Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann et al. (Hrsg.): Glossar der Gegenwart 2.0

Rezensiert von Prof. Dr. Marc Breuer, 29.01.2025

Cover Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann et al. (Hrsg.): Glossar der Gegenwart 2.0 ISBN 978-3-518-12843-5

Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke (Hrsg.): Glossar der Gegenwart 2.0. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. 417 Seiten. ISBN 978-3-518-12843-5. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR, CH: 31,50 sFr.
Reihe: edition suhrkamp - 2843.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Das „Glossar der Gegenwart 2.0“ versammelt 34 essayartige Beiträge, die sich jeweils auf einen Begriff beziehen. Diese Beiträge führen in alphabetischer Anordnung von „Achtsamkeit“, über z.B. „Diversität“, „Künstliche Intelligenz“ und „Unsicherheit“ bis „Vulnerabilität“. Berücksichtigt sind solche Begriffe, in denen die Herausgebenden zentrale Selbstbeschreibungen und Deutungsmuster der gegenwärtigen Gesellschaft verdichtet sehen.

Herausgeber:innen

Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Susanne Krasmann ist Professorin für Soziologie und Kriminologische Sozialforschung an der Universität Hamburg; Thomas Lemke ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Entstehungshintergrund

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine Fortsetzung (ein „Update“, S. 9) des Buches „Glossar der Gegenwart“, welches dieselben Herausgeber:innen zwanzig Jahre zuvor publizierten (Bröckling; Krasmann; Lemke 2004). Wenn auch viele der damaligen Analysen weiterhin ihre Geltung hätten, seien für die Erschließung unserer heutigen Gegenwart neue Begriffe zu berücksichtigen oder die älteren hätten sich in ihrem Gehalt verändert. Daher habe man sich für ein „komplett verändertes Inventar aktueller Leitbegriffe“ (S. 12) entschieden. Manche Lemmata ersetzen einen verwandten Begriff aus dem älteren Buch (jetzt z.B. „Achtsamkeit“ statt damals „Wellness“, „Digitalisierung“ statt „Virtualität“, „Unsicherheit“ statt „Sicherheit“). Andere Begriffe kamen in dem Glossar von 2004 bisher nicht vor bzw. hatten dort noch keine Analogie, z.B. „Care“, „Identitätspolitik“ oder „Postfaktisch“.

Aufbau und Inhalt

Den Einzelbeiträgen ist eine elfseitige Einleitung der drei Herausgeber:innen vorangestellt. Diese erläutert zunächst den Charakter des „Updates“ in Relation zu dem Vorgängerband. In den veränderten Begriffen und Deutungsfiguren spiegelten sich die vielfältigen Krisenerfahrungen – von der Finanzkrise, über Migrations- und Fluchtbewegungen, Rechtsextremismus, Corona-Pandemie bis zu den jüngsten Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten –, die seit 2004 in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit getreten sind. Zugleich sei der analytische Fokus derselbe geblieben: „Foucaults Analytik des Regierens mit ihrer Differenzierung zwischen Rationalitäten, Technologien und Subjektivierungsweisen“ (S. 14).

Die Einzelbeiträge umfassen jeweils ca. zehn Seiten. Die Autor:innen arbeiten gegenwartsspezifische Deutungsschemata heraus, behandeln diskursive Verschiebungen und analysieren diese aus gesellschaftstheoretischer Perspektive. Da die Beiträge alphabetisch geordnet sind, kann man sich seinen eigenen Weg durch das Buch suchen und dabei auch den zahlreichen Querverweisen folgen, z.B. von „Ansteckung“ zu „Vulnerabilität“ oder zu „Tracking & Tracing“. Zudem lassen sich thematische Zusammenhänge entdecken, denen die Beiträge zugeordnet werden können.

So beziehen sich einige auf Konzepte der Selbst- und Fremdsteuerung, die mit der Position der Subjekte verknüpft sind. Dazu zählen „Resilienz“, „Situiertheit“, „Unsicherheit“ oder „Vulnerabilität“. Als „Achtsamkeit“ versteht Bröckling die „Fähigkeit, bei dem zu bleiben und das zu bejahen, was sich ohnehin einstellt“ (S. 26). „Man kann das als radikales Schrumpfen des zeitlichen Horizonts interpretieren […] Achtsamkeitsbedürftig und -hungrig sind die Menschen demnach, weil sie sich entweder überfordert oder gefährdet fühlen“ (S. 31). Susanne Krasmann (2024) macht darauf aufmerksam, dass die Diskurse der „Unsicherheit“ damit einhergehen, politische Zukunftsvisionen zu verabschieden. Wenn die Energie nur noch darauf zielt, nahe Gefährdungen zu bewältigen, gerieten langfristige politische Ziele aus dem Blick.

Davon unterscheiden lassen sich die Lemmata wie „Ansteckung“, „Epigenetik“ oder „Posthumanismus“, welche die technobiologischen Voraussetzungen und Wirkungszusammenhänge der Gegenwartsgesellschaft behandeln. Die Beiträge zur „Digitalisierung“, zur „Künstlichen Intelligenz“ oder zum „Update“ gehen auf technosoziale Strukturen und Dynamiken ein. Simon Strick erläutert, wie „Social Media“ allen Nutzer:innen redaktionelle Tätigkeiten ermöglichten, dabei jedoch affektive Reaktionen begünstigen und Resonanzräume schaffen, die sich der Wahrheitsrhetorik traditioneller Medien entzögen. Als „Plattform“ (Philip Staab) wurden schon seit Jahrhunderten architektonische Vorrichtungen zur Beobachtung und Überwachung bezeichnet, die in digitaler Form als neuartige Instrumente der Verhaltenssteuerung wiederkehren.

Viele Beiträge haben globale Strukturen und Prozesse im Blick. Explizit gilt das für Lemmata wie „Klimawandel“, „Planetar“ oder „Dekolonisierung“. Auf öffentliche Gefühle und damit verknüpfte Mobilisierungsformen beziehen sich die Lemmata „Hass“, „Populismus“ und „Postfaktisch“.

Diskussion

Bezogen auf Diskurse und Themen der Sozialen Arbeit und des Wohlfahrtsstaates zeigt das „Glossars“ vielfältige Verknüpfungsmöglichkeiten. Solche lassen sich etwa anhand jener Beiträge erkennen, welche sich unmittelbar auf Position des Subjekts beziehen, z.B. auf dessen diagnostizierte Unsicherheit, seine angestrebte Resilienz oder Konzepte der Achtsamkeit. Diese Beiträge sind aus der Perspektive der Sozialen Arbeit einerseits nutzbar, um die Voraussetzungen ihrer Subjekte (der Adressat:innen wie der Professionellen) zu verstehen. Sie bieten sich andererseits an, um solche Bezüge auf die Subjekte zu verstehen, die in den Konzepten und Handlungsformen der Sozialen Arbeit selbst transportiert und verwendet werden.

Anschlussfähig ist der Band zudem, um die gegenwartsspezifischen Strukturen und Dynamiken zu verstehen, welche die gesellschaftlichen Voraussetzungen sozialer Dienstleistungen prägen. Das gilt für die technosozialen und technobiologischen Zusammenhänge, wie „Digitalisierung“ und „Epigenetik“ ebenso wie für Beiträge, die sich auf öffentliche Gefühle und Mobilisierungsformen beziehen, wie „Hass“ oder „Postfaktisch“. 

Eine etwas ausführlichere Einleitung wäre hilfreich gewesen, um die Perspektive der Studien zur Gouvernmentalität und die Grundgedanken des Bandes näher vorzustellen. Die Perspektive dieser Forschungsrichtung zeigt sich auch nicht durchgehend mit derselben Deutlichkeit. Diesbezüglich wären vielleicht stärkere Vorgaben an die Beitragenden hilfreich gewesen. Für Leser_innen bietet es sich an, die in der Einleitung genannten Perspektiven, z.B. jene auf „Technologien der Selbst- und Fremdführung“ (S. 10) zu nutzen und entsprechende Zusammenhänge in den Beiträgen zu verfolgen.

Insgesamt regt der Band an, die Studien zur Gouvernmentalität mit Bezug auf den Wohlfahrtsstaat und die Soziale Arbeit auf neuartige Weise zu rezipieren. Denn diese soziologischen Analysen haben in der Sozialen Arbeit bereits einige Aufmerksamkeit gefunden. Wegweisend für diese Rezeption war vor allem Fabian Kessl, der sich kritisch mit der sozialpolitischen Aktivierung befasst hat (vgl. jüngst Kessl 2023). Seine Arbeiten beziehen sich insbesondere darauf, wie neoliberale Reformen seit den 1990er Jahren sozialstaatliche Leistungen im Sinne einer Aktivierungslogik umgeformt haben, womit eine Individualisierung der Verantwortung einherging.

Über diese Analyse von Aktivierungsprogrammem hinaus macht der Band auf weiterführende Anregungspotenziale der Studien zur Gouvernementalität aufmerksam. Insbesondere die gesamtgesellschaftlich wirksamen Diskurse von Disruption, Unsicherheit, Resilienz usw. wirken sich auf die Positionen von Adressat:innen und Professionellen der Sozialen Arbeit aus. Die Herausgeber:innen weisen darauf hin, dass Zukunft gegenwärtig kaum mehr als Verheißung erfahren werde, sondern eher als Bedrohung, der gegenüber sich die Subjekte mit Strategien der Achtsamkeit oder der Resilienz zu behaupten versuchen. Welche Reaktionen finden sich darauf in der Sozialen Arbeit? Macht sie sich dominierende Perspektiven und Konzepte der Gegenwart zu eigen oder entwickelt sie darauf kritische Perspektiven? Der Band ist hilfreich, um Formen der Subjektivierung zu verstehen, die das professionelle Feld der Sozialen Arbeit zunehmend prägen.

Fazit

Die zumeist gut lesbaren Beiträge analysieren zentrale Begriffe der Gegenwartsgesellschaft aus den Perspektiven der Studien zur Gouvernmentalität im Anschluss an Michel Foucault. Viele der behandelten Themen prägen das gegenwärtige gesellschaftliche Umfeld der Sozialen Arbeit und wirken sich auf deren Handlungsmöglichkeiten aus. Der Band gibt vielfältige Anregungen für weiterführende Analysen in den Feldern der Sozialen Arbeit und der Wohlfahrtspflege.

Literatur

Bröckling, Ulrich; Krasmann, Susanne; Lemke, Thomas (Hrsg., 2004): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Kessl, Fabian (2023). Der aktivierende Sozialstaat: Zur Wirkmächtigkeit eines dethematisierten Programms. In R. Atzmüller; F. Décieux; B. Ferschli (Hg.). Ambivalenzen in der Transformation von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat: Soziale Arbeit, Care, Rechtspopulismus und Migration (S. 54-69). BeltzJuventa

Rezension von
Prof. Dr. Marc Breuer
Professor für Soziologie
Website

Es gibt 1 Rezension von Marc Breuer.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245