Ulrike Zöller, Lea Alt et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit und Gerechtigkeit
Rezensiert von Julia Ludewigs, 04.11.2025
Ulrike Zöller, Lea Alt, Manuel Freis (Hrsg.): Soziale Arbeit und Gerechtigkeit. Professionstheoretische Perspektiven für Studium, Lehre und Praxis. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 253 Seiten. ISBN 978-3-7799-7648-6. D: 48,00 EUR, A: 49,40 EUR.
Thema
Der Sammelband „Soziale Arbeit und Gerechtigkeit“ setzt sich umfassend mit der Frage auseinander, wie soziale Gerechtigkeit als zentrales handlungsleitendes Prinzip in der Sozialen Arbeit verstanden und umgesetzt werden kann. Das Werk richtet sich an Studierende, Lehrende und Praktiker:innen und verbindet theoretische Fundierungen mit praxisnahen Perspektiven. Es behandelt zentrale gesellschaftliche Spannungsfelder – von sozialer Ungleichheit über Migration und Diversität bis hin zur Moralisierung organisationaler Strukturen – und beleuchtet die Position der Sozialen Arbeit zwischen normativen Ansprüchen und institutionellen Realitäten. Ziel ist es, soziale Gerechtigkeit nicht nur als normativen Idealwert, sondern als handlungsleitende Kategorie für Lehre, Forschung und Professionalisierung zu verankern.
Die Herausgebenden entwickeln eine doppelte Perspektive: Einerseits wird die Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsprofession verstanden, deren Handlungsauftrag auf den Prinzipien von Menschenrechten, sozialer Teilhabe und Gleichberechtigung basiert. Andererseits wird betont, dass Professionalisierung und Qualifizierung nie wertneutral sind, sondern stets in gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse eingebettet bleiben. Gerechtigkeit fungiert dabei als Meta-Norm der Profession: Sie prägt nicht nur die Ziele sozialarbeiterischer Praxis – etwa Empowerment, Inklusion oder Teilhabe –, sondern auch die Qualität der Ausbildung und die institutionellen Rahmenbedingungen, unter denen Professionalisierung erfolgt.
Herausgeber:innen
Ulrike Zöller, Professorin für Theorie, Methodik und Empirie der Soziale Arbeit an der Fakultät für Sozialwissenschaften der htw saar. Diplom Pädagogin und Diplom Sozialpädagogin (FH), Dr. phil., Arbeitsschwerpunkte: Migrationspädagogik, Soziale Arbeit an den Übergängen Schule und Beruf, transnationaler Kinderschutz und Ethik der Sozialen Arbeit.
Manuel Freis, Dipl. Päd., wissenschaftlicher Mitarbeiter und Praxisreferent an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. Arbeitsschwerpunkte: ethnographischer und rekonstruktiver Organisationsforschung, lernortübergreifender Hochschuldidaktik, systemischer Organisationsentwicklung und epistemologischer Grundlagen professionellen Handelns.
Lea Alt, Sozialarbeiterin (M.A.); wissenschaftliche Mitarbeiterin und Praxisreferentin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes. Forschungsinteressen liegen in den Bereichen ethnografischer Forschung sowie der Gestaltung von Übergängen im Lebensverlauf.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert, die unterschiedliche Dimensionen sozialer Gerechtigkeit in der Sozialen Arbeit beleuchten und aufeinander aufbauen.
Der erste Teil widmet sich den theoretischen Grundlagen und professionstheoretischen Perspektiven. Hier werden klassische Gerechtigkeitstheorien – von Rawls über Sen, Nussbaum bis Young – vorgestellt und auf ihre Relevanz für Ausbildung, Professionalisierung und Praxis übertragen. Zentral ist die These, dass Qualifizierung mehr sein muss als bloße Wissensvermittlung: Sie ist ein ethisch-politischer Bildungsprozess, in dem Studierende befähigt werden, Ungerechtigkeiten zu erkennen, kritisch zu reflektieren und Handlungskompetenzen zu entwickeln.
Ulrike Zöller thematisiert die Anerkennungstheorie von Axel Honneth und zeigt, wie Anerkennung als zentraler Baustein sozialer Gerechtigkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit umgesetzt werden kann. Michael Freis beleuchtet Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit und deren Bedeutung für Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe, insbesondere für benachteiligte Gruppen. Barbara Alt diskutiert die Verbindung von Gerechtigkeit und Professionalität und versteht Professionalisierung als ethisch-politischen Bildungsprozess, der Reflexion von Organisationsstrukturen und hochschulischer Ausbildung einschließt. Ergänzend analysiert Youngs Konzept der „strukturellen Ungerechtigkeit“ systemische Benachteiligungen und deren Integration in sozialarbeiterische Handlungsstrategien.
Besonders praxisnah ist der Beitrag von Peter Schaefer zum Qualifikationsrahmen Soziale Arbeit (QR SozArb). Schaefer positioniert den QR SozArb als zentralen Referenzrahmen für eine gerechte, qualitativ hochwertige und reflektierte Ausbildung. Er diskutiert die staatliche Anerkennung nicht als reine Formalie, sondern als Ausdruck professioneller Verantwortung und normativer Qualität. Zudem beleuchtet er Spannungsfelder zwischen disziplinärer Eigenständigkeit, hochschulischer Kooperation und rechtlicher Regulierung und plädiert für praxisorientierte Berufseinmündungsphasen, die Studierende zu reflektierten Fachkräften formen.
Insgesamt macht Teil I deutlich, dass Soziale Arbeit nur dann gerecht handeln kann, wenn Ausbildung, Organisationskultur und berufliche Identität selbst Orte gerechter Strukturen sind. Die Professionalisierung muss reflexiv, diversitätssensibel und partizipativ gestaltet werden, um Fachkräfte für ethisch und sozial reflektiertes Handeln zu befähigen.
Der zweite Teil erweitert den Blick auf sozialpolitische und globale Dimensionen der Sozialen Arbeit. Thematisiert werden Flucht, Migration, gesellschaftliche Diversität, transnationale Ethikfragen und Debatten um das bedingungslose Grundeinkommen. Die Beiträge verdeutlichen, dass soziale Gerechtigkeit nicht nur lokal gedacht werden darf, sondern als gesellschaftliches und internationales Anliegen verstanden werden muss. Soziale Arbeit wird hier als aktive Akteurin positioniert, die normative Werte vermittelt, kritisch reflektiert und in politische sowie gesellschaftliche Prozesse einbindet. Besonders interessant ist die Diskussion, wie normative Ansprüche auf Gerechtigkeit auf unterschiedliche politische, ökonomische und kulturelle Rahmenbedingungen treffen und welche Handlungsmöglichkeiten daraus für die Profession resultieren.
Der dritte Teil richtet den Fokus auf konkrete Praxisfelder der Sozialen Arbeit. Anhand von Beispielen aus Integrationsarbeit, Erinnerungskultur und Bildungsarbeit wird sichtbar, wie normative Ansprüche auf Gerechtigkeit auf ökonomische, politische und bürokratische Zwänge treffen und wie Fachkräfte diese Spannungen professionell bearbeiten können. Die Beiträge zeigen, dass theoretische Fundierungen nur dann wirksam werden, wenn sie in institutionelle Strukturen, Teamreflexionen und Lernprozesse eingebettet sind. Besonders hervorgehoben werden Ansätze, die normative Werte wie Teilhabe, Anerkennung und Empowerment operationalisieren und praxisnah umsetzen.
Diskussion
Der Sammelband überzeugt durch die konsequente Verknüpfung von theoretischer Fundierung, ethischer Reflexion und praxisnahen Beispielen. Besonders gelungen ist die Darstellung der Ambivalenzen professioneller Praxis: Soziale Arbeit soll soziale Gerechtigkeit fördern, ist jedoch selbst strukturell eingebettet und muss sich kontinuierlich mit Macht- und Ungleichheitsverhältnissen auseinandersetzen.
Die theoretischen Grundlagen sind fundiert und machen deutlich, dass einzelne Erklärungsmodelle den komplexen Anforderungen der Praxis nicht gerecht werden. Gleichzeitig wird die Verantwortung der Profession betont – nicht nur in der Praxis, sondern auch in Ausbildung, Organisationskultur und institutionellen Strukturen. Kritisch angemerkt werden kann, dass einige Kapitel stark akademisch geschrieben sind, wodurch die Lektüre für fachfremde Leser:innen anspruchsvoll bleibt. Auch die Praxisbezüge könnten in einigen Beiträgen noch stärker vertieft werden, insbesondere im Hinblick auf interdisziplinäre Kooperation, spezifische Handlungsfelder für marginalisierte Gruppen oder innovative Ansätze wie transdisziplinäre Teamarbeit. Der Sammelband liefert eine differenzierte Auseinandersetzung mit sozialer Gerechtigkeit als handlungsleitendem Prinzip der Sozialen Arbeit. Besonders überzeugend ist die konsequente Verknüpfung von theoretischen Grundlagen, ethischer Reflexion und Praxisbeispielen. Die Herausgebenden betonen die Ambivalenzen professioneller Praxis: Soziale Arbeit soll Gerechtigkeit fördern, ist jedoch selbst strukturell eingebettet und muss sich kontinuierlich kritisch mit Macht- und Ungleichheitsverhältnissen auseinandersetzen.
Die theoretischen Fundierungen sind überzeugend aufbereitet und machen deutlich, dass einzelne Erklärungsmodelle der komplexen Realität nicht gerecht werden. Gleichzeitig wird die Verantwortung der Profession hervorgehoben – nicht nur für die Praxis, sondern auch für Ausbildung, Organisationskultur und institutionelle Rahmenbedingungen. Besonders praxisnah sind die Diskussionen zu Qualifizierung und Professionalisierung, die aufzeigen, wie theoretische Gerechtigkeitskonzepte operationalisiert werden können.
Die konkrete Diskussion der Praxisbezüge in speziellen Handlungsfeldern könnte in manchen Kapiteln noch ausführlicher sein, etwa in Bezug auf interdisziplinäre Kooperation oder konkrete Beispiele aus der Sozialen Arbeit mit marginalisierten Gruppen.
Besonders positiv fällt auf, dass der Band theoretische Konzepte nie abstrakt lässt, sondern immer wieder den Bezug zu konkreten Handlungsfeldern herstellt und die Leser:innen dazu anregt, die Umsetzung von Gerechtigkeit in der eigenen Praxis kritisch zu reflektieren. Damit wird deutlich, dass soziale Gerechtigkeit nicht nur Ziel, sondern auch Maßstab der Professionalisierung ist.
Durch die Verbindung von Theorie, ethischer Reflexion und Praxisbeispielen liefert das Werk wertvolle Impulse für Studium, Lehre, Forschung und die Weiterentwicklung der Sozialen Arbeit als reflektierte, kritische und gesellschaftlich verantwortliche Profession. Besonders hervorzuheben ist, dass die Herausgebenden konsequent aufzeigen, dass Professionalisierung selbst immer im Spannungsfeld zwischen Anspruch und Realität stattfindet und daher Reflexion, Ethik und Praxis untrennbar verbunden sind. Er verdeutlicht, dass soziale Gerechtigkeit nicht nur Ziel, sondern auch Maßstab der eigenen Professionalisierung sein muss. Ausbildung, Organisationskultur und berufliche Identität sollen als Orte gerechter Strukturen gestaltet werden, um Fachkräfte für ethisch reflektiertes Handeln zu befähigen.
Fazit
„Soziale Arbeit und Gerechtigkeit“ bietet eine umfassende, differenzierte und fundierte Auseinandersetzung mit sozialen Gerechtigkeitsfragen in der Sozialen Arbeit. Der Sammelband verdeutlicht, dass soziale Gerechtigkeit nicht nur Ziel professionellen Handelns, sondern auch Maßstab für Ausbildung, Organisationskultur und berufliche Identität ist. Das Werk überzeugt durch die Verbindung von Theorie, Reflexion und Praxis und leistet einen wichtigen Beitrag zur kritischen Selbstverortung der Profession Sozialer Arbeit.
Rezension von
Julia Ludewigs
AWO-Fachstelle zum Thema sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen
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Es gibt 2 Rezensionen von Julia Ludewigs.




