Michaela Krützen: Zeitverschwendung
Rezensiert von David Kreitz, 23.10.2024

Michaela Krützen: Zeitverschwendung. Gammeln, Warten, Driften in Film und Literatur. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2024. 958 Seiten. ISBN 978-3-10-397172-9. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.
Thema
Was ist Zeitverschwendung? Vergeudet sein Leben, wer wartet oder gammelt, streamt oder driftet? Michaela Krützen geht diesen Fragen nach, indem sie berühmte Figuren aus Literatur und Film betrachtet: Jeff Lebowski auf der Bowlingbahn, Hans Castorp in seiner Kurklinik oder Marie Antoinette am französischen Hof. Sie beschäftigt sich mit Ilja Oblomow, der auf seinem Sofa liegt, und mit Betty Draper, die sich als Ehefrau und Mutter in Suburbia langweilt. Was erfahren wir aus Büchern, Filmen und Serien wie zum Beispiel Federico Fellinis »Die Müßiggänger«, Frank Capras »Lebenskünstler«, F. Scott Fitzgeralds »Der große Gatsby«, Bret Easton Ellis‘ »American Psycho« oder Jean-Philippe Toussaints Roman »Fernsehen« über den Umgang mit Zeit? (Fischer Verlag).
Autorin
Michaela Krützen wurde 1964 in Aachen geboren und ist seit 2001 Professorin an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sie hat mehrere Werke veröffentlicht, darunter „Klassik, Moderne, Nachmoderne. Eine Filmgeschichte“ (2015) und „Dramaturgien des Films. Das etwas andere Hollywood“ (2010). Ihre Expertise im Bereich Kommunikations- und Medienwissenschaft fließt maßgeblich in ihre Analysen ein.
Aufbau & Inhalt
Das Buch gliedert sich in zehn Kapitel, die jeweils eine zentrale Figur und deren spezifische Form der Zeitverschwendung untersuchen. Jedes Kapitel steht unter einem Leitbegriff, der die Art der Zeitverschwendung charakterisiert, und es werden Verbindungsfiguren genutzt, um die verschiedenen Charaktere miteinander zu verknüpfen. Diese Struktur ermöglicht es Krützen, ein Netzwerk von Figuren zu analysieren, dass die unterschiedlichen Facetten von Zeitverschwendung beleuchtet.
Dabei macht sie gleich zu Beginn des Buches deutlich, dass es eben nicht DIE Zeitverschwendung geben könne:
„Wenn sowohl die am Schreibtisch als auch die am Strand verbrachten Stunden als ›vertan‹ gelten können, dann ist das ein Anzeichen für die Unmöglichkeit, allgemeingültig und überzeitlich zu definieren, was Zeitverschwendung ist. (…) Das Urteil ist stets eine Frage der Perspektive, des Kontextes. Es gibt keine Tätigkeit, die per se Zeitverschwendung ist. Jede Epoche, jede Klasse und jede Kultur arbeitet sich daran ab, was sie für vergeudete Zeit hält. (…) Selbst innerhalb einer Epoche besteht keine Einigkeit, was als Zeitverschwendung gilt. (…) Was als Zeitverschwendung angesehen wird, ist außerdem altersabhängig und geschlechtsspezifisch. (…) Zeitverschwendung ist demzufolge kein allgemein zu definierender Begriff. Damit wird die Beschäftigung mit diesem Begriff und seiner Bedeutung aber nicht hinfällig – im Gegenteil. Denn was als Zeitverschwendung gilt, charakterisiert jeweils das Verhältnis einer gesellschaftlichen Gruppierung zur Arbeit und zum Müßiggang, zum Geldverdienen und zur Muße. Was eine Welt als Zeitverschwendung brandmarkt, sagt aus, wie diese Welt ist.“ (S. 15–16)
Kapitel 1: Zeremoniell
Im ersten Kapitel wird Marie Antoinette behandelt, wie sie 2006 in Sofia Coppolas Spielfilm dargestellt wird. Hier wird das höfische Zeremoniell als eine Form der Zeitverschwendung analysiert. Die Frage steht im Raum, ob es tatsächlich Zeitverschwendung war, dass für jede noch so kleine Handreichung am französischen Hof ein Adeliger oder Diener bemüht wurde – anstatt das kleine Handgriffe selbst erledigt wurden. Der Rückgriff auf Nobert Elias' „Die höfische Gesellschaft“ bietet einen theoretischen Rahmen zur Einordnung dieser Figur.
Kapitel 2: Konsum
Das zweite Kapitel widmet sich Patrick Bateman, der Hauptfigur des Romans „American Psycho“. Hier wird untersucht, inwiefern seine Fixierung auf den Konsum von Luxusgütern und Markenprodukten als Lebensvergeudung bzw. Zeitverschwendung interpretiert werden kann und welche Verbindung dies zu seiner Mordlust hat. Pierre Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ dient als Leittext zur Analyse von Batemans Charakter und dessen gesellschaftlichem Kontext.
Kapitel 3: Gammeln
Im dritten Kapitel steht Jeff Lebowski, auch bekannt als der Dude, aus dem Film „The Big Lebowski“ im Mittelpunkt. Der Kernbegriff dieses Kapitels ist das Gammeln. Die Analyse betrachtet Lebowskis Lebensstil und fragt, ob er mit den Prinzipien der Neuen Linken in Einklang steht oder diese verrät. Karl Marx und Paul Lafargue werden herangezogen, um das Konzept des Müßiggangs zu beleuchten.
Kapitel 4: Liegen
Das vierte Kapitel befasst sich mit Ilja Iljitsch Oblomow, der Hauptfigur des gleichnamigen Romans von Iwan Gontscharow (1859). Der Begriff des Liegens prägt dieses Kapitel, in dem Oblomows Nichtstun auf seinem Sofa analysiert wird. Max Webers „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ hilft dabei zu verstehen, warum im 19. Jahrhundert eine Neubewertung des Nichtstuns stattfand.
Kapitel 5: Herumlungern
Im fünften Kapitel geht es um die Hauptfiguren aus Federico Fellinis Kleinstadtsatire „Die Müßiggänger“ (1953). Maroldo, Alberto, Fausto, Leopoldo und Riccardo sind Tagediebe, die ihre Zeit mit Faulenzen verbringen und ihren Familien auf der Tasche liegen. Sie spielen Billard, besuchen Karnevalsveranstaltungen oder gehen am Strand spazieren. Gilles Deleuze wird zitiert, um zu zeigen, wie die Zeit-Bilder des Kinos der Moderne besonders geeignet sind, Zeitverschwendung darzustellen.
Kapitel 6: Warten und Driften
In diesem Kapitel wird Jay Gatsby aus F. Scott Fitzgeralds Roman „Der große Gatsby“ behandelt. Gatsbys Warten auf seine Jugendliebe Daisy symbolisiert eine radikale Form von Zeitverschwendung; während er in seinem Palast lebt und auf Enttäuschungen wartet, treiben seine Nachbarn ziellos umher – ein typisches Merkmal der verlorenen Generation der zwanziger Jahre. Martin Heideggers „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ wird herangezogen, um die Langeweile dieser Figuren zu verstehen.
Kapitel 7: Arbeit
Das siebte Kapitel thematisiert Anthony P. Kirby, den Millionär aus der Komödie „Lebenskünstler“. Hier wird gezeigt, wie Kirby durch eine Familie von Exzentrikern lernt, die schönen Seiten des Lebens zu schätzen und dadurch seinen Blick auf Arbeit verändert – was ihn letztlich dazu bringt zu erkennen, dass Arbeit oft als Zeitverschwendung angesehen werden kann.
Kapitel 8: Routine
Im achten Kapitel steht Hans Castorp aus Thomas Manns „Der Zauberberg“ im Mittelpunkt. Castorps Aufenthalt im Sanatorium erlaubt ihm ein Leben in Routine und Stillstand – eine besondere Form von Zeitverschwendung. Die Betrachtung seiner Erfahrungen wird durch Theorien von Paul Ricœur bis hin zu Albert Einstein ergänzt.
Kapitel 9: Ehe
Dieses Kapitel widmet sich Betty Draper aus der Serie „Mad Men“. Ihre Rolle als Hausfrau in einer bürgerlichen Versorgungsehe wird als Zeitverschwendung interpretiert, da sie in einem System gefangen ist, das ihre Möglichkeiten stark einschränkt. Die Verbindung zu literarischen Figuren wie Anna Karenina oder Emma Bovary unterstreicht diese Thematik und zeigt, dass das Streben nach Selbstverwirklichung oft an gesellschaftlichen Normen scheitert. Als theoretischer Hintergrund kommen hier kommen Simone de Beauvoir und Betty Friedan zum Einsatz, um die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen zu hinterfragen.
Kapitel 10: Medien
Im letzten Kapitel wird die Nutzung von Medien – insbesondere Fernsehen – als mögliche Form der Zeitverschwendung untersucht. Anhand eines Protagonisten aus dem Roman „Fernsehen“ (1997) werden Fragen zum Fernsehkonsum sowie zum Phänomen des Binge-Watching diskutiert; Hartmut Rosas Theorien über Beschleunigung bieten einen Rahmen für diese Überlegungen.
Diskussion
Durch die detaillierte Betrachtung jeder Figur gelingt es Krützen nicht nur, die Facetten von Zeitverschwendung herauszuarbeiten, sondern auch deren kulturelle Bedeutung zu reflektieren.
Die Auswahl der Figuren ist dabei bewusst extrem und nicht repräsentativ für das breite Spektrum menschlicher Erfahrungen. Sie dienen vielmehr dazu, verschiedene Dimensionen von Zeitverschwendung herauszuarbeiten und deren kulturelle sowie soziale Implikationen zu beleuchten. Durch diese Fokussierung auf außergewöhnliche Charaktere gelingt es Krützen, tiefere Einsichten in die menschliche Natur und unsere Beziehung zur Zeit zu gewinnen.
Diese Auswahl ließe sich natürlich kritisieren und der Einbezug anderer Figuren fordern. Was ist z.B. mit Marcel Proust, oder den existenzialistischen „Helden“ Roquentin und Meursault – ist das Leben als Zeitverschwendung? – oder den rumhängenden No-Future-Punks oder den Charakteren eines Charles Bukowski, oder, um zu Filmen zurückzukehren, mit den Lebensüberdrüssigen aus dem Film „Das große Fressen“?
Aber eine solche Kritik wäre angesichts der Fülle des bearbeiteten Materials kleinlich. Schließlich bietet die Unvollständigkeit eher eine mögliche Inspiration zur Weiterarbeit am Thema Darstellung von Zeitverschwendung und seiner theoretischen Analyse als ein Manko des vorliegenden Buches.
Fazit
Michaela Krützen schafft es in „Zeitverschwendung“ quasi exemplarisch vorzuführen, wie kulturwissenschaftliche Analyse von Film und Literatur funktioniert. Sie zeigt, wie facettenreich Zeitverschwendung thematisiert wird und dass Zeitverschwendung eine allgemeine menschliche Erfahrung ist, ein Phänomen, das wir alle kennen und nachvollziehen können – die aber eben auch eine Zuschreibung gesellschaftlicher Art darstellen kann.
Ihre Kapitel sind als einzelne Vignetten lesbar und aus meiner Sicht als Hochschuldidaktiker und politischer Erwachsenenbildner auch als Lektüren und als Vorlagen für das Interpretieren gemeinsam mit Lernenden sehr gut zu gebrauchen.
Rezension von
David Kreitz
M.A., pädagogischer Mitarbeiter für politische Erwachsenenbildung bei der HVHS Mariaspring und freiberuflicher Trainer für wissenschaftliches Schreiben.
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