Mathias Schwabe: Das Scheitern von pädagogischen Projekten – zudem eine etwas andere Geschichte der Sozialpädagogik
Rezensiert von Lukas-Georg Schima, 04.06.2025

Mathias Schwabe: Das Scheitern von pädagogischen Projekten – zudem eine etwas andere Geschichte der Sozialpädagogik. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 773 Seiten. ISBN 978-3-7799-7846-6. D: 95,00 EUR, A: 97,20 EUR.
Thema
Mathias Schwabe behandelt in seinem neuen Buch das Scheitern pädagogischer Projekte (Praxis) und analysiert die verschiedenen Ursachen und Dynamiken, die zum Misserfolg führen (Theorie), um grundlegende Einsichten bezogen auf das Gelingen bzw. Misslingen zu erhalten.
Autor
Dr. Mathias Schwabe war Professor für Methoden an der Evangelischen Hochschule Berlin, ist Systemischer Berater, Supervisor und Denkzeit-Trainer. Er hat umfangreiche Erfahrungen als Sozialpädagoge und leitete Einrichtungen der stationären Hilfen zur Erziehung.
In seinen Veröffentlichungen beschäftigt er sich insbesondere mit den Themen Hilfeplanung (das Buch „Methoden der Hilfeplanung“ kann als Standardwerk betrachtet werden), Fallverstehen, Qualität in den stationären Erziehungshilfen, Pädagogik mit „schwierigen“ Jugendlichen und „Systemsprengern“ sowie mit den Thema Umgang mit Gewalt und Aggression in den Arbeitsfeldern der Jugendhilfe. Spätestens mit seinem Buch „Die 'dunklen Seiten“ der Sozialpädagogik“ und dem hier rezensierten Buch zum Scheitern von pädagogischen Projekten verlässt Schwabe die Rahmung der klassischen, sozialpädagogischen Fach- und Lehrbuchwelt.
Aufbau
Abgesehen von einer Einführung besteht das Buch somit aus 2 Hauptteilen. Im überwiegend deskriptiven Teil A, einer „Phänomenologie des Scheiterns“ (Kap. 2 bis 11, rund 500 Seiten) werden 9 pädagogische Projekte (Ausgangspunkt und Grundlage für die theoretischen Reflexionen) vorgestellt, die als gescheitert betrachtet werden können. Aber nicht nur. Die Spannweite reicht zeitlich gesehen von der Erziehung des Infanten zu Parma (18. Jh.) über u.a. Pestalozzis pädagogische Projekte, Makarenkos Gorkij-Kolonie bis hin zu einem Projekt für gewaltbereite Jugendliche (2010/2011). Teil A endet mit einer Zusammenfassung in Form von neun Steckbriefen zum Scheitern der Projekte.
Teil B, „Theoretische Reflexionen: Beiträge zu einer Instituetik des Scheiterns“ (Kap. 12 bis 15, rund 260 Seiten), bezieht sich auf Teil A, analysiert, ordnet ein, vergleicht, unterscheidet, führt zusammen, identifiziert Querschnittsthemen und soll zu „grundlegenden Einsichten“ bezüglich des Misslingens und auch des Gelingens führen (S. 27).
Wie man es aus anderen, komplexen und umfangreichen Büchern von Schwabe kennt (etwa aus „Die ‚dunklen Seiten‘ der Sozialpädagogik“), gibt Schwabe Hinweise und Anregungen für das Lesen, auch das selektive Lesen des Buches. So folgte der Verfasser dieser Rezension, der sich u.a. mit Projektentwicklung beschäftigt und den die von Schwabe angebotenen, theoretischen Rahmungen des Scheiterns besonders reizten, der Empfehlung auf S. 27: Lesen der neun Steckbriefe und dann Direkteinstieg in Teil B. (Am Ende wurde es natürlich doch das ganze Buch).
Der Fokus dieser Rezension liegt daher auf dem Theorieteil des Buches. (Einen anderen Schwerpunkt hatte Wolfgang Schneider in seiner Rezension vom 9.7.2024 (https://www.socialnet.de/rezensionen/​31610.php).
Inhalt
Kapitel 1 gibt eine Einführung in das Thema des Scheiterns pädagogischer Projekte und bietet einen Überblick über die Struktur des Buches. Es wird erklärt, warum bestimmte Projekte ausgewählt wurden und wie das Scheitern als ein vielseitiges, historisches und kulturelles Phänomen betrachtet wird.
Die im ersten Hauptteil, der Phänomenologie des Scheiterns, in den Kapiteln 2 bis 10 dargestellten historischen und sehr unterschiedlichen Fallstudien führen multiperspektivisch (inhaltlich, kulturell, gesellschaftlich, zeitlich, biographisch, institutionell) in das Thema ein und bereiten den Boden für die theoretischen Betrachtungen des zweiten Hauptteils.
Projekte von bekannten Persönlichkeiten wie Pestalozzi, Tolstoi und Makarenko werden auf eine Weise rekonstruiert, die sowohl historische als auch biographische Kontexte beleuchtet. Die Kapitel folgen einem klaren Schema, das die handelnden Akteure, das Projektumfeld und die Gründe für das Scheitern thematisiert.
In den Fallstudien wird Scheitern nicht nur als individuelles Versagen betrachtet, sondern auch als ein komplexes Phänomen, das durch Kommunikationsprobleme, Machtkämpfe und organisatorische Zwänge entstehen kann.
Kapitel 11 behandelt Querschnittthemen aus den Kapiteln 2 bis 10, zentrale Muster und wiederkehrende Themen. Es wird untersucht, welche strukturellen und kommunikativen Dynamiken unabhängig von den spezifischen Projekten zum Scheitern führten. Die Analyse identifiziert häufig auftretende Herausforderungen, darunter institutionelle Abwehrmechanismen und interpersonale Konflikte. Zudem wird die Rolle historischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für pädagogisches Scheitern diskutiert. Die gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage für die theoretische Reflexion im nächsten Buchabschnitt
Kapitel 12 (Gründe für das Scheitern von pädagogischen Projekten) kategorisiert die Ursachen für das Scheitern und geht einen Schritt weiter. Neben individuellen und organisatorischen Gründen werden auch „Meta-Gründe“ und systemische Faktoren analysiert, die den Erfolg oder Misserfolg beeinflussen. Diese Betrachtungen leiten zu den Theorien des Scheiterns in Kapitel 13 über.
Mit verschiedenen theoretischen Ansätzen werden im zweiten Hauptteil (insbesondere Kapitel 13) des Buches die pädagogischen Projekte im Hinblick auf ihr Scheitern analysiert, eingeordnet, verglichen, unterschieden, zusammengeführt und Querschnittsthemen identifiziert. Schwabe verwendet dabei den Begriff der „Instituetik des Scheiterns“, um die Wechselwirkungen zwischen persönlichen, organisatorischen und strukturellen Faktoren darzustellen.
Alle Theorien beschäftigen sich mit dem Scheitern sozialer oder institutioneller Prozesse. Sie betonen, dass Scheitern nicht allein von individuellen Fehlern, sondern von systemischen, strukturellen oder kommunikativen Faktoren abhängt. Mehrere Ansätze (Konstruktivismus, ANT, Anomie-Theorie) betrachten das Scheitern als relationalen oder interaktiven Prozess zwischen Akteuren. Theorien wie die Planungstheorie und die Netzwerk-Akteur-Theorie heben hervor, dass Scheitern nicht einfach einer Person oder Entscheidung zuzuordnen ist, sondern durch komplexe Interaktionen entsteht.
Die (nicht begründete) Auswahl der sechs Theorien, die als Reflexionsinstanzen genutzt werden, bietet einen vielseitigen Zugang zu den Ursachen und Dynamiken des Scheiterns. Theorien wie die Netzwerk-Akteur-Theorie von Bruno Latour und die Analyse von „wicked problems“ ermöglichen eine differenzierte Betrachtung. Schwabe hebt die Komplexität des Scheiterns hervor, das oft von Kommunikationsbrüchen, Machtkonflikten und organisatorischen Spannungen geprägt ist. Scheitern kann und soll nicht nur als objektive Tatsache, sondern auch als interpretationsabhängiges Phänomen begriffen werden.
Es ist hilfreich, dass Mathias Schwabe eine strukturelle Orientierung im Reflexionsprozess bietet. Neben der sichtbaren äußeren Struktur der Unterkapitel ziehen sich mehrere innere rote Fäden durch die Betrachtungen der einzelnen Theorien, wie etwa Aussagen zur jeweiligen Kernidee, zum jeweiligen Fokus, zur Perspektive auf die Akteure und zu den Ursachen für das Scheitern. Die Spannweite der dargestellten Ansätze lässt sich in der Zusammenschau gut erkennen:
- Unterschiedliche Bewertungen durch Beobachter beeinflussen das Urteil über Erfolg oder Scheitern (Konstruktivistisch-kommunikationstheoretischer Ansatz). Fokus auf Kommunikation und Wahrnehmung.
- Überforderung durch unlösbare oder sich wandelnde Probleme (Klassische Planungstheorie & „wicked problems“). Fokus auf Planung und Steuerung.
- Fehlende Stabilität oder Dynamik in Netzwerken führt zum Scheitern (Netzwerk-Akteur-Theorie ANT). Fokus auf Soziale und technische Netzwerke.
- Fehlendes Gleichgewicht zwischen Macht und Prestige destabilisiert Organisationen (Anomie-Theorie, Daniel Barth). Fokus auf Machtstrukturen.
- Eskalierende Unsicherheiten zerstören Kommunikationsprozesse (Kontrollverlust-Theorie, Gerd E. Schäfer). Fokus auf psychologische Faktoren.
- Kritische Bereiche in Organisationen destabilisieren Prozesse (Theorie der sensiblen Zonen in Institutionen). Fokus auf Institutionelle Dynamiken.
Jeder dieser Ansätze bietet eine andere analytische Perspektive auf das Scheitern von pädagogischen Projekten, wobei der Fokus von strukturellen Problemen und Netzwerken bis hin zu institutionellen und persönlichen Dynamiken reicht. Eine zusammenfassende und vergleichende Analyse wird so möglich, macht Unterschiede deutlich und weitet somit den Blick.
Das 14. Kapitel hinterfragt die binäre Einteilung von Projekten in „gescheitert“ oder „gelungen“. Es wird untersucht, welche Kriterien zur Bewertung von Projektergebnissen genutzt werden und inwieweit diese sinnvoll sind. Dabei zeigt sich, dass viele Projekte sowohl gelungene als auch misslungene Aspekte enthalten. Zudem werden alternative Bewertungsansätze diskutiert, die Ambivalenzen und Wechselwirkungen zwischen positiven und negativen Ergebnissen berücksichtigen. Ziel ist es, eine differenziertere Perspektive auf den Erfolg und den Misserfolg pädagogischer Projekte zu entwickeln.
Kapitel 15 wirft abschließend die Frage auf „(Was) Kann man aus dem Scheitern von Projekten lernen?“ und behandelt die Möglichkeiten der Reflexion und Verarbeitung von Scheitern. Es stellt verschiedene Formen des Scheiterns vor und schlägt eine Typologie vor, um diese systematisch zu erfassen. Zudem werden praktische Empfehlungen gegeben, wie sich das Risiko des Scheiterns minimieren oder besser bewältigen lässt. Schwabe betont, dass nicht jedes Scheitern vermeidbar ist, sondern manchmal als notwendiger Bestandteil von Lernprozessen betrachtet werden sollte.
Diskussion
Einen Bewertungsmaßstab für das Buch gibt Schwabe auf S. 27 selbst vor: „Ich bin mir bewusst, dass das Buch daran gemessen werden wird, ob es ihm gelingt, das heterogene Material aus Teil A mit jeweils disparaten Zeitkontexten und Dynamiken analytisch auseinanderzuhalten und zugleich zusammenzuführen. Das soll Teil B leisten.“
Teil B leistet es.
Klar ist, dass sich beide Hauptteile A und B durch Heterogenität auszeichnen und qualifizieren. Das Buch lebt geradezu von Heterogenität und Vielfalt und Schwabe gelingt so eine interdisziplinäre Verknüpfung: Die Verbindung von pädagogischen, soziologischen und kommunikationstheoretischen Ansätzen ermöglicht einen ganzheitlichen Blick auf die Ursachen des Scheiterns.
Die detaillierten Fallstudien sind gut recherchiert, gefallen durch ihre historische Tiefenschärfe und erlauben einen Einblick in die historische Entwicklung und die wiederkehrenden Dynamiken des Scheiterns. Schwabe gelingt es, mit seinen Falldarstellungen aus dem (Menschheits)Leben, die er durch die theoretischen Ansätze neu rahmt, das Thema Scheitern in der Sozialpädagogik innovativ zu beleuchten.
Gleichwohl muss auch gesehen werden, dass die Konzentration auf das Scheitern den Eindruck erwecken könnte, dass Erfolg in pädagogischen Projekten eine Ausnahme darstellt, während positive Aspekte und Erfolgsgeschichten vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten.
Die besondere Stärke seines Buches, der Theorieteil, mit seinen tiefgründigen Analysen, könnte einerseits für Praktiker zu abstrakt und schwer zugänglich sein, was die direkte Anwendbarkeit der Erkenntnisse im Alltag erschweren könnte. So wären Lösungsansätze wünschenswert, um das Gelernte stärker in die Praxis zu übertragen. Andererseits hat gerade der Theorieteil eine besondere Inspirationsqualität und man vermisst keine vorgegebenen Ansätze. Hinzu kommt, dass die Gründe für Scheitern sehr komplex, aber auch sehr banal sein können. Es gibt daher (richtigerweise) keine Anleitung nach dem Motto „Aus Fehlern lernen“ oder „Vermeide diese oder jene Fehler, dann ist Dein Projekt erfolgreich.“ Auch wenn man alles richtiggemacht hat, muss sich nicht zwingend Erfolg einstellen. Vielmehr geht es Schwabe darum, dass ein Bewusstsein über die Möglichkeit des Scheiterns zu einer realistischeren Erwartungshaltung und besseren Vorbereitung auf unvorhergesehene Herausforderungen beitragen kann. Also, kein Kochbuch für Erfolg, aber eine kluge Reflexionshilfe.
Durch seine detaillierten theoretischen Analysen geht Schwabe weit über die klassische Betrachtung von pädagogischem Erfolg und Misserfolg hinaus. Damit liefert er eine neue Perspektive auf die Sozialpädagogik, die das Scheitern als integralen Bestandteil von Lern- und Veränderungsprozessen betrachtet. Das Buch richtet sich sowohl an Wissenschaftlerinnen als auch an Praktikerinnen, die verstehen wollen, wie man mit Scheitern konstruktiv und natürlich auch präventiv umgehen kann.
Fazit
Schwabes Werk ist ein bedeutender Beitrag zur Sozialpädagogik, der das Thema Scheitern differenziert und multiperspektivisch behandelt. Es ist eine wertvolle Lektüre für Pädagoginnen, Sozialarbeiterinnen und Wissenschaftlerinnen, die sich mit den Herausforderungen und Komplexitäten pädagogischer Projekte auseinandersetzen. Das Buch macht kluge Nachdenkangebote und schärft die eigene Reflexionskompetenz.
Rezension von
Lukas-Georg Schima
Dipl. Sozialpädagoge, Dipl. Diakoniewissenschaftler
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