noch jüdisch, wenn du alle diese Gemeinsamkeiten mit deinen Volksgenossen aufgegeben hast?, so würde er antworten: Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache. Aber dieses Wesentliche könnte er gegenwärtig nicht in klare Worte fassen. Es wird sicherlich später einmal wissenschaftlicher Einsicht zugänglich sein“ (Freud 1930).
Schon während Freuds Leben wurde die Frage erörtert, was denn an ihm und seinem Werk jüdisch sei. Nach seinem Tod wurde die Frage intensiviert und auch auf dem Feld der Wissenschaft aufgeworfen. Das vorliegende Buch ist eine der Antworten, die dort gegeben werden.
Entstehungsgeschichte
Das vorliegende Werk wurde in englischsprachiger Fassung von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation im Fach Jüdische Theologie angenommen. Der Sache nach stellt es eine Fortsetzung von Studien dar, die der Autor 2017 unter dem Titel Heilige Texte: Psychoanalyse und talmudisches Judentum veröffentlicht hat.
Autor
Wolfgang Hegener, Jg. 1964, ist als Psychologischer Psychotherapeut psychoanalytischer Ausrichtung in eigener Berliner Praxis, in der Ausbildung als Lehr- und Kontrollanalytiker und als Privatdozent für Psychoanalytische Kulturwissenschaft am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Seine Interessenschwerpunkte sind: Jüdische Wurzeln der Psychoanalyse, Psychoanalyse des Antisemitismus und das Verhältnis von Philosophie und Psychoanalyse.
Aufbau und Inhalt
Am Anfang des Buchs steht ein mit „Im Anfang: Die Widmung“ betiteltes Geleitwort der Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Almut Shulamit Bruckstein, der Initiatorin und Direktorin von ha’atelier – werkstatt für philosophie und kunstsowie Direktorin des internationalen Projekts Jüdische und islamische Hermeneutik als Kulturkritik.
In seiner Einleitung gibt der Autor einen Überblick über die fünf Kapitel des Buches, nachdem er zuvor sein Anliegen so formuliert hat: „Wir werden im Fortgang der Kapitel dieses Buches ausführlich zu zeigen versuchen, dass Freud über die schon früh einsetzende und intensive Lektüre der Bibel, die in spezifische familiäre Beziehungserfahrungen eingebunden war, in die jüdische Tradition eingeführt wurde. Er konnte in die ‚biblische Geschichte’ […] eintauchen und dort die für das jüdische Selbstverständnis ‚fundierenden Geschichten’ und ‚fundierenden Erinnerungen’ […] kennenlernen, die sein Selbstverständnis als Jude sowie überhaupt seinen Welt- und Schriftzugang wesentlich geprägt haben” (S. 19).
Zu Beginn der Einleitung referiert Hegener eine kurze Notiz Freuds aus dem Jahr 1935: „Frühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte, kaum daß ich die Kunst des Lesens erlernt hatte, hat, wie ich erst viel später erkannte, die Richtung meines Interesses nachhaltig bestimmt.” Der Satz stammt aus den Ergänzungen zu seiner zehn Jahre älteren „Selbstdarstellung” von 1925, und man kann das vorliegende Buch als dessen ausführliche Exegese dieses Satzes lesen.
Der Autor beginnt seine Arbeit damit, dass er im ersten Kapitel „Jüdische Texturen. Jacob Freuds Einträge in die Philippson-Bibel“eine genaue Dokumentation und Analyse der väterlichen Einträge in die von Jakob Freud an den Sohn zu dessen 35. Geburtstag weitergereichte Philippson-Bibel vornimmt.
Die Kapitel 2 und 3 unterbrechen den im 1. Kapitel begonnenen und im 4. fortgesetzten zentralen Erzählstrang. Sie sind in argumentativer Hinsicht zu verstehen als ausführliche Exkurse, ohne deren Kenntnis das Nachfolgende schwerlich nachvollziehbar wäre. Im 2. Kapitel „Ludwig Philippson und die Wiedergeburt der Jüdischen Bibel“ wird die Philippson-Bibel eingeordnet in die lange Geschichte der jüdischen und christlichen Übersetzungen jener Schriften, die die Christen im Alten Testament und die Juden im Tanach finden. Anschließend wird in „Die heilige Sprache der Bibel – Freuds jüdischer Religionsunterricht“ die religiöse Bildungsgeschichte Freuds zu Grundschul- und Gymnasialzeit betrachtet.
lm 4. Kapitel geht der Autor „in einer Art Miniatur- und Spezial-Biografie” (S. 32) der Entwicklung von Freuds Selbstverständnis als Jude über die ganze Lebensspanne nach. Der Schwerpunkt liegt bei der kindlichen Entwicklung und dort bei der grundverschiedenen Beziehung zu Mutter und Vater: Mit der Mutter verbunden ist „Glaubens- und Sprachverlust” (ebd.), wohingegen er in der Auseinandersetzung mit dem Vater „seine eigensinnige jüdische ldentität ausformen konnte” (ebd.). Das Kapitel trägt die Überschrift „Warum Freud seinen Glauben verlor, seine Hebräischkenntnisse vergaß und mithilfe der biblischen und talmudischen Tradition trotzdem Jude bleiben konnte.“.
Mit „Traum und heilige Texte: Die jüdische Schrifttradition in der Traumdeutung und in Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ schließt der Textteil. Das Kapitel hat zwei Teile. Der erste widmet sich der Strukturähnlichkeit von talmudischer Textlesung und psychoanalytischer Traumdeutung, der zweite erklärt die Moses-Schrift als einen säkular-psychoanalytischen Midrasch. Am Buchende finden sich ein differenziertes Verzeichnis der Literatur, der Abbildungen-Nachweis und eine Danksagung.
Diskussion
Vor 25 Jahren hielt Inge Scholz-Strasser, damals Generalsekretärin der Sigmund-Freud-Gesellschaft und Direktorin des Sigmund-Freud-Museum in der Wiener Berggasse 19, vor der Consistoire de Paris einen Vortrag, in dem sie mögliche Forschungsprojekte zu „Freud und das Judentum” umriss: „Drei Hauptaspekte scheinen mir dabei verfolgenswert: erstens die Betrachtung der Biografie Freuds […]. Seine expliziten Äußerungen zur jüdischen Tradition […] reflektieren seine Erfahrungen im politischen und akademischen Kontext seiner Berufslaufbahn und bilden die Grundlage für sein eigenes internalisiertes Verhältnis zu seinen religiösen und sozialhistorischen Wurzeln. Im Zusammenhang damit ist der sozialhistorische und politische Kontext, in dem Freud in Wien lebte, zu sehen, der den zweiten Bezugspunkt bildet. Schließlich ist ein dritter wesentlicher Bezugsrahmen Freuds Thematisierung des Judentums in seinem Werk, besonders die späte Auseinandersetzung Freuds mit der Figur und der Bedeutung des Moses.” (Scholz-Strasser 2014),
Die vorliegende Studie bewegt sich in dem so skizzierten Rahmen, sie ist materialgesättigt, kenntnisreich und detailliert, wie man das von einer akademischen Qualifikationsschrift erwarten darf. Das aber heißt nun auch: Den Leserinnen und Lesern des Buches wird abverlangt, es wirklich mit einiger Geduld und hinreichender Konzentration durchzuarbeiten. Belohnt wird man dafür mit – je nach Vorwissen kleineren oder größeren – überraschenden Befunden, anregenden Überlegungen und erstaunlichen Querverweisen. Freilich kann jede Leserin und jeder Leser nur für sich selbst feststellen, in welchem Maße das Buch ihre oder seine Frage beantwortet hat, was denn das Jüdische an Freud und seinem Werk sei. Geschichts- wie Literaturwissenschaft können nicht mit Beweisen aufwarten, sondern lediglich mit Plausibilitäten.
Die Beantwortung der Frage nach dem spezifisch Jüdischen an Freud und seinem Werk sieht sich zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten gegenüber. Die eine hat beispielsweise der US-amerikanische Historiker Will Johnston in seinem Klassiker Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte (2006) angesprochen. Er hat Freud nach Person wieWerk viele Seiten gewidmet und ist dabei auch der Frage nach dem jüdischen Erbe nachgegangen. Nach Durchsicht einiger Beiträge jüdischer Kommentatoren zu dieser Frage kommt er zu dem Schluss: „Alle diese Hypothesen kranken daran, daß die sogenannten jüdischen Züge um nichts weniger auch österreichisch-ungarische Züge waren.” (Johnston 2006, S. 252) Bei dieser Einschätzung hat er auch solche Erklärungsversuche im Blick wie den von Ernst Simon (1899-1988), einem Schüler Martin Bubers; der sieht „in Freud einen nichtpraktizierenden Juden, der dessenungeachtet Züge seiner Vorfahren entfaltet, wie etwa eine Affinität mit der mündlichen Tradition des Talmuds” (ebd).
Auf eine zweite prinzipielle Schwierigkeit hat u.a. der britische Psychoanalytiker Stephen Frosh, der schon vor bald zwei Jahrzehnten die Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft” (Reiserer 2014)
bezeichnete, hingewiesen: „Viel Arbeit wurde geleistet, um diese Verbindungen [zwischen Freud und dem Jüdischen] nachzuverfolgen, aber eine der verschiedenen Schwierigkeiten beim Entwirren der Zusammenhänge ist der komplizierte Begriff ‚jüdisch’ selbst.“ (Frosh 2022, S. 73; Übers. d. Verf.) Denn damit kann Vieles und Unterschiedliches gemeint sein. In diesem Punkte ist Hegener präzise: Beim Jüdischen an Freud und seinem Werk sei an das aschkenasische Ostjudentum mit seiner dortigen rabbinisch-talmudischen Tradition zu denken.
Zu dieser Verortung abschließend eine Anmerkung. Hegener lokalisiert das Ostjudentum samt und sonders in Osteuropa. In einem Weltbild, in dem Mitteleuropa nicht vorkommt, wie etwa dem des Statistischen Amtes der Vereinten Nationen, hat das seine Richtigkeit. Wechselt man aber ins Lager derer, die aus historischen Gründen das Konzept Mitteleuropa für sinnvoll, ja gar für unerlässlich halten, wird die geographische Zuordnung Hegeners falsch. Bertha Pappenheim ist 1903 auf ihrer Galizienreise nicht nach Osteuropa gefahren, Helene Deutsch aus Przemyśl, Westgalizien und Wilhelm Reich aus dem ostgalizischen Dobzau haben sich nicht als Osteuropäer empfunden, Arno Lustiger spricht heutzutage von der jüdische Kultur in Ostmitteleuropa und insbesondere die Polen legen Wert darauf, nicht zu Ost-, sondern zu Mitteleuropa gezählt zu werden (Heekerens im Druck).
Fazit
Das vorliegende Buch ist ein interessanter Beitrag zur Frage, was denn das Jüdische an Freud und seinem Werk sei. Es ist höchst informativ für alle, die sich für diese Frage interessieren. Und auch geeignet für Leserinnen und Leser, die sich dem Thema erstmals nähern.
Literatur
Freud, Sigmund, 1930. Vorrede zur hebräischen Ausgabe. In: Projekt Gutenberg [online; Zugriff am 3.11.2024]. Verfügbar unter: https://www.projekt-gutenberg.org/freud/totem/chap002.html
Frosh, Stephen, 2022. Psychoanalytic Judaism, Judaic Psychoanalysis. In: European Judaism [online; Zugriff am 6.11.2024]. 55(1), S. 71–85. Verfügbar unter: doi: 10.3167/ej.2022.550106
Heekerens, Hans-Peter, im Druck. So fern-so nah: Eine Lesereise nach Galizien. Berlin u.a.: LIT Verlag. ISBN 978-3-643-15622-8
Hegener, Wolfgang, 2017. Heilige Texte: Psychoanalyse und talmudisches Judentum (Bibliothek der Psychoanalyse). Gießen: Psychosozial-Verlag. ISBN ISBN 978-3-8379-2653-8
Johnston, William, 2006. Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte: Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848–1938. 4. Aufl. Wien u.a.: Böhlau Verlag. ISBN 978-3-205-77498-3
Reiserer, Axel, 2014. Psychoanalyse als jüdische Wissenschaft? In:NU–Jüdisches Magazin für Politik und Kultur[online]. 1.07.2014 [Zugriff am 5.11.2024]. Verfügbar unter: https://nunu.at/artikel/psychoanalyse-als-juedische-wissenschaft/
Scholz-Strasser, Inge, 2014. Weil ich Jude war. In:NU–Jüdisches Magazin für Politik und Kultur[online]. 30.06.2014 [Zugriff am 4.11.2024]. Verfügbar unter: https://nunu.at/artikel/weil-ich-jude-war/
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 25.11.2024 zu:
Wolfgang Hegener, Shulamit Bruckstein, Uta Karacaoglan, Bernd Nissen, Uta Zeitzschel (Hrsg.): Im Anfang war die Schrift. Sigmund Freud und die Jüdische Bibel. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2023.
ISBN 978-3-8379-3213-3.
Reihe: Jahrbuch der Psychoanalyse / Beiheft - 29.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32492.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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