Eva Schielein: Positive Organizing
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 22.01.2025

Eva Schielein: Positive Organizing. Organisationskompetenz für die Begleitung von Veränderungsprozessen.
Springer VS
(Wiesbaden) 2024.
129 Seiten.
ISBN 978-3-662-68620-1.
D: 35,51 EUR,
A: 39,06 EUR,
CH: 42,00 sFr.
Reihe: Positive Psychologie kompakt.
Autor
Eva Schielein ist Systemische Organisationsberaterin. Sie ist international als Coach for Professional Development, Beraterin der Positiven Psychologie, Holacracy-Practitioner und Trainerin tätig und unterstützt Organisationen, Teams und Einzelpersonen bei Transformationsprozessen. Sie ist Netzwerkpartnerin bei Simon Weber Friends und Alumna der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie.
Thema
In Positive Organizing formuliert Eva Schielein die Grundzüge eines Modells, das Organisationen unterstützt, Veränderungsprozesse selbstorganisiert und potenzialorientiert zu gestalten. Der Ansatz des Positive Organizing (PO) kombiniert Positive Psychologie und Systemtheorie, wobei die Positive Psychologie den Fokus auf Potenziale und Stärken legt, wohingegen die Systemtheorie die Organisationsdynamik beleuchtet. Beschrieben wird, wie PO von der Klärung von Zielen und Prozessen über die Prinzipien von Appreciative Inquiry bis zur Veränderungsanpassung als Prozess gestaltet werden kann. Auch die Rolle von Führungskräften, die unterstützend und moderierend agieren sollen, um Wandel nachhaltig positiv zu gestalten, wird hervorgehoben.
Aufbau und Inhalt
Das Werk beginnt mit einem Vorwort, in dem die Autorin erklärt, was sie zum Verfassen des Buches bewogen habe und welchen Nutzen die Verknüpfung der Positiven Psychologie mit systemischem Denken für sie habe. „Beide Fachrichtungen suchen nach Lösungen und orientieren sich an Potenzialen und vorhandenen Ressourcen. Da, wo die (Positive) Psychologie mit ihrem Fokus auf Individuen an ihre fachlich bedingten Grenzen stößt, nämlich in der Arbeit mit Organisationen, hilft Organisationstheorie weiter“, schreibt Schielein (S. VI). Ihr Buch beschreibt die Autorin als Plädoyer für die Kombination der Fachrichtungen Positive Psychologie und Systemtheorie im Rahmen organisationaler Veränderungen.
Der Ansatz des Positive Organizing beschreibe keinen Idealzustand einer positiven Organisation, sondern fokussiere die Arbeit mit und an Organisationen auf dem Weg zu positiven Organisationskulturen. Insofern sei der Weg das Ziel. Im ersten Kapitel nimmt sich die Autorin der Grundlagen der Positiven Psychologie (PP). Sie definiert diese, beschreibt die der PP zugrundeliegenden Überzeugungen und rekurriert darauf, wie welche Theoriebausteine für eine wirksame Bearbeitung organisationaler Veränderungen zusammengeführt werden können und welche Bedeutung das Positive Organizational Scholarship (POS) für ihre Ausführungen habe. Dieses erforsche „die Dynamiken, die in Organisationen zu außergewöhnlichen individuellen und organisatorischen Leistungen führen“ (S. 6).
Aspekte wie die Bedeutung positiven Unterscheidens, das u.a. von David Cooperrider, Suresh Srivastva und Edgar Schein popularisierte »Appreciative Inquiry« (AI) und das Wesen von »Positive Leadership«, das im deutschsprachigen Raum vor allem durch Ruth Seliger bekannt(er) gemacht worden sei, die in ihrem Buch »Positive Leadership« (2014) Erkenntnisse der Systemtheorie mit denen der Positiven Psychologie konvergiert habe. Positive Leadership sei u.a. als Führungsaufgabe zu verstehen, die dazu beitrage, Organisationen konstruktiv zu entwickeln.
Führungskräfte sollten sich um die Schaffung und Förderung eines positiven Klimas, positiver Beziehungen und positiver Kommunikation kümmern wie auch Möglichkeitsräume für positives Sinnerleben schaffen. Die Grundlagen der Systemtheorie für die Arbeit mit Organisationen werden im zweiten Kapitel thematisiert. Diesen „Umweg“ über die Systemtheorie zu gehen sei nötig, „um ein theoriegeleitetes Modell zur Erklärung der Funktionsweise von Organisationen zu beschreiben“, schildert Schielein (S. 13). Wer verstehe, wie sich Organisationen verhielten, verfüge über Organisationskompetenz und könne demzufolge gezielter mit ihnen arbeiten.
Als grundlegend für systemtheoretisches Denken benannt werden Ansätze und Denkschulen, die u.a. mit Kurt Lewin (Dynamik sozialer Systeme), Herbert A. Simon, James March und Karl E. Weick (Umgang mit Unsicherheit, Kopplungen), mit Heinz von Foerster und Ernst von Glaserfeld (Theorie beobachtender Systeme, Selbststeuerung), mit Gregory Bateson und Margaret Mead (Beziehungsmuster, Double Bind)wie auch mit Humberto Maturana und Francisco J. Varela (Autopoiesis lebender Systeme) verknüpft seien. Auch George Spencer-Brown (Gesetze der Form), Niklas Luhmann, Dirk Baecker, Stefan Kühl (neuere Theorie sozialer Systeme), Helm Stierlin und Fritz B. Simon (Heidelberger Gruppe) sowie die Palo Alto Gruppe um Gregory Bateson und Paul Watzlawick (Konstruktivismus) werden als Grundlagen benannt.
Schielein führt aus, dass sich die Systemtheorie in Beratung, Führung und Coaching in den letzten Jahren immer mehr etabliert habe. Für all jene, die in oder mit Organisationen arbeiteten, könne die Systemtheorie bereichernd sein, da sie eine Theorie sozialer Systeme, insbesondere Organisationen, bereitstelle. „Sie bietet Erklärungsmodelle für die Funktionsweise von Organisationen und macht Organisationen somit theoriegeleitet bearbeitbar“, erklärt die Autorin (S. 14). Auch liefere sie eine Theorie für die Kopplung von Individuen, Teams und Organisationen. Die Autorin geht auf die Theorie der Beobachtung und Unterscheidung ein und schildert, dass das Bereitstellen von Beobachtungen und den daraus abgeleiteten Hypothesen eine wesentliche Existenzberechtigung der systemischen Organisationsberatung darstelle.
Unter Beobachten zu verstehen sei eine Operation, die sich aus Unterscheiden und Bezeichnen zusammensetze. Dabei orientiere sich die Systemtheorie nicht an Einheiten, sondern an Differenzen. „Welche Unterscheidungen bei der Beobachtung der Welt getroffen werden und wie das Unterschiedene bezeichnet wird, ist grundlegend für die Schaffung von Erkenntnis“, führt die Autorin aus (S. 16). Wirklichkeit im Sinne einer einzigen objektiven Wirklichkeit gäbe es nicht. Vielmehr gelte, so beschreibt Schielein die Grundüberzeugung des Konstruktivismus, dass Individuen und soziale Systeme sich ihre eigenen Annahmen über die Welt konstruieren. Eine Wirklichkeitskonstruktion sei nicht gleichzusetzen mit einer wie auch immer gearteten objektiven Realität.
Die Konstruktion von Wirklichkeit gliedere sich dabei in die drei Dimensionen Beschreiben, Erklären und Bewerten. In der Organisationsberatung könne oftmals „ein geteiltes Verständnis über das Vorhandensein unterschiedlicher Landkarten, also Wirklichkeitskonstruktionen, hilfreich sein“, schreibt Schielein. Denn: „Nicht alle im Unternehmen müssen dieselbe Erklärung und Bewertung für einen Umsatzrückgang oder die mangelnde Motivation im Team teilen. Berater:innen sollten in der Lage sein, solche Unterschiede wahrzunehmen und ohne Bewertung in die Kommunikation zu bringen. Dann können Unterschiede als bereichernd wahrgenommen werden“ (S. 21).
Im weiteren Kapitelverlauf wird auf die Unterscheidung von lebenden und Leben voraussetzende Systeme, auf Zirkularität und doppelte Kontingenz, auf die Autopoiesis komplexer Systeme sowie auf die Lernfähigkeit durch Selbstbeobachtung eingegangen, bevor die Autorin sich näher mit den Spezifika von Organisationen und Organisieren befasst. Organisationen würde aus systemtheoretischer Sicht nicht anhand ihrer Mitglieder beschrieben, denn bei Organisationen führe „das Gemeinsame“ in der Gestalt interner Strukturen ein „autarkes Eigenleben“, an das sich die Mitglieder anpassten. Führung und Beratung benötigten bei der Arbeit mit Organisationen Formate, „die vor allem auf die Spielregeln der Organisation abzielen“ (S 38).
Auch der Bedeutung von Kommunikation und damit einhergehenden divergenten Kommunikationsmustern nimmt sich die Autorin an. Es sei „in Organisationen nicht immer eine bewusste Entscheidung der Mitglieder, wer wie wann mit wem kommuniziert“, denn Kommunikation sei kein direkt beobachtbares Phänomen. Man könne lediglich ihre Auswirkungen beobachten (S. 42). In Organisationen erzeuge Kommunikation „emergent Spielregeln und Verhaltensmuster, die sich stabilisieren, egal wer an der Kommunikation teilnimmt“, schildert Schielein, die zudem beschreibt, was darunter zu verstehen sei, wobei sie auf formelle und informelle Kommunikationswege und -muster eingeht, die einen bedeutenden Einfluss auf die Organisationskultur hätten bzw. auch von dieser abhingen (S. 43 ff.).
Von Kommunikation kommt die Autorin dann zur Bedeutung der Interaktion in Teams. Zwar stünden „Interaktionssysteme nicht im Fokus dieses Buchs, jedoch unterscheidet sich die Arbeit mit Organisationen von der Arbeit mit Teams in vielerlei Hinsicht“. In welcher Hinsicht das ist, beleuchtet Schielein auf den darauffolgenden Seiten (S. 50 ff.). Was in Teams gut funktioniere, stoße immer dann an Grenzen, „wenn die Organisation mit ihren Spielregeln dazwischenfunkt – sei es durch das Einfordern von Ergebnissen“ oder „durch die Ermahnung an die Befolgung von Programmen und formalen Kommunikationswegen der Organisation“ (S. 52). Hier könnten Berater:innen der Positiven Psychologie einen positiven Beitrag zur gelingenden Kommunikation leisten, ist die Autorin überzeugt.
Ein weiteres Feld, dessen Schielein sich annimmt, ist das der Führung. „Führung ist eine Funktion sozialer Systeme, die deren Überleben sichert“, schreibt sie (S. 54). Führung ließe sich im Sinne einer reflektierenden Kommunikation als Fähigkeit sozialer Systeme verstehen, sich selbst zu beobachten, die Spielregeln des sozialen Systems zu prüfen, neu zu bewerten und zur Disposition zu stellen, was zu organisationalen Veränderungen führe, die indes immer in einem Gleichgewicht von Bewahren des Alten (Exploitation) und Innovation (Exploration) zu halten seien, um metaphorisch gesagt alle Organisationsmitglieder mitzunehmen. Da die Steuerung der Kommunikation über die Fokussierung der Aufmerksamkeit der Beteiligten erfolge, sei „die Lenkung der Aufmerksamkeit das mächtigste Mittel von Führungskräften, sich in Organisationen steuernd einzumischen“ (ebd.).
Bei der Arbeit mit dem sozialen System Organisation könne man zwischen zwei Ebenen der Intervention unterscheiden (S. 58): Die Ebene der psychischen Systeme, (Wirklichkeitskonstruktionen, Emotionen, Gedanken) sowie die Ebene der Organisation (relevante Umwelt der psychischen, Kommunikationen, Spielregeln, Muster). Wie die Intervention aussehen könne und was dabei zu beachten sei, wird dargelegt, bevor in einem neuen Kapitel dann dezidiert auf das Wesen des Positive Organizing eingegangen wird (S. 65). Das könne beschrieben werden „als Prozess der theoriegeleiteten Unterstützung der Fähigkeit von Organisationen, selbstorganisiert und potenzialorientiert organisationale Veränderungen zu bewirken“ (S. 67).
Positive Organizing unterscheide sich von traditionellen Change-Formaten, weil organisationale Veränderungen weder verordnet, noch durch eine einzelne Organisationseinheit abgearbeitet werden könne. Daher sei ein Denken in zirkulären Kausalitäten eine Bedingung positiven Organisierens, da dies „ermöglicht, die unterschiedlichsten Reaktionen von Organisationen auf Impulse von außen zu beobachten“ (S. 70). Für PO ergäben sich damit, dass zu beachten sei, dass Veränderung stets Organisationen und die Menschen darin beträfe, dass Veränderung Prozessarbeit sei, dass der Prozess iterativ verlaufe und regelmäßige Metakommunikation erfordere, dass Führung und Führungskräfte Prozesskompetenz benötigten und dass die Umwelt von Organisationen und deren Wirkung ebenfalls Berücksichtigung finden müsse. Welche Implikationen das mit sich bringe, wird im weiteren Textverlauf beschrieben.
Hinsichtlich der konkreten Praxis des PO beschreibt Schielein, dass es für Berater:innen empfehlenswert sei, ab dem ersten Kontakt mit dem Klient:innensystem (der Organisation) mitzudenken, „welche Interventionsebenen bearbeitet werden sollen, um welche Veränderungen in welchen Systemen zu bewirken“ (91). Es empfehle sich, „stets viele Fragen zu stellen, um so viel wie möglich über das Kundensystem in Erfahrung zu bringen“ (S. 92). Was muss wie getan werden? Um was geht es? Wer ist beteiligt? Wer ist noch wichtig? Was war vorher, was wird künftig sein? – Das seien wichtige Fragen, die Berater:innen stellen sollten. Positive Organizing unterscheide sich von vielen Beratungsansätzen durch Gestaltungsprinzipien, die darauf ausgelegt seien, dass Ziele erst im Veränderungsprozess identifiziert werden. Das sorge in vielen Organisationen zunächst für Unsicherheit.
„Auch das Format der Prozessarbeit in Großgruppen, die iterativ abläuft und regelmäßige Metakommunikation zwischen vielen Hierarchieebenen erfordert, ist für viele Organisationen ungewohnt.“ Daher sei es notwendig, die Prinzipien von PO im Kontext des Veränderungsdrucks der Organisation zu erläutern (S. 95). Dabei könne erwähnt werden, „dass die Begleitung organisationaler Veränderungsprozesse nicht darauf ausgelegt ist, aktuelle Probleme zu lösen, sondern Organisationen dazu zu befähigen, langfristig selbstorganisiert Veränderungen zu bearbeiten“ (ebd.). Wichtig sei es, von Anfang an Erwartungen zu klären und zu erkunden, ob ggf. Konflikte zu erwarten seien, die den Veränderungsprozess beeinträchtigen könnten.
Berater:innen könnten auch formulieren, was von ihnen zu erwarten sei und wo die Grenzen ihres Einsatzes lägen. Unbedingt müsse angesprochen werden, „dass die Berater:innen für die Gestaltung des Prozesses, nicht jedoch für die Inhalte, die im Prozess erarbeitet werden, verantwortlich sind“ (S. 97). Im Laufe der Vertragsklärung empfehle sich dann die Skizzierung des Veränderungsprozesses (mit seinen wesentlichen Phasen, wobei Reflexionsschleifen der Führungskräfte untereinander, der Berater:innen untereinander und des Projektleitungsteams mit den Berater:innen für den Prozess unerlässlich seien (S. 99). Was die Phasen und Reflexionsschleifen auszeichnen könne, wie sie gestaltet werden können und mit was für Herausforderungen gerechnet werden könne, wird beispielhaft beschrieben.
Einen besonderen Fokus legt die Autorin auf die Methode der Appreciative Inquiry (AI) (S. 102 ff.). Darunter versteht sie einen Ansatz für Veränderungsprozesse, der sich auf die positiven Aspekte und Stärken einer Organisation konzentriert, anstatt Probleme oder Schwächen in den Vordergrund zu stellen. Die Methode wurde von David Cooperrider und Suresh Srivastva entwickelt und basiere auf der Idee, dass Organisationen sich nachhaltiger entwickeln, wenn sie sich auf das konzentrieren, was gut funktioniere. Die Hauptprinzipien seien eine konstruktivistische Handlungsweise, der Fokus auf die gemeinschaftliche Gestaltung der Organisation durch die Beteiligung aller relevanten Akteur:innen, eine konsequente Zukunftsorientierung sowie Ganzheitlichkeit im Sinne eines vernetzten Denkens. Der AI-Prozess besteht laut Cooperrider und Srivastva (2003) oft aus vier Phasen, die mitunter als »4-D-Zyklus« bezeichnet werden (S. 103 ff.):
- Discovery (Entdecken): Identifizieren, was in der Organisation gut funktioniert. Dies geschieht durch Gespräche und das Teilen von Geschichten über Erfolge, Stärken und Best Practices.
- Dream (Träumen): Entwicklung einer gemeinsamen Vision der Zukunft. Die Beteiligten stellen sich vor, wie die Organisation aussehen könnte, wenn Stärken optimal genutzt würden.
- Design (Gestalten): Entwicklung konkreter Pläne, Strukturen und Prozesse, die notwendig sind, um die Vision zu verwirklichen.
- Destiny/Delivery (Umsetzen): Umsetzung der Pläne und Integration der neuen Ansätze in den Alltag der Organisation.
(Anmerkung des Rezensenten: Von manchen Autor:innen wird mit Definition, d.h. Spezifizierung, noch eine fünfte Phase hinzugefügt, welche die Klärung des Fokus und der Themen für den gesamten Prozess beinhaltet. Darauf wird in Schieleins Buch nicht eingegangen, sie betont allerdings, dass ihre Darlegungen nur als Vorschlag zu verstehen sei, der adaptiert werden könne). Als Vorteile von »Appreciative Inquiry« benennt sie die Schaffung einer positiven und inspirierenden Atmosphäre, die Förderung von Engagement und Kreativität bei den Beteiligten, die Unterstützt nachhaltige Veränderungen, da systematisch auf vorhandenen Stärken aufgebaut werde wie auch die Verbesserung der Zusammenarbeit und Kommunikation innerhalb von Teams (S. 115 ff.).
Kritik an AI werde, so schreibt die Autorin, u.a. von Znidar (2023) geäußert, der vor einer Harmonisierungstendenz warne, die zu Konfliktvermeidung führen könne. Auch könne es schwierig sein, eine Balance zwischen Optimismus und realistischer Betrachtung zu finden – und nicht alle Herausforderungen von Organisationen ließen sich allein durch positive Gespräche bewältigen. Ebenfalls müsse bedacht werden, dass nicht alle Menschen in der Lage seien, qualitative Interviews in der für die Appreciative Inquiry erforderlichen Art durchzuführen, wenn ihnen etwa die fachlichen und sozialen Kompetenzen fehlten (S. 122).
Dem könne indes entgegengesetzt werden, dass eine wesentliche Gelingensbedingung sei, das eine AI durch professionelle Berater:innen begleitet werden, die „neben Wissen in Positive Organizing auch Erfahrung mit Großgruppenformaten sowie mit Konfliktbearbeitung mitbringen“ müssten, schreibt Schielein. »Appreciative Inquiry« sei daher ein wirkungsvoller Ansatz, der Organisationen und Gemeinschaften inspiriert, ihre Stärken zu erkennen und eine gemeinsame Vision für die Zukunft zu entwickeln. Das »Positive Organizing« könne in der Praxis gleichwohl an Grenzen stoßen, erklärt die Autorin zum Ende ihres Buches hin.
„Vier Tage Appreciative Inquiry und danach jede Menge Projekte binden Kapazitäten von Kolleg:innen über Tage und Wochen, die auch anderswo dringend benötigt werden“ (S 123). Wenn der Nutzen der Begleitung von Veränderungen nicht erkannt werde, werde das Kapazitäten-Argument gewinnen. Oftmals würden Veränderungen in Organisationen nicht als Projekt oder Prozess verstanden, sondern deterministisch entschieden. „Dann werden sie natürlich nicht in einem Prozess gelenkt“, schreibt die Autorin (ebd.). Das führe meist zu neuen, größeren Konflikten aufgrund unbearbeiteter Unsicherheiten und unterdrückter Spannungen.
Häufig bestünden auch unausgesprochene Konflikte in der Organisation, die im Beratungs- und Veränderungsprozess zutage gefördert, aber ggf. nicht bearbeitet werden könnten (oder dürften). Es komme vor, „dass das Management anfangs Erwartungen geweckt hat, die es im Prozess nicht zu erfüllen vermag. In manchen Fällen wirken relevante Umwelten der Organisation (Politik, Gesetze, Märkte) so vehement, dass Veränderungen trotz bester Absichten nicht umsetzbar sind“ (S. 125). Kurzum sollte während des Prozesses der Veränderung mit Widerständen und Hürden gerechnet werden. Diese erfüllten eine Funktion und müssen in die Kommunikation gebracht werden. Im besten Fall bereicherten sie den Veränderungsprozess durch neue Perspektiven, gibt die Autorin zu bedenken.
Diskussion
Was lässt sich zu Positive Organizing nun festhalten? Für wen ist das Buch geschrieben? Wie ist es im Fachdiskurs zu verorten und inwieweit kann das Werk empfohlen werden? Dazu hat der Rezensent folgende Meinung:
Das Buch kommt als Mischung aus Fachbuch und Ratgeber daher, wobei es mehr Fachbuch ist, da es einem wissenschaftlichen Anspruch gerecht wird und die Autorin betont, dass ihre Darlegungen als Möglichkeiten zu verstehen seien und mitnichten genau in der Form umgesetzt werden müssten. Im Gegenteil betont sie korrekter Weise die Kontingenz in Organisation, die Adaptionen jedweder Ansätze erforderlich machen, so auch vom Positive Organizing, welches ohnehin mehr eine Art Organisationsphilosophie als eine Methode ist. Das Werk ist gut strukturiert und verständlich gelayoutet. Das Schriftbild ist angenehm zu lesen und mit Ausnahme von Quellenangaben und Verweisen in blauer Schrift durchgängig schwarz gehalten. Alle Abbildungen im Buch sind alle gut zu erkennen. Die Unterteilung in mehrere Kapitel und Unter-Kapitel erleichtert die Orientierung und führt dazu, dass man sich im Buch schnell zurechtfindet.
Das Werk lässt sich problemlos in ca. 2 Stunden lesen und richtet sich am ehesten sicher an Organisationsberater:innen, Organisationsentwickler:innen sowie Führungskräfte. In der hochschulischen Lehre in BWL- oder Managementstudiengängen kann es ebenso Verwendung finden. Die Darlegungen lassen sich ohne organisationswissenschaftliches Vorwissen nachvollziehen. Das Wesen des Positive Organizing, das darauf abzielt, positive Dynamiken in Organisationen zu fördern und auszubauen, wird gut verständlich beschrieben. Die Autorin macht dabei beispielhaft deutlich, dass sich PO darauf konzentriere, Organisationen so zu gestalten, dass sie weiterhin leistungsfähig und innovativ sind, dabei aber auch das Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen steigern und einen positiven Einfluss auf ihre Umwelt haben.
Der PO-Ansatz ist, auch das wird bei der Lektüre deutlich, eng mit der Positiven Psychologie und mit dem Konzept des Appreciative Inquiry verbunden. Grundprinzipien von PO sind der Fokus auf Stärken, die ganzheitliche Perspektive auf Organisationen, die Wertschätzung in Kommunikation und Interaktionen sowie die Sinnorientierung, Resilienz und Anpassungsfähigkeit von und in Organisationen. Damit eröffnen sich eindeutig Anknüpfungspunkte an die Philosophie des New Work, die seit gut 15 Jahren in der OE rege diskutiert und adaptiert wird.
Zu betonen ist freilich, dass Positive Organizing kein neues Phänomen ist. Kim Cameron, Jane Dutton und Robert E. Quinn sind darauf in ihrem Sammelband Positive Organizational Scholarship (2003) schon vor 22 Jahren eingegangen. Schieleins Buch scheint aber das erste am deutschsprachigen Markt zu sein, das Positive Organizing im Titel trägt, wenngleich es diverse Aufsätze und Kapitel in anderen Büchern gibt, in denen darauf schon von anderen Autor:innen eingegangen wurde. Ein Unikat ist indes, dass das Buch im deutschsprachigen Raum das erste ist, in dem ausschließlich PO behandelt wird. Das macht es lesenswert für Menschen, die sich dafür interessieren. Die Thematik des Buches trifft klar den aktuellen Management-Zeitgeist.
Als Kritikpunkt ist aus Sicht des Rezensenten zu sehen, dass Hürden im Hinblick auf die Anwendung der PO im Buch arg kurz abgehandelt werden. Auch die Tatsache, dass es manche berechtigte Kritik am PO gibt, wie auch an der Positiven Psychologie, die damit verknüpft ist, wird im Buch kaum thematisiert. Dieser Kritik nimmt sich z.B. Senta Brandt in Kritik der Positiven Psychologie an (Rezension hier). Etwas ausführlichere Darlegungen dazu, was weshalb kritisiert wird und wie mit Hürden, Widerständen und Unerwartbarkeiten umgegangen werden kann, wäre wünschenswert gewesen.
Gleiches gilt für die Darlegungen zur Dualität von „Exploration“ und „Exploitation“ und die damit einhergehenden Paradoxien, derer sich Daniel Levinthal und James March in ihrem Aufsatz The Myopia of Learning (1993) ausführlich angenommen haben. Beides in Balance zu halten, ist von herausragender Bedeutung, um alle Menschen in der Organisation mitzunehmen und um Extreme in die eine oder andere Richtung zu vermeiden, die jedwede PO verunmöglichten. Schielein widmet dem nur wenige Zeilen. Da wäre es mehr Substanz wünschenswert gewesen.
Ohne das Werk selbst dafür kritisieren zu wollen, ist aus Sicht des Rezensenten zu guter Letzt zu sagen, dass vieles von dem, was Positive Organizing auszeichnet, zumindest auf erfahrene Organisationsberater:innen und -entwickler:innen doch arg banal wirken dürfte. Dass es zentral für den Unternehmenserfolg ist, auch das Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen in den Blick zu nehmen und sich darauf zu konzentrieren, Organisationen so zu gestalten, dass sie leistungsfähig und innovativ sind, ist wohl eine Binsenweisheit. Konsequente Orientierung am Positiven, Ressourcenorientierung und Zukunftsausrichtung sind ebenfalls nichts wirklich Neues. Daher steht zu vermuten, dass etwaige Leser:innen, die schon diverse Bücher zu systemischer Organisationsentwicklung gelesen haben, im Buch kaum wirklich Neues finden werden.
Trotz oben genannter Kritik bleibt in der Gesamtschau zu sagen, dass die Lektüre vor allem für Berater:innen, Dozent:innen und Führungskräfte, die sich erst wenig mit Organisationsentwicklung befasst haben, empfohlen werden kann. Das Werk ist in sich schlüssig, konsequent mit Blick auf die praktische Umsetzbarkeit verfasst und leicht zu lesen. Für alle, die sich mit PO vertraut machen wollen, ist das Werk eine gute Einstiegslektüre.
Fazit
Eva Schielein legt ein gut geschriebenes Fachbuch vor, das den Nutzen des Positive Organizing überzeugend aufzeigt. Sie gibt Organisationsberater:innen und Führungskräften damit diverse Anregungen für die Gestaltung konstruktiver Veränderungsprozesse an die Hand.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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