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Kōhei Saitō: Systemsturz

Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 21.10.2024

Cover Kōhei Saitō: Systemsturz ISBN 978-3-423-35242-0

Kōhei Saitō: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 2024. 320 Seiten. ISBN 978-3-423-35242-0. D: 14,00 EUR, A: 14,40 EUR, CH: 19,50 sFr.

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Thema

Kohei Saito hält das kapitalistische Wirtschaftssystem für die Ursache des Klimawandels. Er unterzieht deshalb im vorliegenden Buch den Kapitalismus einer radikalen Kritik und plädiert für eine Rücknahme der Wachstums-Ideologie unter dem Stichwort „Degrowth-Kommunismus“. „Degrowth ist ein Projekt, das den entfesselten Kapitalismus einbremst und ein Wirtschaftssystem schafft, das Mensch und Natur an erster Stelle setzt“ (88). Im Klappentext heißt es, dass Saito die Gedanken von Karl Marx neu entdecke und auf ihrer Basis das Modell für eine gerechtere Gesellschaft im Zeitalter der Klimakrise entwickele.

Autor

Kohei Saito ist Associate Professor (Assistenzprofessor) für Philosophie an der Universität von Tokio. Er hat gemeinsam mit Teinusuko Otani und Timm Graßmann den Band 18, „Vierte Abteilung: Exzerpte und Notizen. Februar 1864 bis Oktober 1868, November 1869, März, April, Juni 1870, Dezember 1872 der Marx-Engels Gesamtausgabe (MEGA 2019)“ bearbeitet.

Entstehungshintergrund

In der MEGA-Ausgabe haben sich Saito und Kollegen mit den Marx'schen Exzerpten zu den Agrarwissenschaftlern Justus von Liebig und Carl Fraas befasst.

So beruhen wichtige Schlussfolgerungen im „Kapital“ auf der Liebig-Rezeption. Die kapitalistische Produktion störe den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde. Auch der Gedanke der Generationen-Gerechtigkeit findet sich bereits bei Liebig. Davon inspiriert schrieb Marx: „Selbst eine Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigenthümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer […] und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“

Marx folgerte, dass es keine Rehabilitierung des „Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur“ geben werde, solange alle stofflichen Aspekte nur eine Nebensache des eigentlichen Produktionszweckes – der Vermehrung des Kapitals – bleiben.

Aufbau und Inhalt

Das Buch von Saito ist in acht Kapitel untergliedert. Im ersten Kapitel (13-44) beschreibt er, welche Opfer die „imperiale Lebensweise“ – ein Begriff der von Brand/​Wissen 2017 geprägt wurde – fordert. Die „imperiale Lebensweise“ ist von Massenkonsum und Massenproduktion gekennzeichnet und abhängig von der Auslagerung der Produktion in den globalen Süden. Die „Externalisierungsgesellschaften“ (Lessenich 2018) schaffen unaufhörlich Peripherien, in die Belastungen abgewälzt werden. Bereits Marx hat auf drei Auslagerungsmethoden hingewiesen: die technische, die räumliche und die zeitliche Auslagerung. Das weitere Auslagern der Belastungen erweist sich als zunehmend schwierig und führt zu Gefühlen der Unsicherheit und Krise. „Durch den Klimawandel bleibt der Bevölkerung der Industrienationen nichts anderes mehr übrig, als sich der Realität, die sie mitverursacht hat, zu stellen“ (43).

Im zweiten Kapitel (45-76) erläutert Saito die Grenzen des Klima-Keynesianismus. Mit dem sogenannten Green New Deal werde der Klima-Wandel als Chance für das weitere Wachstum der Wirtschaft genutzt. „Der Green New Deal umfasst umfangreiche Konjunkturpakete und öffentliche Investitionen zur Förderung von erneuerbaren Energien und Elektroautos“ (46). Dieses Projekt zielt auf die absolute Entkopplung von Emissionsmenge und Wirtschaftswachstum ab. Mit Bezug auf Rockström, Jackson und Smil hält Saito das Erreichen einer absoluten Entkopplung für eine Illusion. Der Green New Deal ist für ihn Greenwashing unter dem Deckmantel der Sorge um die Umwelt. Die echte Alternative ist für ihn das Degrowth-Konzept, das er in Kapitel drei vorstellt (77-105) Degrowth strebt Gleichheit und Nachhaltigkeit an. „Es handelt sich hierbei also um eine Verlagerung von Quantität (Wachstum) hin zu Qualität (Entwicklung), einen umfassenden Plan zur Umstellung auf ein Wirtschaftsmodell, das sich auf die Verringerung wirtschaftlicher Ungleichheiten, die Ausweitung der sozialen Sicherheit und die Vergrößerung der Freizeit konzentriert und dabei die planetaren Grenzen beachtet“ (102).

Im Kapitel vier (107-151) widmet sich Saito der Neuinterpretation von Marx unter Berücksichtigung seiner Anlehnung an Liebig und Fraas und dem Konzept der Commons. Mit Commons sind gemeinschaftlich produzierte, organisierte und genutzte Güter sowie gesellschaftlich geteilter und verwalteter Reichtum gemeint. „Die ganze Erde sollte nach Marx' Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft als Common gemeinsam verwaltet werden.“ (109) Auch Negri/​Hardt und Zizek betonen den Zusammenhang von Commons und Kommunismus. Marx' Vision einer zukünftigen Gesellschaft hat sich, wie Saito belegt, vom Produktivismus der 1840er bis 1850er Jahre zum Degrowth-Kommunismus der 1870er bis 1880er Jahre entwickelt.

Die Überschrift des fünften Kapitels (153-172) lautet: Akzelerationismus als Realitätsflucht. In diesem Kapitel erläutert der Autor eine Strömung, die Kommunismus mit einer zunehmenden Beschleunigung des Wirtschaftswachstums erreichen will. Für Saito führt der Akzelerationismus jedoch zu einer Zuname der Ausplünderung des Planeten und zu einem noch stärkerem ökologischem Imperialismus.

Im sechsten Kapitel (173-205) diskutiert Saito Knappheit und Überfluss in ihrem Bezug zu Kapitalismus und Kommunismus. Er stellt die Frage, ob nicht 99 % der Bevölkerung durch den Kapitalismus immer ärmer werden. Der Kommunismus hingegen bringt die Einhegung der Profite (Marx' Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“). Die ursprüngliche Akkumulation ist ein Prozess, bei dem das Kapital den Überfluss der Commons auflöst und stattdessen eine künstliche Knappheit schafft. Saito liefert zahlreiche Beispiele für diesen Prozess, z.B. die Auflösung des Gemeinbesitzes (Allmende), der Umstieg von Wasserkraft auf fossile Energien (Kohle, Öl). Dieser Zusammenhang wurde bereits 1804 vom Earl of Lauderdale beschrieben: „Nimmt individueller Reichtum zu, nimmt öffentlicher Wohlstand ab.“ Oder wie Berthold Brecht es ausgedrückt hat: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Im kapitalistischen Wirtschaftssystem wird der Gebrauchswert der Commons kommerzialisiert und zum Wert einer Ware transformiert. Der Kommunismus, wie ihn Saito versteht, zielt auf die Rekonstruktion der Commons und freiwillige Selbstbegrenzung.

Der Degrowth-Kommunismus ist der Weg aus den durch den Klima-Wandel verursachten Schäden und der Zerstörung der natürlichen Lebensräume hin zum Schutz der Umwelt. Das ist die zentrale These des siebten Kapitels (207-244). Selbstverwaltung und Mitbestimmung sind Schlüsselbegiffe der Commons und gehören auch zum Verständnis des „partizipativen Sozialismus“ (Piketty 2020). Es geht Saito um die Überwindung der „imperialen Produktionsweise“. Stattdessen soll sich die Produktion an den Naturkreisläufen ausrichten und dadurch entschleunigt werden. Zentral für den Degrowth-Kommunismus sind: 1. der Wandel zur Gebrauchswirtschaft, 2. weniger Arbeitszeit und mehr Lebensqualität, 3. die Aufhebung uniformer Arbeitsteilung, 4. die Demokratisierung des Produktionsprozesses, 5. den Fokus auf systemrelevante Arbeit. Im achten Kapitel (245-271) beschreibt Saito einige Intiativen für urbane Erneuerung und gegen den Klima-Notstand (Barcelona, „Fearless Cities“, Movimento 15-M, Zapatisten, Via Campesina, South African Food Sovereignity Campaign).

Diskussion

Saito wendet sich gegen das Wachstum-Paradigma des Kapitalismus und begründet auf 277 Textseiten, warum die Formel „wir steigern das Bruttosozialprodukt“ für Menschen, Mit-Welt und Klima schädlich ist. Sein Aufruf „keine Bullshit-Jobs mehr“, also Jobs ohne Gebrauchswert, ist für jeden Menschen im Berufsalltag nachvollziehbar. Seine Ausführungen belegen, dass der Kapitalismus oder der ausgerufene Green New Deal die Klimakrise nicht bewältigen, sondern verschärfen. Er steht mit dieser Position nicht allein. 1972 haben bereits Autoren des Club of Rome auf die Grenzen des Wachstums und damit auf den dem Kapitalismus inne wohnenden Zwang zum Wachstum hingewiesen. Die von Rockström genannten Kipppunkte „(Tipping Points“) – katastrophale Veränderungen im Erdklimasystem – sind bereits in vier von neuen Kategorien überschritten, darunter Klimawandel und Verlust der biologischen Vielfalt. Verzicht auf Wirtschaftswachstum ist daher die einzige Alternative. 50 Jahre später ist ein Survival-Guide vom Club of Rome vorgelegt worden, in dem für das Überleben der Menschheit fünf notwendige Handlungsfelder genannt werden: gegen die Armut im globalen Süden, gegen grassierende Ungleichheit, für eine regenerative und naturverträgliche Landwirtschaft, für eine umfassende Energiewende und für die Gleichstellung der Frauen. Saito geht mit seiner Betonung der Überwindung der imperialen Produktionsweise über diese Forderungen hinaus. Dies ist durch seine sehr anregende Neu-Interpretation von Marx' Denken und seiner Synthese mit der Degrowth-Bewegung in dem Konzept des Degrowth-Kommunismus möglich. Erwähnenswert ist auch ein editorisches Detail: Die Anmerkungen und das Register sind vorzüglich.

Fazit

Kohei Saito unternimmt den anspruchsvollen Versuch, auf der Basis Marx' Forschungsnotizen aus den 1860er-Jahren Karl Marx neu zu interpretieren und seine heutige Bedeutung für Entschleunigung, die Überwindung imperialer Produktions- und Lebensweisen und den Schutz der Umwelt aufzuzeigen. Saito fasst seine Überlegungen unter dem Stichwort Degrowth-Kommunismus zusammen. Das Buch ist eine äußerst interessante Lektüre, die viele Einsichten und Denkanstöße vermittelt.

Literaturhinweise

Brand, Ulrich, Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Kapitalismus. München:oekom

Jackson, Tim (2017): Wohlstand ohne Wachstum – das Update. Grundlagen für eine zukunftsfähige Wirtschaft. München:oekom

Negri, Antonio, Hardt, Michael (2003): Empire: Die neue Weltordnung. Tokio

Lessenich, Stephan (2018): Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben. München:Piper https://www.socialnet.de/rezensionen/​21561.php

Piketty, Thomas (2020): Kapital und Ideologie. München:C.H.Beck https://www.socialnet.de/rezensionen/​26783.php

Rockström, John, Klum, Matthias (2015): Big World. Small Planet. Abundance within Planetary Boundaries. New Haven: Yale University Press

Smil, Vaclav (2019): Growth. From Microorganisms to Megacities. Cambridge MA: The MIT Press

The Club of Rome (2022): Earth for All: Ein Survival-Guide für unseren Planeten. München: oekom

Zizek, Slavoj (2018): Der Mut der Hoffnungslosigkeit. Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag

Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 20 Rezensionen von Dieter Korczak.

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ISSN 2190-9245