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Helen Behn: Suicide by Cop

Rezensiert von Dr. Karsten Lauber, 26.02.2025

Cover Helen Behn: Suicide by Cop ISBN 978-3-86676-863-5

Helen Behn: Suicide by Cop. Eine vergleichende Fallanalyse auf Grundlage der Pilotstudie vor dem Hintergrund veränderter Gesellschaftsstrukturen. Verlag für Polizeiwissenschaft (Frankfurt am Main) 2024. 409 Seiten. ISBN 978-3-86676-863-5. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.

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Thema

Im Showdown des Thrillers „Sieben“ tötet Detective David Mills (Brad Pitt) den Serienmörder John Doe (Kevin Spacey). Mit dieser von Doe inszenierten Tötung verbindet er die Todsünden des eigenen Neids (Doe) und des Zorns von Mills.

Die von einer Person provozierte eigene Tötung durch die Polizei lässt sich als Suicide by Cop bezeichnen. Möglicherweise trägt der in Deutschland noch geringe Bekanntheitsgrad dieses Themas dazu bei, dass der Wikipedia-Eintrag über den Film „Sieben“ noch keinen Bezug zu Suicide by Cop nimmt.

Autorin

Die Autorin, Dr. Helen Behn, studierte Kriminologie und Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und ist derzeit bei der Polizei in Niedersachsen tätig.

Entstehungshintergrund

Die vorliegende Untersuchung knüpft an eine frühere Studie der Autorin an (vgl. Behn 2019) sowie diverse Publikationen in verschiedenen Fachzeitschriften (vgl. exemplarisch Behn/Thomas 2021: 591 ff.). Die Monografie ist Teil der Schriftenreihe „Polizei & Wissenschaft“ des Verlags für Polizeiwissenschaft.

Aufbau

Die Arbeit ist in neun Kapitel gegliedert:

  1. Einleitung
  2. Einordnung des Forschungsgegenstandes
  3. Begriffsbestimmungen
  4. Forschungsstand
  5. Forschungsleitende Hypothesen
  6. Methodischer Umsetzung
  7. Ergebnisdarstellung
  8. Bewertung der Ergebnisse
  9. Ausblick

Gerahmt wird die Monografie durch ein Abkürzungs-, Tabellen- und Abbildungsverzeichnis sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis (S. 377 bis 409).

Inhalt

Die an die Pilotstudie anschließende Untersuchung bezieht sich auf den 5-jährigen Untersuchungszeitraum vom 01.01.2018 bis 31.12.2022. Das Bundesland Niedersachsen bildet den Untersuchungsraum und 301 Vorgänge die Untersuchungsgrundlage.

In der Einleitung beschreibt die Autorin den Untersuchungsgegenstand und stellt diesen als Anschlussstudie ihrer Pilotstudie für den 10-jährigen Untersuchungszeitraum 2008 bis 2017 dar. Der Forschungsstand ist bis einschließlich des Jahres 2021 berücksichtigt, die inhaltliche Erstellung des Berichts endete im Dezember 2023.

Die Einordnung des Forschungsgegenstandes im Kapitel 2 bezieht sich zunächst auf die Frage, ob es sich überhaupt um ein Kriminalitätsphänomen handelt. Daran knüpft die wissenschaftliche Einordnung an – hier der Kriminologie. Dabei weist die Autorin auf die weiterhin fehlende Etablierung einer Polizeiwissenschaft hin.

Im Kapitel 3 widmet sich die Autorin den Begriffsbestimmungen und beginnt mit dem Suizid an sich. Neben Suicide by Cop gibt es etliche alternative Bezeichnungen, die die Autorin beschreibt und abgrenzt. In diesem Zusammenhang wird ein erster Literaturüberblick, insbesondere der englischsprachigen Literatur, gewährt. Ausführlich und multiperspektivisch widmet sich Behn der Frage nach Tätern, Verursachern und Opfern.

Die Beschreibung des Forschungsstands knüpft an die erste Untersuchung der Autorin an. Vorliegende Untersuchungen werden im Kapitel 4 anschaulich zusammengefasst bzw. fließen durchgehend in die jeweiligen Kapitel ein. Zur besseren Les- und Vergleichbarkeit ist der internationale Forschungsstand kategorisiert und in einzelnen Tabellen zusammengefasst, u.a. mit Angaben zur Methodik (weitestgehend Dokumentenanalysen) und Forschungsfrage sowie den Kernaussagen der jeweiligen Untersuchung. In Bezug auf die Hellfelddaten aus Deutschland wird Bezug auf die Lagebilder zur Gewalt gegen Polizeibedienstete genommen (Polizeiliche Kriminalstatistik) und auch der 3. Periodische Sicherheitsbericht herangezogen – beide Quellen allerdings ohne nennenswerten Ertrag zum Untersuchungsgegenstand. Aussagekräftiger für Suicide by Cop zeigen sich die anschließenden Ausführungen zu den Dunkelfeldstudien. Untersuchungen über Suicide by Cop, so die Autorin im Ergebnis, lassen sich als Teil der Dunkelfeldforschung zum Thema Gewalt gegen Polizeibedienstete einordnen. Teil des Forschungsstandes ist eine Wiederholung der zentralen Ergebnisse aus der Pilotstudie der Autorin. Daran knüpfen kleinere Befragungen an, die die Autorin als Dozentin an der Polizeiakademie Niedersachsen mit Studierenden und anderen Dozenten durchgeführt hat und die anderweitig bereits publiziert wurden. Auffällig ist die Aufnahme einer geplanten, jedoch behördlich nicht unterstützten Opferbefragung durch die Autorin. Hier liegt der Mehrwert in der Wiedergabe eines fertig konzipierten Forschungsdesigns.

Das mit zwei Seiten knapp gehaltene Kapitel 5 beinhaltet die Beschreibung der „forschungsleitende[n] Hypothesen“ (S. 77):

  1. In Niedersachsen (Deutschland) liegen in den letzten fünf Jahren Fälle von (versuchtem) Suicide by Cop vor.
  2. Die Anzahl von (versuchten) SbC-Fällen hat eine Steigerung erfahren.
  3. Bei determinierten Fällen sind die extrahierbaren Motivlagen aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen verstärkt in psychischen Problemlagen verschriftlicht begründet.

Die methodische Vorgehensweise ist im Kapitel 6 beschrieben. Da diese Untersuchung eng an der Pilotstudie ausgerichtet ist, hält sich die Autorin an dieser Stelle knapp. Gleichwohl sind die Ausführungen aussagekräftig und transparent genug. Kurzgefasst handelt es sich um eine Dokumenten- bzw. Inhaltsanalyse, die sowohl quantitative als auch qualitative Elemente beinhaltet. Analysegegenstand sind Akten von Polizei und Staatsanwaltschaft. Ausführlich sind im Anschluss daran die weiteren Untersuchungsschritte beschrieben, wie die Generierung der zu untersuchenden Fälle, die Aktenanforderung, Pretest usw.

Die Präsentation der Ergebnisse sind im Kapitel 7 beinhaltet, beginnend mit den personenbezogenen Faktoren:

  • Geschlecht
  • Alter
  • Nationalität, Migrationshintergrund
  • Aufenthaltsstatus
  • Familienstand
  • Bildung und Erwerbstätigkeit
  • Kriminalpolizeiliche Erkenntnisse
  • Hafterfahrung
  • Mentale Einschränkungen (Sucht, psychische Erkrankung)

Die Untersuchung richtet damit auch einen Blick auf den Stellenwert psychischer Erkrankungen bei polizeilichen Einsätzen und den polizeilichen Umgang damit.

Die daran anschließenden situationsbezogenen Faktoren beziehen sich auf typische Einsatzdaten wie Tatort, Tatzeit oder den Einsatzanlass – bis hin zum Einsatzausgang. Der justizielle Teil beinhaltet die strafrechtlichen Tatbestände (insbesondere §§ 113, 114, 185 224 und 241 StGB), und den Verlauf der Strafverfahren, ehe das Unterkapitel mit den Motivlagen umfangreich Fallbeispiele wiedergibt. Dabei werden – wo es angezeigt ist – Vergleiche mit den Daten aus der vorangegangenen Pilotstudie hergestellt. Auffällig bei den registrierten Straftatbeständen ist das vollständige Fehlen des Tatbestands des Notrufmissbrauchs (§ 145 StGB) in den Akten der Staatsanwaltschaft. Problematisch hingegen ist, dass den Akten in knapp 22 % der Fälle nicht zu entnehmen war, ob die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung freiwillig oder unter Zwang erfolgte.

Die Bewertung der Ergebnisse ist dem Kapitel 8 zu entnehmen. Zunächst präsentiert Behn die Ergebnisse der Hypothesenprüfung, an die eine umfangreich Diskussion anschließt, die sich vor allem den gesellschaftlichen bzw. politischen Rahmenbedingungen im Untersuchungszeitraum widmet (Pandemie, Krieg in Europa u.a.). Ungewöhnlich ist, dass im Rahmen der Diskussion noch einmal intensiv auf die Analyse von Fällen eingegangen wird. Den Abschluss bildet die Beschreibung der methodischen Limitationen.

Der ebenfalls breit angelegte Ausblick beinhaltet 12 Themen, die anschlussfähig an die vorliegende Untersuchung sind. Neben methodischen Ausblicken beinhaltet das Kapitel auch Bedarfe bei der polizeilichen Aus-/Fortbildung, das Thema Sterbehilfe oder Aspekte des Täterverhaltens, soweit diese mit freiem Oberkörper oder fehlender Bekleidung agieren.

Angesichts des Informationsumfangs bietet die Autorin kapitelübergreifend kurze Zusammenfassungen an.

Diskussion

Wer sich aktuell zum Thema Suicide by Cop informieren möchte, kommt um die bisher vorliegenden Untersuchungen und Veröffentlichungen von Helen Behn nicht herum. Fast im Alleingang belegt sie das Thema in der deutschsprachigen Kriminologie. Die breit angelegte und wiederkehrend über den Tellerrand hinausblickende Monografie verdeutlicht die Notwendigkeit, abermals über den Bedarf einer Polizeiwissenschaft in Deutschland zu diskutieren.

Besonders hervorzuheben ist die umfang- und kenntnisreiche Darstellung des Forschungsstandes, insbesondere aus dem nordamerikanischen Raum. Anders als inzwischen leider häufig anzutreffen – auch in Dissertationen – legt Behn hier einen Schwerpunkt. Den deutschsprachigen Forschungsstand bedient die Autorin selbst – auch in Zusammenarbeit mit Thomas. Eine vergleichbare Zusammenfassung zum Thema dürfte aktuell an keiner anderen Stelle in der deutschsprachigen Kriminologie zur Verfügung stehen.

Die von der Autorin initiierten und durchgeführten Befragungen von Studierenden und Dozenten an der Polizeiakademie Niedersachsen verdeutlichen, wie mit überschaubarem Aufwand praxisnahe Forschung betrieben werden kann – und sich im Ergebnis auch die Attraktivität der Kriminologie in der Lehre steigern lässt (siehe dazu auch das Beispiel von Kawelovski 2016). Hilfreich ist die Binnenkenntnis der Polizei durch die Autorin, beispielsweise in Bezug auf Art und Inhalt der polizeilichen Vorgangsverwaltung (Vorgangserfassung und -bearbeitung).

Positiv hervorzuheben ist die präzise Beschreibung der methodischen Vorgehensweise, die ebenfalls über die Qualität vieler wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten hinausragt. Fast schon lehrbuchhaft werden an geeigneten Stellen wiederkehrend Schnittstellen zu weiteren kriminologischen oder polizeiwissenschaftlichen Themen aufgezeigt, beispielsweise der Kriminalgeografie (S. 97).

Im Kapitel 7 dürfen an die analysierten Motivlagen nicht zu hohe Ansprüche gestellt werden. Ob es sich durchwegs um Motive oder doch eher um Einflussfaktoren handelt, hätte Gegenstand der Diskussion (Kapitel 8) sein können. Das grundlegende Manko im Kapitel 7 ist jedoch die Ergebnisdarstellung, die ausschließlich Häufigkeitsverteilungen beinhaltet. Damit fehlt der zweite Analyseschritt, also die Prüfung bivariater Zusammenhänge derjenigen Variablen, auf die sich das Erklärungsinteresse richtet (Es handelt sich dabei um die erste unmittelbare Hypothesenprüfung). Allerdings können bivariate Zusammenhänge trügerisch sein; erst unter multivariaten Bedingungen zeigt sich, inwieweit vorhandene Zusammenhänge stabil bleiben (vgl. Lauber 2022: 211).

Ohnehin sind die forschungsleitenden Hypothesen wenig überzeugend; diese sind eher als forschungsleitende Fragen zustimmungsfähig, jedoch kaum als Hypothesen. Bereits in der Pilotstudie waren die Hypothesen kaum tragfähig und dieses Manko ist auch bei der Anschlussstelle zu thematisieren. Deshalb verwundert es nicht, wenn Erklärungsansätze mitunter spekulativ bleiben, beispielsweise bereits wegen des Anstiegs der registrierten Fallzahlen (S. 332). Mögliche Gründe prüft die Autorin dann recht umfangreich im Rahmen ihrer Diskussion (Kapitel 8), insbesondere den Pandemiebezug. Ob die Diskussion der richtige Platz für den analytischen Nachschlag ist, sei dahingestellt; schwerer wiegt das Manko der fehlenden Methodenkritik, d.h. der Begrenzung auf ausschließlich deskriptive Ergebnisse.

Soweit es darüber hinaus noch etwas zu kritisieren gibt, sind es in erster Linie geringfügige Fragen redaktioneller Art (z.B. Lesbarkeit der Abbildungen 4, 6 oder Gestaltung der Abbildungen 7, 8, 9), die angesichts der Qualität der Monografie nahezu bedeutungslos sind. Im Übrigen ist der Text gefällig geschrieben. Textfehler, die nun mal nicht ausbleiben, sind unauffällig; das bezieht sich auch auf den Fehler auf Seite 148, Fußnote 581. Der dort genannte Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg stammt aus dem Jahr 2020 und nicht aus dem Jahr 2023.

Fazit

Mit Suicide by Cop legt Helen Behn eine über 400-seitige solide Monografie vor, deren Erstellung Anerkennung verdient. Die quellenreiche Arbeit dürfte – abseits der kriminologischen Forschung – vor allem für Führungskräfte der Polizei und Polizeiverantwortliche in Ministerien von Bedeutung sein, wobei auch die allgemeine Befassung in der polizeilichen Aus- und Fortbildung zu empfehlen ist. Wünschenswerte wäre eine Fortsetzung der Untersuchung, dann jedoch mit weiterreichenden Datenanalysen.

Quellenangaben

Behn, H. (2019): Suicide by Cop in Deutschland. Eine Pilotstudie auf Grundlage einer Dokumentenanalyse von Fällen aus Niedersachsen. Frankfurt/Main.

Behn, H.; Thomas, A. (2021): Suicide by Cop, in: Kriminalistik, Nr. 11/2021, S. 591–594.

Kawelovski, F. (2016): Die offene Haustür als Einladung für den Einbrecher, in: Kriminalistik, Nr. 6/2016, S. 391–392.

Lauber, K. (2022): Kriminalpräventive Wirksamkeit der Stadtpolizei am Beispiel des Leipziger Stadtordnungsdienstes. Frankfurt am Main.

Rezension von
Dr. Karsten Lauber
M.A. (Kriminologie, Kriminalistik, Polizeiwissenschaft), M.A. (Public Administration)
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Es gibt 27 Rezensionen von Karsten Lauber.

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ISSN 2190-9245