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Philipp Gelitz (Hrsg.): Mit kleinen Kindern ganz im Leben

Rezensiert von Prof. Dr. Heiner Ullrich, 31.10.2024

Cover Philipp Gelitz (Hrsg.): Mit kleinen Kindern ganz im Leben ISBN 978-3-7799-8280-7

Philipp Gelitz (Hrsg.): Mit kleinen Kindern ganz im Leben. Gesellschaft und Waldorfpädagogik im Dialog. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 186 Seiten. ISBN 978-3-7799-8280-7. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Thema

Es ist das Anliegen des Herausgebers, für Studierende und Fachkräfte der Elementarpädagogik das Potenzial des waldorfpädagogischen Ansatzes und seine Anschlussfähigkeit an aktuelle humanwissenschaftliche Diskurse aufzuzeigen. Diese Intention kommt indes weniger in dem enigmatisch wirkenden Titel, vielmehr nur im Untertitel klar zum Ausdruck. Aus waldorfpädagogischer Perspektive werden die Themen Raumgestaltung, Förderung, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Medienbildung, Gendersensibilität, soziale Integration, Bewegungserziehung, Sprachbildung und Kinderrechte reflektiert.

Autor

Philipp Gelitz ist Juniorprofessor für die Pädagogik der frühen Kindheit an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Waldorferzieher befasst er sich nunmehr theoretisch und empirisch mit Themen der vorschulischen Waldorfpädagogik.

Entstehungshintergrund

Die Beiträge des Sammelbandes gehen zurück auf eine Ringvorlesung im Fachbereich Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule im Wintersemester 2022/23 für Studierende des Bachelor-Studiengangs Kindheitspädagogik.

Aufbau

Der Aufbau des Buches folgt keiner stringent voranschreitenden Systematik. Die einzelnen Beiträge, deren drei auch vom Herausgeber selbst bzw. mitverfasst wurden, sind durchaus unabhängig voneinander zu lesen. In jedem Beitrag sollen indes einerseits eine Reflexion der Lebenswelten und Entwicklungsaufgaben heutiger Kinder in einer im Wandel begriffenen Gesellschaft erfolgen und andererseits eine bewusste Rezeption der waldorfpädagogischen Tradition.

Inhalt

Waldorfpädagogik hat Konjunktur. Der erste Waldorfkindergarten wurde 1926, ein Jahr nach Steiners Tod gegründet; heute gibt es weltweit 1.928 Waldorfkindergärten, davon 591 in Deutschland. In den beiden vergangenen Jahrzehnten hat – auch im Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess – die Ausbildung für Waldorfschulen und Waldorfkindergärten an z.T. neu gegründeten, anthroposophisch geprägten Freien Hochschulen ein akademisches Niveau erreicht. Und so ist auch mit der Herausgabe dieses Buches der Anspruch verbunden, die Waldorf-Kindheitspädagogik auf der Ebene eines wissenschaftlichen Diskurses mit drängenden gesellschaftlichen Herausforderungen zu konfrontieren und dabei auch „innovative Gesichtspunkte dieses pädagogischen Ansatzes aufzuzeigen. Mit dieser Intention gliedert sich der vorliegende Sammelband ein in die insgesamt ähnlich ausgerichtete Reihe der von Angelika Wiehl mitherausgegeben Buchreihe zur Waldorfpädagogik der Kindheit, Jugend und Schule im selben Verlag (vgl. u.a. Wiehl/Auer (2019)).

Nicht allen der hier publizierten zehn Texte wird man als Erziehungswissenschaftler denselben Anregungsgehalt und das gleiche Reflexionsniveau zusprechen können. Besondere Hervorhebung verdienen m.E. die Beiträge von Gelitz, Michael, Bleckmann, Ostkämper und Adam, weil sie in nachdrücklicher und konzeptionell überzeugender Weise Spezifika der Waldorfpädagogik so darstellen, dass sie für die erziehungswissenschaftliche Disziplin diskutabel und für die pädagogische Profession anregend sein können.

Der erste Beitrag von Philipp Gelitz befasst sich mit den pädagogischen Besonderheiten der Raumgestaltung im Waldorfkindergarten, die er systematisch als mehrfach geschichtet rekonstruiert. Das Kind fühlt sich hierin „geborgen auf allen Ebenen“: Innerhalb eines von Idealen, Motiven und Überzeugungen der Erwachsenen gestifteten kulturellen Rahmens, in einer beständigen sozio-emotionalen pädagogischen Beziehung, in einem alltäglich wiederkehrenden Zeitrhythmus, in einem harmonisch gestimmten Gebäude mit vertrauten Materialien und in seinem sich wohlfühlenden Körper. Gelitz richtet in diesem Zusammenhang seinen Blick auch auf die spirituelle Dimension dieser „Umhüllung“ des Kindes im anthroposophischen Menschenbild Rudolf Steiners, in dessen Sinneslehre (vier Körpersinne) er den Leser ebenfalls noch hineinführt. Schließlich erdet er seine waldorfpädagogische Argumentation in der Embodiment-Konzeption, wonach das körperlich-in-der-Welt-Stehen der Person die Grundlage auch für alle ihre weiteren Fähigkeiten bildet.

Zusammen mit der Medizinerin Karin Michael entfaltet Gelitz die Bedeutung der medizinischen Perspektive für die Kindheitspädagogik. Als Ausgangspunkt wählen beide das Konzept der Salutogenese des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, der in seinen empirischen Studien über Resilienz schon vor langer Zeit nachweisen konnte, dass die gesundheitliche Widerstandskraft in erster Linie von einem „sense of coherence“ abhängig ist. Hierfür sind die drei Faktoren Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit maßgeblich. Gelitz und Michael stellen im Folgenden das Drehbuch der Waldorf-Kindheitspädagogik als eine salutogenetische Erziehungspraxis dar. Wichtige Voraussetzungen hierfür sind verlässliche Bindung, soziale Wärme, wohlwollende Ansprache, das freie „selbstwirksame“ Spiel sowie die Erfahrung von Rhythmen, Regeln und Ritualen. Ähnlich wie im ersten Beitrag wird schließlich „zum besseren Verständnis“ die Brücke geschlagen zu Steiners übersinnlichem Menschenbild, das mit dem Begriff des „Äther- bzw. Lebensleibs“ die Quelle für eine gesundheitsfördernde Erziehung im ersten Jahrsiebt bilden soll.

In dem Beitrag „Zwischen Bilderbuch und Smartphone – Medienbildung und kleine Kinder“ begründen Paula Bleckmann und Philipp Gelitz das Erziehungsziel Medienmündigkeit und beschreiben den Weg einer verantwortlichen Medienerziehung. Diese führt nach ihrer Ansicht von der Medienabstinenz über die Medienbalance zur Medienmündigkeit – „vom Kennenlernen des eigenen Körpers und der gegenständlichen Welt, über das Bilderbuch, über das Buch, über einfache audio-visuelle Medien, hin zu digitalen Umgebungen und multimedialen Weltzugängen“ (80). Zur theoretischen Begründung dieser evolutiven Konzeption bemühen Bleckmann und Gelitz ebenfalls hier den Embodiment-Ansatz, wonach jedem Verstehen und Beurteilen des Kindes stets eine präreflexive sinnlich-leibliche Verankerung vorausgehen muss. Von dieser anthropologischen Voraussetzung aus plädiert die Waldorfpädagogik für die Gestaltung einer möglichst medienfreien Kindheit bis zur Einschulung. Mit ihrer Bezugnahme auf die Ansätze des Embodiments und der Salutogenese versuchen hier Bleckmann und Gelitz Grundgedanken Rudolf Steiners normalwissenschaftlich plausibel zu legitimieren. Hiermit werden sie durchaus anschlussfähig an andere Positionen im Diskurs in der heutigen Kindheitsforschung, z.B. an die Bildungstheorie bei Gerd Schäfer.

Ziel des bildungsphilosophisch ambitionierten Beitrags von Frodo Ostkämper ist es, für die Waldorfpädagogik im Elementarbereich ein Bildungsverständnis zu entwickeln, dass sich nicht nur auf die anthroposophische Menschenkunde beruft, sondern auch auf die Formulierung der Rechte des Kindes bei Janusz Korczak und auf bildungstheoretische Positionen. Die damit postulierten Selbstbildungsprozesse der Kinder werden für den Verfasser im Waldorfkindergarten vor allem verbürgt durch die sich im Spielen und Gestalten ausdrückende „freilassende“ pädagogische Atmosphäre. Dass hier aber auch – anders als im Reggio- oder Montessori-Setting – das von Steiner geforderte Prinzip „Vorbild und Nachahmung“ dominiert, gerät so nicht in den Blick.

Durch seine theoretische Stringenz und empirische Evidenz ragt der Beitrag von Christiane Adam zu „Zugehörigkeitserfahrungen in der Waldorfpädagogik“ über die übrigen Beiträge des Bandes hinaus. Ausgangspunkt ist der markante Sachverhalt, dass an Waldorfeinrichtungen nahezu zehnmal weniger Kinder aus Zuwanderungsfamilien erzogen und unterrichtet werden und dass sich hier deutliche Exklusionsmechanismen der pädagogischen Einrichtungen manifestieren. Nur an den wenigen bewusst „interkulturell“ ausgerichteten Waldorfkindergärten und -schulen gelingt es, diese Diskriminierungsprozesse in größerem Ausmaß aufzuheben. Hier liegt das empirische Forschungsfeld der Autorin. Als theoretischen Erklärungsansatz für inkludierende bzw. exkludierende Bildungserfahrungen wählt Christiane Adam das Konzept der Zugehörigkeitsordnung einer Institution, wonach sich die Zugehörigkeitserfahrungen der Individuen sich in einer Skala von Exklusion bis zu fragloser Zugehörigkeit einordnen lassen. In drei ausführlich dargestellten Fallbeispielen rekonstruiert die Verfasserin überzeugend die Zugehörigkeitserfahrungen von drei türkischstämmigen Waldorfschüler*innen und arbeitet überzeugend die dafür maßgeblichen „waldorftypischen“ Zugehörigkeitsangebote heraus. 

Im vorliegenden Sammelband lässt sich eine zweite Gruppe von Beiträgen bilden, deren Hauptakzent nicht mehr in gleich starken Maße auf der Waldorfpädagogik liegt. Janina Binner und Lina Masek bieten in ihrem Aufsatz eine systematisch strukturierte und begrifflich präzise Einführung in das Konzept der Nachhaltigkeit und der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Sie akzentuieren schließlich „Naturverbundenheit“ als Schlüsselfaktor für nachhaltiges Handeln. Die besonderen Chancen für BNE im Waldorfkindergarten sehen sie im Lernen über Vorbild und Nachahmung, die Verbindung zur Natur sowie das Kohärenzgefühl. Dies verdeutlichen sie abschließend mit einem kurzen Praxisbericht aus einer Waldorf-Waldgruppe.

Weit über den elementarpädagogischen Bereich hinaus geht der Beitrag von Gisela Erdin „Sex und Gender – Leiblichkeit und Sexualität in der Waldorfpädagogik“. Der Titel weckt Erwartungen, welche die Verfasserin nur bedingt einlöst. Sie beginnt mit einer Darstellung der „wichtigsten Emanzipationswellen“ in der Geschichte der Frauenbewegung und landet schließlich im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs der Gender Studies über den de-Konstruktivistischen Ansatz Judith Butlers, wonach die Geschlechterkategorisierung nicht biologisch sondern performativ und soziokulturell erzeugt wird. Im zweiten Teil versucht Erdin, im direkten Rückgang auf die Anthroposophie Steiners eigene Überlegungen für eine gendersensible Pädagogik zu entwickeln.

Insgesamt instruktiv, aber ohne theoretische Verortung wirft Stefanie Greubel in ihrem Beitrag „Keine Zeit heute!“ einen summarischen Blick auf die gewandelten Bedingungen des Aufwachsens heutiger Kinder und stellt die Waldorfpädagogik mit ihren Kennzeichen „Bewegungsräume schaffen, Bindung stärken, Resilienz und Kohärenzerleben fördern“ als notwendigen Schutzraum für entschleunigtes Lernen dar. Mit einem ähnlichen argumentativen Gestus befasst sich Janne Fengler mit „Lebensweltlichen Settings und ihrem Beitrag zur Bewegungs- und Gesundheitsförderung in der Kindheit“ und stellt abschließend die besondere Anschlussfähigkeit und Eignung der waldorfpädagogischen Vorschulpraxis heraus. Der Text von Ulrich Maiwald über die „Sprachkultur im Kinderlalltag“ fällt etwas aus dem Rahmen des Sammelbandes; denn er führt gänzlich waldorf- immanent in eine elaborierte Praxis der frühkindlichen Sprachbildung ein.

Diskussion

Im Sinne der eingangs formulierten dialogischen Absicht wünscht man sich allerdings für die Ringvorlesung an der Alanus Hochschule noch eine stärkere reflexive Auseinandersetzung mit der „Gesellschaft“, d.h. mit anderen aktuellen Konzepten der Vorschulerziehung und Positionen der Kindheitsforschung. Ohne eine intensivere Thematisierung der „gesellschaftlichen Herausforderungen“ in den Bereichen Sozialisation, Erziehung und Bildung – genannt seien hier nur PISA-Screenings, Digitalisierung, Inklusion, Internationalisierung – läuft die Waldorfpädagogik Gefahr, zur Nischenpädagogik zu werden.

Fazit

Der Mehrzahl der Beiträge des Sammelbandes gelingt eine wissenschaftsorientierte Aktualisierung von Grundlagen einer Pädagogik der frühen Kindheit, die auf dem Fundament des anthroposophischen Menschenbildes steht und erziehungspraktisch seit fast einem Jahrhundert den Fröbelianismus ihrer Gründerin Elisabeth Grunelius verwandelt fortschreibt.

Literatur

Ullrich, Heiner (2021): Der Waldorfkindergarten: anthroposophische Elementarpädagogik. In: Schmidt, Thilo/​Sauerbrey, Ulf & Smidt, Wilfried (Hrsg.): Frühpädagogische Handlungskonzepte. Münster u.a.: Waxmann, S. 85–105.

Wiehl, Angelika & Auer, Wolfgang M. (Hrsg.) (2019):Kindheit in der Waldorfpädagogik. Weinheim: Beltz Juventa.

Rezension von
Prof. Dr. Heiner Ullrich
im Ruhestand
Institut für Erziehungswissenschaft
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Es gibt 4 Rezensionen von Heiner Ullrich.

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ISSN 2190-9245