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Martina Pistor (Hrsg.): Welchen politischen Einfluss haben Wohnungslose?

Rezensiert von Prof. Dr. Christof Beckmann, 02.09.2024

Cover Martina Pistor (Hrsg.): Welchen politischen Einfluss haben Wohnungslose? ISBN 978-3-7841-3680-6

Martina Pistor (Hrsg.): Welchen politischen Einfluss haben Wohnungslose? Perspektiven von Martina Pistor - Soziale Arbeit kontrovers 33. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. 64 Seiten. ISBN 978-3-7841-3680-6. D: 11,25 EUR, A: 11,60 EUR.
Hrsg. v. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge.

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Thema

Das Buch fragt sich anhand der Auswertung von empirischem Material, welche tatsächlichen politischen Einflussmöglichkeiten obdachlosen Jugendlichen zur Verfügung stehen. Jenseits der formell möglichen Einflussmöglichkeiten, bspw. durch die Teilnahme an Wahlen, zeigt die Autorin verschiedene Barrieren auf, die es diesen Menschen erschweren, sich politisch zu beteiligen. Dies führt zu einer weiteren Marginalisierung dieser ohnehin vulnerablen Gruppe von Menschen. Des Weiteren werden Möglichkeiten, aber auch bestehende Grenzen, einer politischen und reflexiven Sozialen Arbeit in Kooperation mit dieser Zielgruppe aufgezeigt.

Autorin:

Martina Pistor ist M. A. für Soziale Arbeit, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovendin an der Hochschule Fulda.

Entstehungshintergrund:

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine gekürzte Fassung einer Masterarbeit, die die Autorin 2023 an der TH Nürnberg im Fachbereich Soziale Arbeit vorgelegt hat.

Aufbau und Inhalt:

Das Werk unterteilt sich in 5 Kapitel und umfasst insgesamt 54 Textseiten.

Das erste Kapitel leitet das Buch ein. Die Autorin zeigt auf, dass zwar alle Bürger:innen in Deutschland gleichermaßen die Möglichkeit haben, politischen Einfluss zu nehmen, die Wahrnehmung dieser Möglichkeiten sozialstrukturell sehr unterschiedlich ausfällt. Selbst bei vermeintlich niedrigschwelligen Möglichkeiten, wie die Teilnahme an Wahlen lässt sich zeigen, dass arme Menschen, diese Möglichkeit nur selten wahrnehmen, obwohl sie damit die Chance hätten, etwas an ihrer Lage zu verändern. Es stellt sich dann – jenseits der statistischen Zusammenhänge – die Frage, wie obdachlose (junge) Menschen, die von einer extremen Form von Ressourcenarmut betroffen sind, ihre Einflussmöglichkeiten auf Politik deuten und wie Soziale Arbeit sie dabei unterstützen könnte.

Im zweiten Kapitel unterfüttert die Autorin diese Fragstellung mit der Habitustheorie Pierre Bourdieus. Der bereits im ersten Kapitel aufgezeigte Zusammenhang zwischen politischer Einflussnahme und sozial-strukturellen Lage wird dadurch noch einmal grundlegend thematisiert: Ressourcenausstattung und der Habitus von armen Menschen führen dazu, dass sie sich als wenig wirkmächtig erleben und auch in der Politik keine Möglichkeit sehen, Einfluss auf ihre Lage zu nehmen. Dies führe – so die Autorin – zu dem bekannten und vielfach thematisierten und nachgewiesenen Teufelskreis aus mangelnder Repräsentation ihrer Interessen im politischen System, der kaum vorhandenen Responsivität gegenüber ihren Interessen und ihrer andauernden Enttäuschung und „Politikverdrossenheit“, die ihnen dann noch in Form von „blaiming the victim“ selbst zur Last gelegt wird. Diese bekannten Verlaufsformen zwischen Lebenslage und politischer Einflussnahme sind aber bislang im Hinblick auf die subjektiven Deutungsmuster bei obdachlosen jungen Menschen bislang noch nicht (empirisch) erforscht. Diesem Anliegen widmet sich die im Folgenden beschriebene Studie.

Das umfangreiche dritte Kapitel widmet sich dann der Auswertung der von der Autorin geführten Interviews mithilfe der dokumentarischen Methode. Das Interviewsetting und die Interviewpartner werden dazu kurz vorgestellt. Die Auswertung des empirischen Materials ergibt dabei vor allem drei Einflussfaktoren auf die politische Partizipation der Interviewpartner:

  • die materielle Armut ist ein Thema, das alle Erzählungen der jungen Interviewpartner durchzieht. Sie beeinflusst und beeinträchtigt die Lebenslage derart, dass Zeit und Aufmerksamkeit für politische Themen im Alltag der Interviewpartner kaum vorhanden sind.
  • die Interviewpartner erleben in ihrem Alltag mannigfaltige Diskriminierungen, ihnen wird ihre Lage selbst zur Last gelegt. Teilweise wehren sie diese Zuschreibungen ab, teilweise übernehmen sie aber auch in ihre Selbstbeschreibungen: die Autorin zeigt auf, dass sie zum Teil den moralisierenden und individualisierenden „sin-talk“ übernehmen, wonach obdachlose Menschen deshalb in ihrer prekären Lage seien, weil sie gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaft versagt haben. Dieser Diskurs wird von den Interviewpartnern auch auf andere obdachlose Menschen angewandt, um sich von ihnen abzusetzen. Solidarische Praxen untereinander würden so noch einmal zusätzlich erschwert.
  • der, dem sozialen Feld, eigene Habitus entmutige die Interviewpartner sich politisch zu beteiligen. Hier spiegelt sich deren faktisch inferiore Stellung subjektiv wider, indem sie davon ausgehen, dass ihre eigenen Interessen im politischen System ohnehin keine Rolle spielen und politische Partizipationsversuche ohnehin sinnlos seien.

Das vierte Kapitel widmet sich dann den Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit in der Arbeit mit obdachlosen Menschen. Die Autorin zeigt zu Recht auf – und kann dies auch ansatzweise am empirischen Material nachzeichnen – dass die Arbeit mit obdachlosen Menschen sich stark auf die Bereitstellung von Mitteln und Angeboten der Existenzsicherung konzentriere. Das ist angesichts der Lage vieler obdachloser Menschen einerseits verständlich. Andererseits geht dabei allerdings die politische Dimension oft verloren, sodass sich die Soziale Arbeit vor allem individualisierend auf die Nutzenden bezieht. Neben existierenden Konzepten und Ideen solidarischer und bewegungsorientierter Arbeit mit den Nutzenden, breitet die Autorin – wiederum in Anlehnung an Pierre Bourdieu – die Idee einer „Sozioedukation“ aus, durch die es den obdachlosen Menschen ermöglicht werden soll, mithilfe der Sozialen Arbeit ihre eigene Lage besser zu verstehen und daraus Handlungsmöglichkeiten abzuleiten, bzw. Handlungsmacht zu erlangen.

Das abschließende fünfte Kapitel fasst die Ergebnisse noch einmal zusammen. Die Hinderungsgründe für politische Partizipation werden noch einmal verdichtet vorgestellt und die ambivalente Rolle, die die Soziale Arbeit im Hinblick auf obdachlose Menschen spielt, bzw. auch spielen kann, wird nochmals aufgezeigt.

Diskussion:

Das Buch liefert einen sehr guten ersten Einblick in dieses bislang kaum erforschte Thema. Die Engführung von politischer Partizipation auf die Teilnahme (bzw. nicht-Teilnahme) an Wahlen ist insofern verständlich, als es sich dabei um eine vermeintlich niedrigschwellige Form der Partizipation handelt, Ausschlüsse, die obdachlose Menschen im Hinblick auf höherschwellige Formen der politischen Partizipation erfahren, werden also wahrscheinlich noch deutlicher ausfallen. Auch wenn die empirische Basis etwas dünn ausfällt (Gruppendiskussionen mit 3 obdachlosen jungen Erwachsenen) sind die Ergebnisse der Auswertung doch nachvollziehbar und höchst instruktiv, sodass davon ausgegangen werden kann, dass sich die o.g. Einflussfaktoren (Kapitel 3) auf politische Partizipation auch bei einer größeren Fallzahl wiederfinden werden. Die im vierten Kapitel gemachten Vorschläge zu einer (auch) politischen Arbeit mit obdachlosen Menschen knüpfen allerdings nur lose an die empirischen Ergebnisse an, wenngleich sie für sich genommen durchaus Sinn machen und insb. im Hinblick auf den Vorschlag einer „Sozioedukation“ innovativ sind.

Fazit:

Das Buch gibt einen kurzen, instruktiven Einblick in die Zusammenhänge zwischen der Lebenslage von obdachlosen jungen Erwachsenen und den subjektiv wahrgenommenen politischen Partizipationsmöglichkeiten. Die empirische Studie zeigt, dass der objektive Ausschluss und die Armut dieser Menschen es ihnen erschwert, politischen Einflussmöglichkeiten wahrzunehmen. Auch die Soziale Arbeit hätte hier prinzipiell Möglichkeiten der Unterstützung, diese werden aber von ihr bislang nur sehr wenig wahrgenommen.

Rezension von
Prof. Dr. Christof Beckmann
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Es gibt 1 Rezension von Christof Beckmann.

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Zitiervorschlag
Christof Beckmann. Rezension vom 02.09.2024 zu: Martina Pistor (Hrsg.): Welchen politischen Einfluss haben Wohnungslose? Perspektiven von Martina Pistor - Soziale Arbeit kontrovers 33. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2024. ISBN 978-3-7841-3680-6. Hrsg. v. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32516.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


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