Klaus Sarimski: Intellektuelle Behinderung im Kindes- und Jugendalter
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 25.02.2025

Klaus Sarimski: Intellektuelle Behinderung im Kindes- und Jugendalter. Psychologische Analysen und Interventionen. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2024. 536 Seiten. ISBN 978-3-8017-3163-2. D: 44,95 EUR, A: 46,30 EUR, CH: 57,07 sFr.
Autor
Prof. i.R. Dr. Klaus Sarimski, Diplom-Psychologe, war bis 2021 Professor für sonderpädagogische Frühförderung und Elementarpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Thema
Dieser Band soll praxisorientiert zeigen, wie Kinder und Jugendliche mit intellektueller Behinderung gefördert und bei psychischen Auffälligkeiten interveniert werden kann. Zusammen mit einem fundierten Überblick zu Entwicklungsprozessen ermöglicht der Band, betroffene Kinder und Jugendliche und ihre Familien professionell und differenziert zu unterstützen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst insgesamt 20 Kapitel, zusammengefasst in sechs Teilen.
Klaus Sarimski beginnt statt eines Vorwortes mit einem persönlichen Blick zurück, angefangen mit dem Zivildienst, als Psychologe im Kinderzentrum München und dann als Professor in Heidelberg. Er würdigt dabei Prof. Dr. Theodor Hellbrügge und widmet das Buch ausdrücklich Prof. Dr. Otto Speck.
Der erste Teil (Grundlagen) beginnt mit einem Kapitel über Definition, Klassifikation und Prävalenz intellektuelle Behinderung. Sarimski wählt ausdrücklich diesen Begriff, um den Personenkreis eindeutig abzugrenzen von Kindern und Jugendlichen mit leichteren intellektuellen Beeinträchtigungen (Lernbehinderung). Er soll auch bewusst machen, dass diese Menschen einen lebenslangen Unterstützungsbedarf haben. Der Autor orientiert sich auch am modernen Behinderungsbegriff gemäß der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF).
Kapitel 2 (Ursachen und Komorbiditäten) gibt einen Überblick über die neuronale Reifung, über genetische und andere prä-, peri- und postnatale Ursachen von Hirnschädigungen und Entwicklungsstörungen sowie dazugehörige Untersuchungsverfahren. Komorbiditäten wie Zerebralparese, Epilepsie und Sinnesbehinderungen werden besprochen.
In Kapitel 3 werden Strukturmodelle der Intelligenz erläutert, ausführlich werden Diagnostik mit Hinweisen zur Auswahl geeigneter Verfahren einschließlich deren Interpretation besprochen. Auch die Bedeutung exekutiver Funktionen wird berücksichtigt. Im Weiteren werden Strukturmodelle Adaptiver Kompetenzen besprochen, die nach ICF bedeutsam für die Teilhabe im sozialen Kontext angesehen werden (kognitiv-kommunikative Prozesse, praktische und soziale Kompetenzen) ebenso wie Diagnostik einschließlich von Erhebungsinstrumenten, wobei am ausführlichsten die Vineland Adaptive Behavior Scales und ihre deutschen Adaptionen dargestellt werden.
Im Teil II (Entwicklung in verschiedenen Bereichen) werden die Bereiche Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Strategiebildung, exekutive Funktionen, Sprachverarbeitung und pragmatischer Sprachgebrauch, sozial-emotionale Kompetenzen, Handlungsregulation, motivationale Komponenten. Motivation und Selbstregulation angesprochen. Thema sind dabei die Entwicklungsverläufe und die Vorgehensweise zur Diagnostik (bei Diagnoseinstrumenten immer auch, wenn vorhanden, deutschsprachige Adaptionen). Es werden jeweils die Besonderheiten der Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Behinderung herausgearbeitet, wobei auch die Wechselwirkungen der einzelnen Komponenten sowie Einflüsse der Eltern-Kind-Interaktion berücksichtigt werden. Es finden sich jeweils Belege dafür, dass die Entwicklung verzögert verläuft sowie für qualitative Auffälligkeiten und Unterschiede zu Entwicklungsverläufen ohne allgemeine Entwicklungsstörung.
Im folgenden Kapitel werden typische syndromspezifische Entwicklungsverläufe beschrieben, ausführlich bei Trisomie 21, Fragilem-X-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom sowie kürzer Prader-Willi-Syndrom, Deletion 22q11, Cri-du-Chat-Syndrom, Cornelia-de-Lange-Syndrom, mit einem Exkurs zum fetalem Alkoholsyndrom. Die Entwicklung wird als Ergebnis eines Prozesses gesehen, bei dem die genetisch bedingten Veränderungen in der Hirnreifung eine Kaskade von Auswirkungen auf die oben beschriebenen Bereiche auslösen, mit komplexen, dynamischen Zusammenhängen und Wechselwirkungen.
Im Teil III (Interventionen zur Förderung von Kompetenzen) geht Sarimski der wichtigen Frage nach, mit welchen Konzepten sich spezifische Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Behinderung wirksam fördern lassen und welche Anpassungen bei der Förderung vorgenommen werden müssen, um deren spezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen. Es handelt sich also überwiegend um Förderprogramme, die nicht speziell für diese Kinder entwickelt wurden, Schwerpunkt dabei ist die Anbahnung von Kernkompetenzen. Referiert wird der Stand der Evaluationsforschung.
In Kapitel 6 (Kommunikation und Sprache) werden Förderkonzepte bzgl. Wortschatz und Satzbildung für das frühe Kindesalter vorgestellt und deren Wirksamkeit bewertet. Der Wortschatzerwerb kann sinnvoll durch Gebärden unterstützt werden. Anschließend werden verschiedene Formen der unterstützten Kommunikation besprochen. Ein, sinnvoller Einsatz erfordert eine differenzierte Diagnostik der kindlichen Kommunikationsfähigkeiten sowie die Sensibilisierung der Interaktionspersonen (pädagogische Fachkräfte, Eltern) für die Nutzung im Alltag. Sarimski erläutert ausführlich die Arbeitsschritte der Planung der Interventionen, beginnend mit der Diagnostik, über die nachfolgende Auswahl des geeigneten Hilfsmittels bis zur Anleitung der Kommunikationspersonen.
Der Erwerb der Lesefähigkeit (Kapitel 7) bildet die Grundlage für den weiteren Kompetenzerwerb in schulischen Bereichen, sie erweitert auch die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe im Alltag. Auch für diese Kinder ist „early literacy“ wichtig. Ausführlich wird die Förderung der Lesefähigkeit bei spezifischen genetischen Syndromen (vor allem bei Down-Syndrom) und bei nicht oder wenig sprechenden Kindern besprochen.
Auch die mathematische Kompetenz (Kapitel 8) ist wichtig für die soziale Teilhabe. Es sollte nicht nur Zählen und der Umgang mit Geld als lebenspraktische Förderung im Blick sein; das Potenzial für mehr ist oft bei den Kindern vorhanden, wenn sie systematisch gefördert werden. Zusammenhänge der individuellen Entwicklungsprofile mit exekutiven Funktionen sind deutlich.
Kinder mit unbeeinträchtigter Entwicklung eignen sich sozial-emotionale Kompetenzen und praktische Alltagskompetenzen (Selbstversorgung) „beiläufig“ ohne spezifische Förderung im sozialen Miteinander an. Kinder mit intellektueller Behinderung brauchen auch in diesen Bereichen eine gezielte Förderung (Kapitel 9). Soziale Kompetenzen können alltagsintegriert im inklusiven Kontext, aber auch durch Rollenspiele, Geschichten, Video-Monitoring und strukturierte Kompetenztrainings gefördert werden. Die Förderung von Alltagskompetenzen umfasst beispielsweise die Selbstversorgung, die selbstständige Benutzung der Toilette und die Teilhabe am öffentlichen Leben.
Teil IV umfasst die Entwicklung im sozialen Kontext. Zuerst wird das System der Frühförderung (Kapitel 10) mit den Institutionen Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ) und Interdisziplinäre Frühförderstelle (IFS) vorgestellt. Die familienorientierte Frühförderung wird als eines der Grundmerkmal herausgestellt, wobei die Beratung und Förderung entwicklungsfördernder Interaktionen im Alltag ein eigenes Unterkapitel erhält. Eine weitere wichtige Kernaufgabe ist die Beratung in inklusiven Kindertagesstätten.
Da die die Förderung und Begleitung durch interdisziplinäre Frühförderstellen nur bis zum individuellen Schuleintritt erfolgen kann, erfolgt im weiteren Verlauf die Förderung in der Schule. Die unterschiedliche Bildungsorte, Förderzentrum mit Schwerpunkt geistige Entwicklung oder Inklusion in der Regelschule (Inklusionsklasse, Einzelintegration) werden analysiert und verglichen. Ein gemeinsamer Unterricht stellt große Herausforderungen; Prinzipien der Unterrichtsplanung werden erörtert. Auch Interventionen zur Stärkung der sozialen Teilhabe sind notwendig. Ein wesentlicher Punkt ist die Unterstützung der Lehrkräfte in inklusiven Settings. Sarimski spricht u.a. Probleme bei Assistenzkräften und Schulbegleitung an und zeigt auch die deutlichen Mängel, die eine erfolgreiche Gestaltung der Inklusion behindern, so z.B. ungenügende Vorbereitung und Fortbildungen oder zu große Klassen. Die Schule soll auch auf den Übergang zum Erwachsenenalter vorbereiten.
Ein eigenes Kapitel (Kapitel 12) befasst sich mit sozialer Teilhabe bei schwerster Behinderung, im Alltag und in Kindertagesstätte und Schule.
In Teil V werden Interventionen bei auffälligem Verhalten und psychischen Störungen behandelt. Diese Interventionen gehören zu den wichtigsten psychologischen Aufgaben in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Behinderung.
Kapitel 13 (Prinzipien Diagnostik und Behandlung) beschreibt das diagnostische Vorgehen, Prävalenzen und Risikofaktoren; auffällig ist die hohe Persistenz. Es besteht in diesem Bereich eklatante Unterversorgung, ein gravierender Mangel an Behandlungsangeboten. Ausführlich werden die Prinzipien der Angewandten Verhaltensanalyse und darauf aufbauend das Konzept der Positiven Verhaltensunterstützung besprochen; bei Schulkindern und Jugendlichen mit leichter intellektueller Behinderung können auch kognitiv-behaviorale Elemente mit einbezogen werden, Sie kann erfolgreich in Familien, Kindertagesstätten und Schulen umgesetzt werden.
Im nächsten Kapitel (Kapitel 14) werden Verhaltensphänotypen bei genetischen Syndromen aufgezeigt. Verhaltensphänotypen weisen auf biologisch angelegte Dispositionen für eine besondere Vulnerabilität bei sozialen Anforderungen und ein erhöhtes Risiko für Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen hin. Sie müssen in der psychologischen Interventionsplanung berücksichtigt werden. Nach der allgemeinen Darstellung des Konzepts von Verhaltensphänotypen werden Formen der Verhaltensauffälligkeiten (mit der Frage nach autistischen Merkmalen) und Behandlungsansätze bei Fragilem-X-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom, Down-Syndrom und William-Beuren-Syndrom behandelt. Hohe Prävalenzen für Verhaltensauffälligkeiten zeigen auch Deletion 22q11, Cri-du-Chat-Syndrom, Cornelia-de-Lange, Angelman-Syndrom und Smith-Magenis-Syndrom (kurzer Exkurs zum Fetalen Alkoholsyndrom).
In den nächsten Kapiteln geht es jeweils um spezifische Verhaltensauffälligkeiten. Prävalenzen und Interventionen (einschließlich eltern- und familienbezogener Maßnahmen) werden erläutert. Aufmerksamkeitsdefizit-/​Hyperaktivitätsstörung und Störung des Sozialverhaltens (Kapitel 15) erfahren als externalisierte Verhaltensauffälligkeiten große Aufmerksamkeit. Ängstliche und depressive Verhaltensauffälligkeiten (Kapitel 16) werden als internalisierende Verhaltensauffälligkeiten seltener wahrgenommen: Sie betreffen das Erleben der Kinder, über das diese nur begrenzt sprachlich Auskunft geben können und belasten die sozialen Beziehungen zu Erwachsenen und anderen Kinder weniger. Autistische Verhaltensauffälligkeiten als zusätzliche Diagnose (Kapitel 17) unterscheiden sich im Schweregrad und der Kombination von Symptomen von der „klassischen“ Autismus-Spektrum-Störung, Sarimski drückt dies mit dem Begriff „syndromaler Autismus“ aus. Stereotypien und selbstverletzendes Verhalten (Kapitel 18) sind bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer intellektueller Behinderung relativ häufig und belasten die sozialen Beziehungen in hohem Maße. Auch für Ess- und Schlafstörungen (Kapitel 19) besteht ein erhöhtes Risiko.
Mit nur einem Kapitel befasst sich Teil VI mit Herausforderungen für die Familie, mit familiärer Belastung und Ansätze zur Bewältigung. Nach der Diagnosemitteilung, einem potenziellen Trauma, müssen Anpassungsprozesse im Alltag beginnen. Das Belastungserleben, Einflussfaktoren, Risiken und Ressourcen werden benannt und davon ausgehend familienorientierte Beratung besprochen, wobei auch der Unterstützungsbedarf von Geschwistern, deren Risiken, aber auch positive Auswirkungen, thematisiert werden.
Das Buch endet mit 86 engbedruckte Seiten des Literaturverzeichnisses.
Diskussion
Klau Sarimski gelingt es, immer wieder aufzuzeigen, dass Kinder und Jugendliche mit intellektueller Behinderung individuelle Persönlichkeiten mit individuellen Stärken und Schwächen beim Erwerb von Kompetenzen und der Bewältigung sozialer Anforderungen sind. Sie benötigen deshalb auch individuelle differenzierte Unterstützung, Um die Förderung der Kinder und Jugendlichen gut und professionell zu planen, durchzuführen und die gesamte Familie zu begleiten, braucht es fundiertes Wissen über Entwicklungsprozesse sowie die Möglichkeiten der Förderung und Intervention.
Insgesamt gibt das Buch einen gut strukturierten Einblick in den Wissensstand und die internationale Diskussion. Die nicht-deutschsprachige Literatur, die Ergebnisse zahlreicher internationaler Studien wurden umfassend aufgearbeitet, davon zeugt auch das umfangreiche Literaturverzeichnis. Es geht dabei weniger um die detaillierte Vorstellung von Förderprogrammen, sondern mehr um die Frage, welche empirischen Belege zur Wirksamkeit gibt es. Bei den Tests, Therapiekonzepten und Programmen wird immer herausgestellt, wenn auch Kinder und Jugendliche mit intellektueller Behinderung berücksichtigt wurden und immer diskutiert, welche Besonderheiten bei der Anwendung zu beachten sind.
Für die Praxis: Hilfreich sind die jeweiligen Rubriken „Für die Praxis“ und „Zur Diskussion“. Viele Abbildungen und Verlaufsschemata verdeutlichen die jeweils angesprochenen Punke.
Zusammenfassend lässt sich sagen, es ist ein Buch, wie es sich Klaus Sarimski für sein Studium oder am Anfang seines Berufslebens gewünscht hätte.
Zielgruppen
Studierende und Fachkräfte aus den Bereichen Psychologie, Heil- und Sonderpädagogik, Kinder- und <Jugendpsychiatrie, Pädiatrie, Ergo-, Physio- und Sprachtherapie
Fazit
Das Buch beschäftigt sich intensiv mit Kindern und Jugendlichen mit einer intellektuellen Behinderung. Es gibt einen differenzierten Einblick in den heutigen Wissensstand und in die internationale Diskussion. Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Behinderung und deren Familien arbeiten, erhalten differenziertes Wissen für ihre Praxis.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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