Marcus Hawel, Stefan Kalmring (Hrsg.): (Ohn-) Macht überwinden!
Rezensiert von Joshua Graf, 27.11.2024
Marcus Hawel, Stefan Kalmring (Hrsg.): (Ohn-) Macht überwinden! Politische Bildung in einer zerrissenen Gesellschaft. Verbrecher Verlag (Berlin) 2024. 315 Seiten. ISBN 978-3-95732-587-7. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
In ihrem Sammelband geben Hawel und Kalmring diverse Aufsätze zur zeitgemäßen kritischen politischen Bildung heraus. Dabei bedienen sie ein breites Spektrum von eher analytischen Texten bis hin zu sehr konkret und praktisch ausgelegten Ausführungen. Ziel ist die Reflexion über die Herausforderungen und Möglichkeiten kritischer politischer Bildung in Zeiten einer analysierten kapitalistischen Vielfachkrise.
AutorIn oder HerausgeberIn
Marcus Hawel ist promovierter Soziologe und stellvertretender Leiter des Studienwerks der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf der kritischen Theorie sowie der Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung des NS in Deutschland.
Stefan Kalmring ist Volkswirtschaftler und promovierter Soziologe. Er ist als Leiter des Referats „Kritische Politische Bildung“ bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung tätig. Überdies ist er historischer Stadtführer in Berlin.
Gemeinsam leiten die beiden Herausgeber das Bildungsangebot „Salon Bildung“ bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Entstehungshintergrund
Ausgehend von der Analyse einer herrschenden kapitalistischen Vielfachkrise samt Klimakatastrophe, Wirtschaftskrise, andauerndem gesellschaftlichen Rechtsruck und weiteren Symptomen und einer marginalisierten politischen Linken, suchen die Herausgeber und die Autor*innen des Bandes nach neuen Wegen für eine kritische politische Bildung in schwierigen Zeiten.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband enthält 14 Aufsätze sowie ein Vorwort der beiden Herausgeber. Die verschiedenen Aufsätze sind unterteilt in vier Kapitel: „Politische Bildung als Kapitalismuskritik“, „Politische Bildung in einer zerrissenen Gesellschaft“, „Aktivistische Bildung in einer zerrissenen Gesellschaft“, „Erfahrungsaustausch aus der politischen Bildungspraxis“. Neben eher akademischen Autor*innen lässt der Sammelband gezielt auch Aktivist*innen und politische Kollektive zu Wort kommen. Aus Platzgründen sollen nicht alle 14 Aufsätze dargestellt werden. Jedoch aus jedem Unterkapitel mindestens ein Aufsatz kurz dargestellt werden.
In seinem Einführungsartikel „Politische Bildung und der Blick auf das Gesellschaftliche Ganze“ (S. 13–54) liefert Hawel eine Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie in Anlehnung an Marx. Angereichert durch Theorieelemente der Frankfurter Schule debattiert Hawel den Wert von Ideologiekritik sowie ihre Grenzen (S. 50–51). Mit Hilfe von Ansätzen der kritischen Theorie offeriert Hawel eine Erklärung der bestehenden gesellschaftlichen Abwertungsideologien, welche er materialistisch in ihrer Verbindung zur zerrissenen Klassenposition des Kleinbürgertums/​Mittelstand verortet. In diesem Kontext bezieht Hawel den Nationalstaat als „Brutkasten für Ideologien der Ungleichwertigkeit und der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (S. 39) mit ein.
Im folgenden Aufsatz fragt Holger Oppenhäuser nach der Möglichkeit einer bildnerischen Vermittlung von Wirtschaft und Gesellschaft (S. 55–74). Er schildert einige marxistische Überlegungen zur Ökonomie und nimmt sich der Herausforderung an die komplexen Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft verständlich zu machen, ohne in populistisch-verkürzende Urteile abzurutschen. Gleichzeitig plädiert Oppenhäuser für die Förderung von „Kontroversität als didaktische[m] Prinzip“ (S. 66) und für die Offenheit für Dissens und Konflikt in der politischen Bildungsarbeit gerade in Fragen der Ökonomie.
In ihrem Essay „Klassismus und Wissenschaft“ plädieren Riccardo Altieri und Bernd Hüttner für die Beschäftigung mit einer ihrer Meinung nach „unterschätzte[n] Form von Diskriminierung“ (S. 75–96). Sie problematisieren eine „sukzessive soziale Schließung der Universitäten“ seit der Regierung Kohl (S. 78) und liefern empirische Belege für die mangelnde soziale Mobilität im deutschen (Hochschul-)Bildungswesen. Daher sehen es die Autoren als notwendig Klassismus als Diskriminierungsform zu benennen und zu kritisieren. Sie stützen sich dabei auf intersektionale Ansätze und Reflexionen über „Multi Oppression“ (S. 79). Auf Basis des Credos „Sprache (re-)produziert Realitäten“ (S. 84) stellen sich Altieri und Hüttner gegen die klassische marxistische Kritik am Klassismus-Theorem als Ausblendung subjektiver Gewalterfahrungen von Klassismus betroffener Person. Dies halten sie für eine „patriarchale Geste“ (S. 84).
Katharina Rhein hinterfragt in ihrem Aufsatz „Erziehung nach Ausschwitz heute“ die Ernsthaftigkeit der Aufarbeitung des NS-Regimes in der politischen Bildungsarbeit. Unter Bezug auf Salzborn wird der Glaube an eine tatsächliche Aufarbeitung der NS-Zeit sogar als „die größte Lebenslüge der Bundesrepublik“ (S. 135) benannt. Rhein liefert einen schnellen, aber historisch zutreffenden Ritt durch die (Nicht-)Thematisierung des NS in der Bundesrepublik (S. 135–141). Sie erkennt die Frage nach der Thematisierung des „dritten Reichs“ als immanent politisches und umkämpftes Feld an (S. 141). Immer wieder kritisiert sie das nationale Selbstbild als geläuterte Nation (S. 140 & S. 143) und ordnet ein, wie die Nation gerade aus ihrer Historie ein neues Selbstbewusstsein hervorbrachte (S. 140). Auch kritisiert Rhein pädagogisierende Ansätze in Bezug auf rechte Tendenzen und Haltungen Jugendlicher. In ihrer Kritik der „akzeptierenden Jugendarbeit“ (S. 148) sperrt sie sich dagegen nationalsozialistische Präferenzen und politische Einstellungen lediglich als Ausdruck einer Unzufriedenheit mit der eigenen Lage zu bagatellisieren. Stattdessen insistiert sie auf dem politischen Gehalt rechter Gedanken und der Notwendigkeit diesen zu widerlegen.
Stefan Kalmring erwägt in seinem Aufsatz „Lernen, die Welt zu verändern“ die Notwendigkeit einer „aktivistischen Bildung“ (S. 203). Dies schlussfolgert er aus der Diagnose über die vergangenen politischen Bewegungen, deren mäßigen Erfolg sowie die hohe Frustration einiger Aktivist*innen in (radikalen) politischen Bewegungen (S. 201–203). Entsprechend sieht er die Aufgabe in der Konzeption einer auf die praktische Veränderung der Verhältnisse angelegten Bildung. Diese solle es sich zum Ziel machen sich am Bedürfnis von Aktivist*innen in ihrer alltäglichen Arbeit anzusetzen und diese bei Problemen zu unterstützen (S. 211). Gleichzeitig müsse eine solche Bildung die Expertise der Aktivist*innen ernstnehmen und solle keine besserwisserisch-belehrende Rolle einnehmen (S. 219). Daher soll die Bildung einen pluralistischen, statt „inhaltlich-dogmatischen“ Standpunkt einnehmen (S. 219). Im Gegenteil wird Lernen als selbstorganisierter und emanzipatorischer Prozess gefasst (S. 214). Überdies zielt aktivistische Bildung auf die Vermittlung „strategischer Kompetenzen“ (S. 220), denn wie Kalmring konstatiert „Linke Politik braucht mehr als organisierten Widerstand, sie braucht auch ein konstruktives Programm auf den unterschiedlichen Ebenen ihres Engagements.“ (S. 219). Bezugnehmend auf die schnelle Frustration, Überlastung und Ohnmachtserfahrungen in sozialen Bewegungen, misst Kalmring der aktivistischen Bildung außerdem eine „“kulturelle Funktion“ bei (S. 211).
Ähnliche Themen behandlet „G“ vom Kollektiv „Ulex“ in ihrem englisch-sprachigen Beitrag „Ulex and the ecology of social movement“. Hierin wird die Notwendigkeit einer nachhaltigen politischen Arbeit dargelegt und vertieft, sodass für einen „regenerativen Aktivismus“ (S. 231) geworben wird.
In ihrem Gespräch über „das Lernen und Verlernen“ in der politischen Bildung (S. 295) diskutieren Bitis, Borst und Niggemann unter anderem über die Rolle von „Privilegien“ und der methodischen Sinnhaftigkeit der politischen Adressierung derselben (S. 296). Darüber hinaus wird die Rolle des Mediums in der politischen Bildung debattiert und die Vorzüge eines Podcast-Formats dargelegt.
Neben den dargestellten Aufsätzen, werden auch noch die Themen, Hass auf LGBTIQ-Personen, Klimaskeptizismus, Körperlichkeit im Bildungskontext und kritische Theaterpädagogik behandelt.
Diskussion
Hawel und Kalmring haben in ihrem Sammelband sehr verschiedene Aufsätze zu diversen Themen herausgegeben. Aus Platzgründen soll hier nur auf einige der besprochenen Aufsätze eingegangen werden.
Hawels Einführungsaufsatz liefert eine Kritik der politischen Ökonomie, die sich bewusst gegen personalisierende und moralisierende Urteile stemmt. Hier ist sicherlich eine Stärke. Auch der Versuch Abwertungsideologien materialistisch aus der Positionierung in der Klassengesellschaft zu erklären ist spannend, sowie Hawels klare Benennung des Nationalstaats als Basis der Ideologien. Dennoch wäre eine weniger psychologisierende Erklärung von Nöten um aufzuzeigen, wie „normale“ Bürger*innen gerade aus ihrem affirmativen Standpunkt zum nationalen Zwangskollektiv in ihrem Idealismus enttäuscht werden und für diese Kluft zwischen Ideal der Nation und schlechter empirischer proletarischer Wirklichkeit nach Schuldigen suchen. Hierzu braucht es keine „pathische Projektion“, sondern einen schlichten verbreiteten staatsbürgerlichen Idealismus, der nach der Blamage des Ideals letzteres nicht aufgibt, sondern nach Feinden (in) der Nation sucht, die er für die Misere verantwortlich erklärt. Daraus ergibt sich dann auch keine philosophische Debatte über die vermeintlichen „Grenzen der Aufklärung“ (S. 50), sondern die ideologiekritische Widerlegung verkehrter staatsidealistischer Gedanken.
Besonders problematisch erscheint mir der Aufsatz „Klassismus und Wissenschaft“. Hier wird meines Erachtens ein Strohmann des orthodoxen Marxismus aufgebaut, für den kaum Literaturbelege aufgeführt wird. Wichtige marxistische Publikationen hierzu tauchen im Literaturverzeichnis überhaupt nicht auf. Die Behauptung Kritik an Klassismus sei wohl eine „patriarchale Geste, da diese Kritik häufig von Männern geäußert wird“ (S. 84), nimmt Abstand vom Inhalt der nicht weiter dargelegten marxistischen Kritik, sondern desavouiert diese argumentlos und dafür standpunkttheoretisch. Besonders heikel wird dieses Manöver dort wo sich die zwei männlichen Autoren dann wohl aber doch als auserkoren erachten zu definieren, ab wann etwas eine patriarchale Geste sei. Überaus schwierig ist es meiner Ansicht nach, wenn Altieri und Hüttner, sich positiv auf die These des „Sozialvertikalismus“ stützen (S. 86) und damit die sprachliche Benennung von Hierarchien der Klassengesellschaft als Konstruktion derselben missverstehen. Die reale Materialität der hierarchisierten Klassengesellschaft wird somit gerade nicht gefasst. Gerade bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung müsste man aber eigentlich wissen, dass es nicht ausreicht die Welt verschieden zu interpretieren, sondern diese ganz praktisch zu verändern.
Mit einigen interessanten und kritischen Anmerkungen kann dafür Rheins Kritik der bisherigen Vergangenheitsbewältigung glänzen. Sie liefert sowohl empirische Belege für die mehr als halbherzige Aufarbeitung (S. 137–139) und ordnet gleichzeitig richtig ein, worin der Nutzen der deutschen Nation darin besteht, in der Schaffung eines positiven nationalen Selbstverständnisses im Inneren (S. 140) sowie in einem geopolitischen Rehabilitationsanspruch in der Staatenwelt. Lobenswert ist überdies, dass sie rechte Ideologien nicht als Mangel unglücklicher Menschen, sondern als politisches Programm fasst und auf deren inhaltliche Kritik im Rahmen politischer Bildungsarbeit besteht.
Kalmring liefert eine spannende und machtkritische Konzeption aktivistischer Bildung. Diese steht in einem Ergänzungsverhältnis zur Grundüberlegung über die kontemporäre Polykrise. Auch reflektiert Kalmring dadurch kritisch die Vergangenheit eines autoritären Marxismus und trägt so zur Erneuerung der Linken bei. Gleichzeitig basiert sein Konzept auf der apodiktischen Prämisse Bildner*innen und Aktivist*innen hätten das selbe Ziel und ähnliche, wenn auch verschiedene Wissensbestände. Hierin liegt die Beschränkung. Wie Kalmring bewusst sein wird, ist die politische Linke gerade hochgradig marginalisiert, von gemeinsamen Zielen kann nur selten ausgegangen werden. Stattdessen ist zunächst großteils argumentative Überzeugungsarbeit notwendig.
Fazit
Der Sammelband bildet ein breites Spektrum an bildungsbezogenen Themen ab. Wer sich im Bereich der politischen Bildung berufsmäßig bewegt, kann hier Anreize sammeln und diese selbst kritisch reflektieren. Wer sich hingegen für eine Bestimmung der ebenfalls verhandelten Gegenstände wie Nationalismus, Antisemitismus oder anderen Ideologien interessiert, wird um eine eigenständige Befassung mit selbigen nicht umhinkommen. Hier kann der Band höchstens ein erstes kurzes Erklärungsangebot bieten, dass von den Leser*innen vertiefend und reflexiv aufgenommen werden muss.
Rezension von
Joshua Graf
M.A. Soziale Arbeit
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Es gibt 4 Rezensionen von Joshua Graf.
Zitiervorschlag
Joshua Graf. Rezension vom 27.11.2024 zu:
Marcus Hawel, Stefan Kalmring (Hrsg.): (Ohn-) Macht überwinden! Politische Bildung in einer zerrissenen Gesellschaft. Verbrecher Verlag
(Berlin) 2024.
ISBN 978-3-95732-587-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32571.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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