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Christian Lindmeier, Marek Grummt et al. (Hrsg.): Neurodiversität und Autismus

Rezensiert von Dr. Richard Hammer, 23.09.2024

Cover Christian Lindmeier, Marek Grummt et al. (Hrsg.): Neurodiversität und Autismus ISBN 978-3-17-041266-8

Christian Lindmeier, Marek Grummt, Mechthild Richter (Hrsg.): Neurodiversität und Autismus. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 206 Seiten. ISBN 978-3-17-041266-8. 34,00 EUR.
Reihe: Pädagogik im Autismus-Spektrum.

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Thema

Mit der Buchreihe „Pädagogik im Autismus-Spektrum“ konzipiert der Verlag Kohlhammer ein Programm, um im deutschsprachigen Raum einen fachlichen Diskurs zu eröffnen, der im angelsächsischen Raum längst geführt wird. Im Zentrum dieses Diskurses steht das Konzept der Neurodiversität, das von der international agierenden Selbstvertretungsbewegung autistischer Menschen entwickelt wurde und zunehmend in unterschiedlichen humanwissenschaftlichen Fachdisziplinen und weiteren sozialen Bewegungen rezipiert wird. Der Begriff und das Konzept der Neurodiversität implizieren zum einen die unendliche Variabilität menschlicher neuronaler Strukturen; zum anderen wird Neurodiversität als eine weitere soziale Diversitätsdimension neben Dimensionen wie Geschlecht, Klasse und ethnische Zugehörigkeit verstanden. Die erste Implikation erklärt, warum sich der Neurodiversitätsbewegung inzwischen auch andere Neuro-Minderheiten wie z.B. die Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit einer zugeschriebenen Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) anschließen. Die zweite ist der Grund, warum die einzelnen Bände der Reihe sowohl die Anschlussfähigkeit des Konzepts für eine sozial- und erziehungswissenschaftliche Autismusforschung als auch die praktischen Konsequenzen für autismussensible, pädagogische Institutionen (z.B. Schulen) ausloten sollen.

Herausgeber

Prof. Dr. Christian Lindmeier leitet die Arbeitsbereiche „Pädagogik bei kognitiver Beeinträchtigung“ und „Pädagogik im Autismus-Spektrum“ am Institut für Rehabilitationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Dr. Marek Grummt und Dr. Mechthild Richter sind dort wissenschaftliche Mitarbeitende.

Aufbau

Der Auftakt-Band der Reihe „Pädagogik im Autismus-Spektrum“ befasst sich zunächst mit sozial- und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven auf das Konzept der Neurodiversität. Darauf aufbauend wendet er sich dann (schul-)pädagogischen und didaktischen Anschlüssen zu und bezieht sich anschließend auf partizipative (Autismus-)Forschung als eine Hauptforderung der Neurodiversitätsbewegung. Ferner wird ein Einblick in erste interdisziplinäre Neurodiversitätsforschungen gegeben.

Das Buch schließt ab mit dem Verzeichnis der beteiligten Autor*innen.

Inhalt

Der erste Teil des Buches befasst sich mit den sozial- und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven der Neurodiversität. Es führt zunächst ein in das Paradigma der Neurodiversität, das sich gegen das Pathologie-Paradigma abgrenzt, welches auf Anpassung und Reduktion autistischer Wesensmerkmale abzielt. Im Gegensatz dazu werden „im Neurodiversitäts-Paradigma Interventionen, Unterstützungsangebote, Innovationen und Novellierungen gefordert und unterstützt, die im Einvernehmen mit den neurodivergenten Menschen auf Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens und der wahrgenommenen Lebensqualität zielen“ (S. 17).

Das 2. Kapitel bietet eine historisch vergleichende Perspektive zum Thema Neurodiversität im Zusammenhang mit Autismus an, die anhand der Analyse einschlägiger Fachzeitschriften im englischsprachigen und deutschsprachigen Bereich durchgeführt wird.

Das sehr theoretische Kapitel zum Thema „Neurodiversität und Autismus aus Sicht der Pädagogik der Nicht-Behinderung“ beschäftigt sich mit der Frage welches im pädagogischen Diskurs die relevanten Differenz- und Dominanzverhältnisse sind und wie pädagogische Angebote gestaltet werden müssen, damit sich Subjekte entfalten und Anerkennung finden können.

Das Kapitel „Neurodiversität – Ein inklusiveres, gendergerechtes Konzept?“ befasst sich noch einmal ausführlich mit der Paradigmen- Diskussion und bezieht insbesondere die Genderfrage mit ein.

Das Kapitel „Neurodiverses In-der-Welt-Sein“ kritisiert die in der Schulmedizin herrschende Normierung des „In der Welt seins“ und stellt demgegenüber „Autistische Denkstile“ dar, welche ein anderes „In-der-Welt-sein“ zur Folge haben. Wird die Vielfalt im Denken und Erleben autistischer Menschen anerkannt, so entsteht ein Rahmen, in dem sich jeder nach seinen Möglichkeiten entwickeln kann.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit dem Thema (Schul‐)Pädagogik und Neurodiversität. Es stellt zunächst die Gelingensbedingungen für eine neurodiversitätssensible Schule dar um dann differenziert auf die „Neurodiversität als pädagogische Grundhaltung“ einzugehen – verbunden mit der Forderung nach spezifischer Qualifizierung der Lehrkräfte, die „neurodiversitätssensible Schulsituationen“ schaffen müssen. Sehr praxisorientiert zeigt sich das Kapitel „Mathematischer Anfangsunterricht unter der Berücksichtigung von Neurodiversität“. Der Autor stellt ein von einer Forschungsgruppe entwickeltes Unterrichtsmaterial vor, das „sich zur barrierearmen bzw. barrierefreien Gestaltung des Mathematikunterrichts für diese Schüler*innen eignet“ (S. 128). Das abschließende Kapitel des zweiten Teils setzt sich konkret auseinander mit der im Rahmen einer Dissertation erfragten Einschätzung von Sekundarschullehrkräften über die aktuelle schulische Situation autistischer Schüler*innen und „somit auch indirekt mit dem Umgang mit diversitätssensiblem Unterricht“ (S. 131).

Der dritte Teil des Buches stellt zunächst verschiedene autistische Selbsthilfegruppen mit ihren Möglichkeiten der „Autistische Selbstvertretung“ dar und konkretisiert dies am Beispiel des Projektes „Heureka!“, das an der LMU München und dem Max-Planck-Institut für Psychiatrie durchgeführt wurde. Angetrieben vom partizipativen Ansatz der Neurodiversitätsbewegung wurden Menschen mit Autismus aktiv in die Forschungsarbeit mit einbezogen. Dies gilt auch für das „Partizipative Forschungsnetzwerk Autismus in der Schweiz (PFAU)“ und dem Zentrum der Neurdiversitätsforschung (ZNDF) Hamburg, deren Aktivitäten in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden.

Diskussion

Das Buch „Neurodiversität und Autismus“ bietet eine sehr fundierte Einführung in das Thema „Neurodiversität“, das in seinem historischen Kontext und in seiner gesellschaftlichen Reichweite dargestellt wird. Es befasst sich spezifisch mit der Situation von Menschen mit Autismus und macht deutlich, dass ihre Wahrnehmung der Welt und damit auch ihre Sicht auf die Welt eine andere ist als die der sog. neurotypischen Menschen. Dies nicht zu akzeptieren und sie durch therapeutische Maßnahmen an die Norm der „neurotypischen Welt“ anzupassen ist zum einen ein Eingriff in deren Persönlichkeitsrechte, zum anderen aber auch ein Verlust für die Gesellschaft, da damit auch deren Potenzial unterdrückt wird. Dass es auch anders geht, zeigen die Beispiele aus der Schulpädagogik und aus der diversitätssensiblen Forschung, welche die Besonderheiten der Menschen mit Autismus anerkennen und berücksichtigen und in die Forschung bewusst mit einbeziehen.

Fazit

Durch die Beiträge zahlreicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesem Band wird das Thema „Neurodiversität und Autismus“ endlich im deutschsprachigen Raum der Fachöffentlichkeit vorgestellt. Die theoretisch fundierte Auseinandersetzung ergänzt durch praktische Beispiele schafft eine gute Grundlage dafür, sich an dieser Diskussion aktiv zu beteiligen.

Rezension von
Dr. Richard Hammer
Dipl. Motologe
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Es gibt 32 Rezensionen von Richard Hammer.

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Zitiervorschlag
Richard Hammer. Rezension vom 23.09.2024 zu: Christian Lindmeier, Marek Grummt, Mechthild Richter (Hrsg.): Neurodiversität und Autismus. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-17-041266-8. Reihe: Pädagogik im Autismus-Spektrum. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32518.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.


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