Florian Wobser (Hrsg.): Anthropozän
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 12.11.2024
Florian Wobser (Hrsg.): Anthropozän. Interdisziplinäre Perspektiven und philosophische Bildung. Campus Verlag (Frankfurt) 2024. 219 Seiten. ISBN 978-3-593-51882-4. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR.
Menschenendzeitalter
Der Mensch hat sich als Gattungswesen zu einer „geologischen Urkraft“ entwickelt. Sie beeinflusst und verändert positiv und negativ das Erdsystem und sein Dasein (Jörg Noller, Ethik des Anthropozäns. Überlegungen zur dritten Natur, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​31291.php). Es ist der angesagte, notwendige Paradigmenwechsel, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Im wissenschaftlichen Diskurs wird diese Perspektive als „Anthropozän“ bezeichnet. Dieser nicht unumstrittene Begriff ordnet den anthrôpos als ein (übergeordnetes) Lebewesen ein, das willens und in der Lage ist, intellektuell und konkret, theoretisch und praktisch Veränderungen vorzunehmen und die Erde als seinen Lebensraum nach seinem Wollen zu gestalten. Vernachlässigt wird dabei das Bewusstsein, dass der Mensch ein Lebewesen unter vielen anderen und gefordert ist, erdbewusst und kosmosbestimmt ein verantwortungsvolles, ethisches Dasein zu führen. Wenn der Mensch ein „zôon politikon“, ein politisch denkendes und handelndes Lebewesen ist, wie ihn die anthropologische, abendländische Philosophie ausweist, bedarf es des „sapere aude, des Mutes, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“ (Kant).
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Die Aufbruchstimmung, die verbunden ist mit dem positiven Bewusstsein, dass der Mensch in der Lage ist, den Krisen der Welt ein „Dennoch“ gegenzusetzen, hat im wissenschaftlichen Diskurs zu lebhaften Initiativen geführt. An der Universität in Passau fand 2023 eine interdisziplinäre Ringvorlesung statt, in der Autorinnen und Autoren die Herausforderungen thematisieren, wie sie sich individuell und kollektiv, lokal und global darstellen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter, der Pädagoge Florian Wobser, gibt den Sammelband heraus und weist darauf hin, dass Bildung, Aufklärung und Wissen über das Leben auf der Erde zum allgemeinbildenden, anthropologischen Bestandteil des Humanums gehört.
Aufbau und Inhalt
Der Ergebnisband der Ringvorlesung wird in zwei Strukturen gegliedert. Im ersten Teil werden interdisziplinäre Perspektiven des Anthropozän formuliert; im zweiten wird philosophische (aufgeklärte) Bildung dargestellt.
Der Ethnologe Christoph Antweiler führt mit dem Beitrag: „Anthropozän – ein begriffliches Erdbeben. Grundlagen, Begriffsvarianten und gesellschaftliche Relevanz“ in die Thematik ein. Es sind erdsystemwissenschaftliche, historische Geofaktoren; und es sind aktuelle, umweltbezogene, menschengemachte Eingriffe, die den Ruf nach „sustainable development“ hervorrufen (Brundtlandt-Bericht „0ur Common Future“, 1987). Ein geerdetes, planetarisches Denken und Handeln beruht auf dem Bewusstsein, dass menschliche Handlungs- und Ohnmacht anthropogenes Sein bestimmt.
Der Philosoph Christian Thies reflektiert mit der Frage – „Anthropozän als Epochenbegriff?“ – geschichtsphilosophische Entwicklungen. Er betrachtet die Kennzeichnung aus drei Perspektiven: Der Neuzeit, der Moderne und des Kapitalismus. Die klassische (eurozentrierte) Erdzeit-Gliederung – Antike, Mittelalter und Neuzeit – stellt einerseits ein Ordnungsschema dar, andererseits jedoch verstellt sie den Blick auf das was ist, geworden ist, was es ist, und wie es sein wird. Der Autor schlägt vor, den Begriff „fossiles Zeitalter“ einzuführen und so die Bedürfnisse von Energie für die Menschen zu definieren.
Der Ökologe und Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf von der Universität Augsburg setzt sich mit „Anthropozän (als) Signatur der Menschenzeit in der Natur und ihre Bedeutung“ auseinander. Zeitbewusstsein bestimmt Menschsein. Und es zeigt sich, dass das anthropozäne Bewusstsein sich grundlegend von anderen Zeit- und Seins-Gliederungen unterscheidet, weil der Denken und Tun des Anthrôpos zum „größte(n) Problem für das Leben insgesamt und für die weitere Entwicklung der Menschheit geworden ist“.
Die Wiener Philosophin und Ethikerin Leonie N. Bossert legt mit dem Beitrag „Andere Tiere im Anthropozän“ eine nicht-anthropozentristische Perspektive auf Gerechtigkeit vor. Mit dem NE-(Nachhaltigkeitsdenken) fordert sie eine „Interspezies-Gerechtigkeit“, als Vision für eine lebenswerte, gerechte, humane gegenwärtige und zukünftige Entwicklung für Mensch und Tier.
Der Augsburger Philosoph und Chemiker Jens Soentgen greift in den Diskurs um Humanität, Kulturalität und Zivilisation mit dem Beitrag „Philosophie des Feuers“ ein. Feuer als positives und negatives, materialistisches Element schafft Energie und Licht, verwandelt und verändert, bewirkt aber auch Asche und Tod. Die Veränderungsprozesse, wie sie sich beim Klimawandel ergeben, erfordern einen je eigenen, individuellen und kollektiven Umgang mit der „High-Fire-World“.
Der Medien- und Kulturwissenschaftler Dominik Schrey formuliert mit dem Beitrag „Symbole, Sensoren und Archive des Klimawandels“, dass naturwissenschaftliche und menschengemachte, anthropozäne Entwicklungen sichtbar und erkennbar sind: „Gletscher als Medien des Anthropozäns“. Er zeigt auf, dass „eines der sinnlich zugänglichsten Phänomene des anthropogenen Klimawandels ( ) das Schrumpfen der Kryosphäre … (ist)“ – Sehe und handle, wem Verstand gegeben!
Die Doktorandin für Philosophiedidaktik an der Universität Salzburg, Anna Breitwieser, und die Philosophin Bettina Bussmann verdeutlichen mit dem Beitrag „Bildung im Anthropozän“, dass es der epistemischen Kompetenz als fächerübergreifendes Lehr- und Lernziel bedarf. Die Philosophie als Reflexionswissenschaft liefert dafür intellektuellen, kognitiven und emotionalen Zugang. Mit dem Fallbeispiel zeigen die Autorinnen unterrichtspraktische Connections auf.
Der Geographiewissenschaftler Andreas Eberth zeigt auf, wie Geographische Bildung als Fachdiskurs, als didaktische Reflexion und als kritischer Analyserahmen wirksam werden kann. Er stellt ausgewählte didaktische Prinzipien und Methoden vor und verweist auf die Kompetenz, komplex und ganzheitlich zu denken und zu handeln.
Der Ethiker von der Pädagogischen Hochschule Weingarten, Philipp Thomas, fragt: „Was bedeutet es im Anthropozän, selbst Natur zu sein?“. Er setzt sich auseinander mit den veränderten Denk- und Handlungsprozessen beim Umgang des Menschen mit der Natur: „Natur und Selbst-Natur-sein sind im Anthropozän nicht länger nur Schauplatz des Göttlichen oder der Naturnotwendigkeit, sondern Schau- (und Handlungs-)platz des Menschlichen“. Am Beispiel von ausgewählten didaktischen Texten verweist er auf unterrichtspraktische Zugänge.
Mit dem Schlussbeitrag „Mensch-Natur-Beziehungen im Anthropozän“ stellt Florian Wobster interdisziplinäre, fächerübergreifende, schulische und außerschulische Projekt-„Ideen für Bildung und Didaktik im Fach Philosophie/​Ethik“ vor.
Diskussion
Bildung und Erziehung ist der „Gesamtprozess des sozialen Lebens, innerhalb dessen Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen es lernen, in ihrer eigenen Gesellschaft und im Rahmen der gesamten Weltgemeinschaft ihre persönlichen Fähigkeiten und Einstellungen, ihr Können und ihr Wissen bewusst und bestmöglich zu entfalten“ (Empfehlung zur „internationalen Erziehung“, Deutsche UNESCO-Kommission, Bonn 1990, S. 16). Bildung für nachhaltige Entwicklung (siehe dazu auch: KMK/BMZ <Engagement Global>, Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung, 2016, 464 S.). Wie kann es gelingen, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie gebildet und aufgeklärt sein wollen?
Fazit
Philosophisch-ethische Bildung ist Menschenbildung! Sie ist demokratischer, freiheitlicher, allgemeinbildender gesellschaftlicher Auftrag!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 12.11.2024 zu:
Florian Wobser (Hrsg.): Anthropozän. Interdisziplinäre Perspektiven und philosophische Bildung. Campus Verlag
(Frankfurt) 2024.
ISBN 978-3-593-51882-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32551.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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