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Ulrike Brizay (Hrsg.): Der lange Weg ins Hilfesystem

Rezensiert von Prof. Dr. Simon W. Kolbe, 05.02.2025

Cover Ulrike Brizay (Hrsg.): Der lange Weg ins Hilfesystem ISBN 978-3-7799-7760-5

Ulrike Brizay (Hrsg.): Der lange Weg ins Hilfesystem. Die psychosoziale Versorgung von Menschen mit Fluchterfahrung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 267 Seiten. ISBN 978-3-7799-7760-5. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.

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Thema

Das zu rezensierende Buch befasst sich mit Aspekten der psychosozialen Versorgung von Menschen mit Fluchterfahrung. Geflüchtete Menschen sind oft extremen Belastungen ausgesetzt. Krieg, Verfolgung, Verlust von Angehörigen sowie unsichere Lebensbedingungen während und nach der Flucht stellen eine enorme Herausforderung für Betroffene da. Diese Erfahrungen hinterlassen häufig psychische Beeinträchtigungen, wie Traumata oder Depressionen. Gleichzeitig stehen Geflüchtete vor erheblichen Zugangsbarrieren zum psychosozialen Hilfesystem, darunter sprachliche, kulturelle und strukturelle Hürden. Das Buch thematisiert diese Herausforderungen anhand der Ergebnisse einer umfassenden Studie zur Versorgung geflüchteter Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Durch die Kombination von Falldarstellungen und vertiefenden thematischen Beiträgen werden sowohl individuelle Erfahrungen als auch strukturelle Problemlagen beleuchtet.

Ein zentraler Fokus liegt auf den Wegen ins Hilfesystem: Welche Unterstützungsmöglichkeiten bestehen, wie werden sie wahrgenommen, und welche Faktoren erleichtern oder erschweren den Zugang? Ausgehend von konkreten Beispielen werden inhaltliche Fragestellungen entwickelt, die in den Fachbeiträgen fundiert analysiert werden. Die Publikation richtet sich an Fachkräfte in der Sozialen Arbeit, Psychotherapie, und im Gesundheitswesen sowie an politische Entscheidungsträger*innen. Sie bietet praxisnahe Einblicke und zeigt, warum individuelle Begleitung und ein kultursensibler Ansatz essenziell für eine bedarfsgerechte Versorgung sind.

Autorin und Entstehungshintergrund

Ulrike Brizay ist Professorin für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit in der Migrationsgesellschaft an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB). Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen auf der Sozialen Arbeit im internationalen Vergleich, der Inklusion von Geflüchteten sowie den Herausforderungen und Potenzialen gesellschaftlicher Diversität in der Sozialen Arbeit. Zu ihren Forschungsprojekten gehört die wissenschaftliche Begleitung des dualen Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit, der in Kooperation mit der Berliner Senatsverwaltung für Finanzen entwickelt wurde. Ein weiterer Fokus ihrer Arbeit liegt auf der psychosozialen Versorgung geflüchteter Menschen, insbesondere durch die interkulturelle Öffnung von Regeldiensten, sowie auf der Bedeutung internationaler Begegnungen in der universitären Ausbildung sozialer Professionen. In ihrer wissenschaftlichen Karriere hat sie zudem zahlreiche Studien und Publikationen zu Themen wie Fachkräftemangel, Diversitätssensibilität und psychosozialer Versorgung veröffentlicht. Ihre Praxis- und Forschungserfahrungen umfassen Tätigkeiten im internationalen Kontext, etwa als Research Promotion Officer bei der International AIDS Society in Genf, sowie wissenschaftliche Beiträge zu interkulturellen und postmigratorischen Herausforderungen [1]

Brizay promovierte an der Leuphana Universität Lüneburg und verbindet in ihrer Arbeit theoretische und praxisorientierte Perspektiven, um innovative Ansätze für die Soziale Arbeit in einer diversifizierten Gesellschaft zu entwickeln. Frau Prof. Dr. Brizay kann als ausgewiesene Expertin ihres Fachs identifiziert werden.

Das Buch möchte sich einer umfassenden Analyse psychosozialer Unterstützungsbedarfe geflüchteter Menschen und den damit verbundenen Herausforderungen widmen. Es basiert auf einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit Migration und Flucht, wobei die sozialen, psychischen und strukturellen Barrieren des deutschen Asylsystems im Mittelpunkt stehen. Die Autoren*innen setzen sich mit der Frage auseinander, wie geflüchtete Menschen, die oft durch Krieg, Verfolgung und prekäre Lebensumstände belastet sind, Zugang zu angemessener psychosozialer Versorgung finden können.

Die Publikation entstand im Rahmen eines Forschungsseminars unter der Leitung der Herausgeberin. Als Grundlage dienten Daten des Praxisprojekts BAYAN, welches die psychosoziale Versorgung von Geflüchteten in Deutschland untersucht. Fallstudien sowie Expert*innen-Interviews bilden die empirische Basis. Durch die Kombination dieser Methoden werden sowohl die individuellen Hilfeverläufe als auch strukturelle Unzulänglichkeiten des Hilfesystems beleuchtet. Die Beiträge analysieren das Spannungsverhältnis zwischen menschenrechtsorientierter Unterstützung und restriktiven Asylpolitiken. Gleichzeitig thematisieren sie die Bedeutung postmigratorischer Stressoren, wie Sprachbarrieren, rechtliche Unsicherheiten und soziale Ausgrenzung, die den Heilungsprozess beeinträchtigen können. Besondere Beachtung finden die Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Gruppen, wie traumatisierter Personen oder geflüchteter Frauen.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile, die die psychosoziale Versorgung geflüchteter Menschen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten: eine thematische Einführung, eine Fallanalyse und eine vertiefende Untersuchung spezifischer Facetten der Fluchterfahrung. In der Einleitung wird der inhaltliche und methodische Rahmen gesetzt. Hier sollen Lesende in die Thematik eingeführt und der Kontext der Beiträge verständlich gemacht werden. Verena Mörath stellt das Praxisprojekt BAYAN vor, welches den Ausgangspunkt für die Forschung und die Grundlage des Sammelbandes bildet. Die thematischen Einführungen von Nikolai Zehnter und Manima Gleißner befassen sich mit den Ursachen von Fluchtmigration sowie mit den Zusammenhängen zwischen substanzbezogenen Störungen und den Erfahrungen geflüchteter Menschen. Diese Hintergrundinformationen dienen als Einordnungskapitel der nachfolgenden Fallstudien.

Der erste Teil widmet sich den Falldarstellungen bzw. -analysen, die die Hilfeverläufe mit Geflüchteten mit psychischen Belastungen oder Suchtmittelerkrankungen dokumentieren. Nach einer Einführung von Ulrike Brizay, die das Forschungsdesign beschreibt und die methodische Vorgehensweise erläutert, werden acht Fallstudien präsentiert. Diese basieren auf der Analyse von Fallakten von BAYAN-Klient*innen und folgen einer einheitlichen Struktur, die biografische Informationen, Problemlagen, Vorerfahrungen im Hilfesystem sowie den konkreten Hilfeprozess und dessen Ergebnisse umfasst. Abschließend werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Ulrike Brizay zusammengefasst und diskutiert, um die zentralen Erkenntnisse der Falldarstellungen herauszuarbeiten.

Teil zwei des Sammelbandes erweitert die Fallanalysen durch thematische Beiträge auf Basis von Expert*innen-Interviews. Diese befassen sich mit systemischen Barrieren, Ressourcen, Unterstützungsmechanismen und strukturellen Widersprüchen im Asyl- und Integrationsprozess. Weitere Themen wie die Versorgungslage psychisch belastetet Geflüchteter, die Unterbringung von Geflüchteten, Aspekte der Sprachmittlung und das Ehrenamt sowie Dimensionen der Integration werden untersucht. Den Abschluss bildet ein zusammenfassender Beitrag der Herausgeberin Ulrike Brizay, der die Herausforderungen in der psychosozialen Versorgung geflüchteter Menschen beleuchtet und die zentralen Erkenntnisse des Sammelbandes diskutiert. Abschließend plädiert sie für eine wissenschaftsbasierte, menschenrechtsorientierte Asyl- und Migrationspolitik.

Zusätzlich wird am Ende des Buches ein umfangreiches Glossar angeboten.

Diskussion

Das vorliegende Werk beleuchtet umfassend und mit inhaltlicher Tiefe unterschiedliche Aspekte der psychosozialen Versorgung von Geflüchteten. Die Beiträge erscheinen im Wesentlichen gut recherchiert und die Forschungsberichte und -prozesse ordentlich umgesetzt. Insbesondere der Fokus auf die Soziale Arbeit und das Ziel einer besseren Darstellung der Versorgungslage sowie einer Optimierung der psychosozialen Unterstützung von Geflüchteten sind von fachlicher Relevanz. Somit liegt umfassendes Material zum Erkenntnisgewinn, zur weiteren Ausrichtung von Forschung und Lehre, sowie der Ableitung von essentiellen Maßnahmen zur Optimierung der Bedingungen.

Die Ausarbeitungen zu den Spannungsverhältnissen zwischen Abschottung, Integration, Asylpolitik und Menschenrechten sind sehr gut gelungen. Das Glossar am Ende sorgt für begriffliche Klarheiten. An dieser Stelle sei hervorzuheben, dass dieses Buch genau das anbietet, was die aktuelle gesellschaftliche und politische Debatte (Ende Januar 2025) zum Thema Migration und Asyl beinahe vollkommen vernachlässigt: Die wissenschaftliche und damit sachlich-professionelle Herangehensweise, Erkenntnisse zur Optimierung der psychosozialen Versorgung von Geflüchteten zu gewinnen. Die Herausgeberin stellt dazu fest: „Deutschland bekennt sich im Grundgesetz zu den Menschenrechten und verspricht die Unantastbarkeit der menschlichen Würde. (…) [E]in menschenwürdiger Umgang mit Geflüchteten in vielen Bereichen [ist] nicht sichergestellt (…).“ (S. 256). Umfangreiche Lösungsvorschläge kann man diesem Buch entnehmen oder aus den Erkenntnissen ableiten.

Die gesammelten Ergebnisse und Erkenntnisse dieses Buches ergänzen folgenden Schluss: Abschottung, Ausgrenzung und Mangelversorgung minimieren die Risiken nicht, sondern mehr und bessere Soziale Arbeit, angepasste und schnelle psycho-soziale Versorgungsstrukturen sowie leichte und sinnbringende Wege in Bildung, Arbeit und Ausbildung. Aber vor allem ist ein ernsthafter, menschlicher und respektvoller Umgang mit Geflüchteten, deren Bedürfnissen und ihren Fähigkeiten als mündige Menschen die Grundlage erfolgreicher Integration.

Fazit

Das Buch ist für Studierende, Praktiker*innen der Sozialen Arbeit und anderer Berufe sehr empfehlenswert. Es bietet aber auch die Grundlage für wissenschaftsbasierte und menschenrechtsorientierte Politik und Gesellschaft. Ganz besonders ist dieses Buch also denjenigen zu empfehlen, die gerade heute tragische Ereignisse als Grundlage für Maßnahmen missbrauchen, welche die Probleme und Herausforderungen im Bereich Fluchtmigration kaum lösen und insgesamt nicht als adäquate Antworten zu bewerten sind.


[1] https://www.khsb-berlin.de/en/profile-personal/4002 [Zugriff am 26.11.2024]

Rezension von
Prof. Dr. Simon W. Kolbe
Professur für Soziale Arbeit SRH Wilhelm Löhe Hochschule
Studiengangsleitung Soziale Arbeit
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Es gibt 8 Rezensionen von Simon W. Kolbe.

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ISSN 2190-9245