Phil C. Langer, Niclas O´Donnokoé (Hrsg.): Transgeschlechtlichkeit und Psychoanalyse
Rezensiert von Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, 11.03.2025

Phil C. Langer, Niclas O´Donnokoé (Hrsg.): Transgeschlechtlichkeit und Psychoanalyse. Perspektiven jenseits des Kulturkampfs.
transcript
(Bielefeld) 2024.
286 Seiten.
ISBN 978-3-8394-7168-5.
Reihe: Queer Studies - 37.
Thema
Die Herausgeber weisen im einleitenden Kapitel darauf hin, dass Trans* in der Gegenwart zur ultimativen Projektionsfläche in einem politischen und emotional aufgeladenen Kulturkampf avanciert ist und zu einem Container geworden ist, „in den alles Mögliche hineingeworfen wird: schädliche Frühsexualisierung im Kindergarten, Unisex-Toiletten als potentielle Vergewaltigungsorte, wahrgenommene Zwänge zu Formulierungen wie ‚divers’ in Stellenausschreibungen und die Anmaßungen des Gender-Sternchens“ (S. 15). Mit ihrem Werk wollen sie „Widerspruch gegen die stigmatisierende Dämonisierung von trans* Menschen“ einlegen (S. 15) und über die Publikation von an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) verfassten Qualifizierungsarbeiten „junge, engagierte Stimmen vernehmbar werden zu lassen, getragen von der Hoffnung, dass sie mit ihren fundierten Analysen und ihrem reflektierten Ethos in der psychoanalytischen Community und darüber hinaus einer breiten und inklusiven Debatte Vorschub leisten können“ (S. 29).
Autor:innen
Der erste Herausgeber Phil C. Langer ist Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie und Sozialpsychiatrie an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und assoziiertes Mitglied am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Der zweite Herausgeber Niclas O’Donnokoé forscht an einem Projekt zu rechtsextremen Jugendbünden und arbeitet seit 2023 am Erich-Fromm-Study-Center. Er studierte Psychologie an der Universität zu Köln und der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin.
Die Autor:innen der verschiedenen Beiträge sind Ulrike Auge, Ronja Gabriel, Annette Güldenring, Nicolas Hauck, Aaron Lahl, Philipp Läufer, Ilka Schröder, Majbritt Thögersen und Barbara Zach.
Entstehungshintergrund
„Die Idee zu diesem Buch entstand recht spontan, als im Wintersemester 2022/23 und Sommersemester 2023 einige ausgezeichnete Masterarbeiten an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) zu Trans* geschrieben worden sind“ (S. 28). Hinzu kamen weitere wissenschaftliche Kolleg:innen. Wichtig war den Herausgebern, dass es sich in den Beiträgen „um kritisch-reflektierende und auch selbstreflexive Einladungen zur Eröffnung eines gemeinsamen Denkraums zum Verhältnis von Transgeschlechtlichkeit und Psychoanalyse handeln würde“ (S. 29).
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst 11 Kapitel mit je einem Literaturverzeichnis und Angaben zu den Autor:innen des Werkes.
Das 1. Kapitel, verfasst von den Herausgebern Nicolas O’Donnokoé und Phil C. Langer, mit dem Thema „Psychoanalyse und Trans-/​Geschlechtlichkeit. Versuch einer verständnisvollen Verstrickung“ führt in die Thematik des Buches ein.
Das 2. Kapitel „Geleitwort“, stellvertretend für die studentische Initiative Queer IPU von Tove Gersitz und Alice Harrison verfasst, stellt die Konfliktkontexte, die den Ausgangspunkt des Buches darstellen, zusammen und diskutiert sie kritisch.
Ilka Schröder thematisiert und problematisiert im 3. Kapitel „Psychoanalytische Blicke auf Trans*geschlechtlichkeit. Eine Geschichte der Pathologisierung“ das Thema Trans* in zentralen deutschsprachigen psychoanalytischen Debatten, die weitgehend von Pathologisierung geprägt sind.
In ihrem poetischen, von autobiografischen Erfahrungen geprägten Beitrag „Geschlechtliches…oder wenn eine Frau, die sich für einen Mann hält, als verrückt gilt, gilt das für eine Frau, die sich für eine Frau hält, nicht weniger“ stellt Annette Güldenring im 4. Kapitel dar, dass für eine geschlechtliche Innenschau wissenschaftliche Evidenzen nicht geeignet sind, sondern dass es darauf ankommt, dem Fühlen zu trauen.
Nicolas Hauck, der Autor des 5. Kapitels mit dem Titel „Sackgassen im Diskurs über Transgeschlechtlichkeit und das psychoanalytische Korrektiv“, stellt zwei gegensätzliche Diskurslinien dar: die Diagnostik-These, die nach dem „wahren“ trans* Sein suche und dabei die sozial-historische Bedingtheit geschlechtlicher Subjektivierungen nicht berücksichtige, und die zweite These, Transgeschlechtlichkeit sei eine unvermittelte Internalisierung sozialer, medialer Diskurse und dabei die Eigendynamik psychischer Prozesse nicht beachte. Als Korrektiv schlägt der Autor ein psychoanalytisches Denken vor, das die Vermittlung von psychischem Innen und sozialem Außen systematisch denkt.
Dem Thema „Über die ‚Angst’ vor trans* Personen“ widmet sich Ulrike Auge im 6. Kapitel und kommt, ausgehend von Lacanscher Ontologie, zum Schluss, dass trans* Personen die Rolle des kulturellen Abjekts („des Verworfenen, das radikal aus dem Bereich dessen, was ein Subjekt ausmacht, Ausgeschlossene“, S. 143) einnehmen und zur Aufrechterhaltung der imaginär-bruchlosen Ordnung stellvertretend bekämpft werden.
Aaron Lahl entwirft im 7. Kapitel „Der Wunsch nach Identität. Psychoanalytisch nachdenken über (Trans-)Geschlechtlichkeit im Anschluss an Jean Laplanche“ ein Modell zur Entstehung von Geschlechtlichkeit. Im Sinne von Laplanche ist (geschlechtliche) Identität eine Antwort auf rätselhafte, sexuelle Botschaften, die vom Unbewussten der Eltern auf das heranwachsende Kind übertragen werden. Aus dieser Sicht ist Geschlecht – und zwar cis ebenso wie trans* – immer eine vorläufige und unvollständige Antwort auf unbewusste, rätselhafte sexuelle Botschaften.
Der Beitrag des 8. Kapitels „Behandlung zwischen Autonomie und Verunsicherung. Herausforderungen der Kinder- und Jugendpsychotherapie bei Geschlechtsinkongruenzen und -dysphorien“ von Ronja Gabriel ist dem brisanten Thema der psychotherapeutischen Praxis, insbesondere wenn es um trans* Kinder und Jugendliche geht, gewidmet. Wichtig ist für diese Begleitungen die Bereitstellung eines offenen Raumes mit „einer respektvollen und beurteilungsfreien Wertschätzung der Individualität der Patient*innen und ihrer geschlechtlichen Selbstwahrnehmung“ (S. 193), wobei der Kinder- und Jugendpsychotherapie die besondere Aufgabe zufällt, als zentrale Drehscheibe der Behandlung zu fungieren.
„Die cis Analytikerin als Resonanzkörper. Eine Analyse des Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehens in der Arbeit mit queeren und trans* Analysand*innen“ behandelt das 9. von Barbara Zach verfasste Kapitel. Ihm liegt ein Vortrag zugrunde, den die Autorin im Mai 2023 in einer Vortragsreihe der IPU gehalten hat. Notwendig ist in diesen Behandlungen ein selbstreflexives, überlegtes Vorgehen, wodurch sich ein diskriminierungsfreier Weg für eine Begegnung von Trans- und Cisgeschlechtlichkeit öffnet.
Im 10. Kapitel setzt sich Majbritt Thörgensen in ihrem Beitrag „Kritische Diskussion der True Gender Therapy nach Diane Ehrensaft“ mit dem Konzept von Diane Ehrensaft auseinander, die sich auf die Arbeit mit gender-nonkonformen Kindern spezialisiert und den gender-affirmativen Behandlungsansatz „True Gender Self Therapy“ entwickelt hat. Die Kritik der Autorin richtet sich insbesondere gegen Diane Ehrensafts Annahme einer konfliktfreien Geschlechtsidentität, die lediglich einer Förderung und Unterstützung bedürfe. Fazit der kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept von Ehrensaft: „Aus der theoretischen Annahme, dass die Entwicklung der Geschlechtsidentität immer ein konfliktreicher Prozess ist, ergibt sich m.E., dass die psychodynamische Suche nach Gründen für den transgeschlechtlichen Wunsch nicht zwangsläufig bedeutet, dass diesem ein Krankheitswert zugeschrieben wird“ (S. 252).
Im Kapitel 11. „Genderbezogener Stress. Befunde einer empirisch-quantitativen Studie zur Weiterentwicklung eines Messinstruments für Coping mit Minderheitenstress“ berichtet Philipp Läufer von den Resultaten einer im Rahmen seiner Masterarbeit durchgeführten Studie. Die Ergebnisse der Studie zeigen, wie wichtig ein ressourcenorientiertes Arbeiten zur Gesundheitsförderung ist. In diesem Zusammenhang weist der Autor auch auf die Notwendigkeit hin, dass die Psychotherapeut:innen auch die institutionelle Diskriminierung, die ihre Patient:innen in der Gesellschaft erleiden, berücksichtigen müssen.
Diskussion
Es ist den Herausgerbern dieses Buches zu danken, dass sie sich an das schwierige Thema „Transgeschlechtlichkeit und Psychoanalyse“ herangetraut haben und die Leser:innen zum Denken „verführen“, wie es im 6. Unterkapitel der Einleitung heißt. Nach all den negativen, pathologisierenden Äußerungen, die im Allgemeinen von Seiten der Psychoanalyse kommen, ist es wohltuend, hier in den verschiedenen Beiträgen der Autor:innen das Thema in einer solchen Breite und Differenziertheit behandelt zu sehen. Positiv hervorzuheben ist auch, dass neben der berechtigten Kritik an den Positionen der traditionellen Psychoanalyse in praktisch allen Beiträgen auf die Möglichkeiten eines wertschätzenden, konstruktiven Umgangs mit transgeschlechtlichen Menschen eingegangen wird. Dies zeigt sich in ganz besonderer Weise bei der Auseinandersetzung beispielsweise mit den Theorien von Alenka Zupančič, Julia Kristeva und Jean Laplanche, um nur ein paar Beispiele zu erwähnen. Dabei wird deutlich, dass die Psychoanalyse eine nach wie vor brauchbare Theorie ist, die sich durchaus eignet, auch trans* und nichtbinären Menschen gerecht zu werden. Hoffnungsvoll stimmt mich auch die Tatsache, dass die Autor:innen der Beiträge zumeist der jüngeren Generation angehören. Das lässt hoffen, dass die bisherige, weithin nach wie vor von Pathologiekonzepten geprägte Haltung der Psychoanalyse sich öffnen und ändern wird. Dieses Werk sollte in allen psychoanalytischen Instituten Pflichtlektüre werden.
Fazit
Ein fachlich fundiertes, sehr informatives Buch, das sich in einer beeindruckenden Breite und Differenziertheit mit dem schwierigen Verhältnis „Transgeschlechtlichkeit und Psychoanalyse“ auseinandersetzt. Es sollte in allen psychoanalytischen Instituten Pflichtlektüre werden.
Rezension von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Klinische Psychologie Universität Basel, Psychoanalytiker (DPG, DGPT)/psychologischer Psychotherapeut in privater Praxis in Basel
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Es gibt 21 Rezensionen von Udo Rauchfleisch.