Inge Kamp-Becker, Sven Bölte: Autismus
Rezensiert von Dr. Richard Hammer, 21.11.2024
Inge Kamp-Becker, Sven Bölte: Autismus. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2024. 4. aktual. Auflage. 111 Seiten. ISBN 978-3-8252-6315-7. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR, CH: 21,90 sFr.
Thema
Die Veröffentlichung „Autismus“ erscheint in der 4. Auflage im UTB-Verlag, eine Arbeitsgemeinschaft aus 15 Verlagen, die ihre Studienbücher im einheitlichen roten Uni-Taschenbuchformat veröffentlichen. Diese Studienbücher führen die Leser*in in einer sehr kompakten Form in ein Themengebiet ein, das für Studium und Beruf eine hohe Relevanz hat. Das vorliegende Buch befasst sich mit der „Historie, Symptomatik und Heterogenität des Phänomens Autismus“ (S. 11) als früh beginnende, viele somatische und Alltagsfunktionen beeinträchtigende, überdauernde Störung
Autorin und Autor
Prof. Dr. Inge Kamp-Becker, ist Diplompsychologin und arbeitet an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Heidelberg.
Prof. Dr. Sven Bölte ist Diplompsychologe und Direktor des Karolinska Institutet Center of Neurodevelopment Disorders in Stockholm/​Schweden
Aufbau
Nach einer kurzen Einleitung, in der mit der steigenden Fallzahl, den Veränderungen der Diagnostischen Manuale und dem zunehmenden Interesse der (Fach-)Öffentlichkeit die Herausgabe einer 4. Auflage begründet wird, befasst sich das Buch mit den zentralen Fragen des Phänomens Autismus: Was charakterisiert Menschen mit Autismus? Was versteht man unter „Autismus-Spektrum-Störungen“? Wie häufig sind sie? Welche Interventionen wirken?
Es beschreibt Symptome von Störungen im Autismus-Spektrum und wie man diese fundiert diagnostiziert, fasst die aktuelle Forschung zu Ursachen und Einflussfaktoren zusammen und gibt einen Überblick über Leitlinien zu Diagnostik und Therapie. Außerdem werden therapeutische Interventionen und Strategien der sozialen Integration vorgestellt.
Inhalt
In einem kurzen ersten Kapitel stellen die Autor*nnen das Phänomen Autismus vor und verweisen hier schon auf die Heterogenität dieses Störungsbildes. Sie gehen ein auf die Symptomatik und diagnostische Kriterien, die mit dem DSM V und der ICD 11 auf dem neuesten Stand gebracht werden.
Im nächsten Abschnitt werden typische Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) kurz vorgestellt, mit dem Hinweis darauf, dass diese das Funktionsniveau und den Entwicklungsverlauf der autistischen Störung stark beeinträchtigen und therapeutische Interventionen empfindlich behindern.
Das anschließende Kapitel geht der Frage nach, wie häufig autistische Störungen vorkommen und versucht – anhand epidemiologischer Studien – kurz zu beantworten, weshalb in den vergangenen Jahren die Prävalenzrate erheblich zugenommen hat. Man geht heute von einer mittleren weltweiten Prävalenz von bis zu 1 % aus. Dabei sind die Spannbreiten dieser Zahlen sehr groß, da das Erscheinungsbild des Autismus sehr heterogen ist und deshalb die Diagnose und auch die Therapie erschwert.
Ungeklärt sind auch die Ursachen der autistischen Störung. Im fünften, ausführlichen Kapitel wird zunächst festgestellt, dass in der Fachöffentlichkeit ein „beträchtlicher Einfluss genetischer Faktoren unbestritten“ ist (S. 33), dass aber auch Umweltfaktoren eine gewissen Rolle spielen. Im Anschluss daran gehen die Autor*innen ausführlich auf die „Neuropsychischen Auffälligkeiten“ als psychologische Korrelate der autistischen Störung ein (Exekutive Funktionen, Theory of Mind, Zentrale Kohärenz) und stellen die Besonderheiten in der Entwicklung autistischer Kinder in den Bereichen Emotionsregulation, soziale Entwicklung und Spiel dar.
Ein weiteres Kapitel geht der Frage nach: Wie erkennt man Autismus? Sehr ausführlich werden die einzelnen Schritte zur Diagnose und Differenzialdiagnose beschrieben und dabei Screening-Verfahren sowie anerkannte standardisierte Verfahren vorgestellt.
Die wichtige Frage „Kann Autismus behandelt werden und mit welchen Methoden?“ steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Zahlreiche Studien zeigen, dass sich bis heute in erster Linie verhaltenstherapeutische Methoden als Mittel der Wahl bewährt haben. Sie tragen nicht dazu bei, Autismus zu heilen, sie helfen jedoch den betroffenen Menschen Mittel an die Hand zu geben, ihren Alltag besser zu bewältigen.
Was sich mit zunehmendem Alter für die Menschen mit Autismus ändert, hängt von verschiedenen Faktoren ab, in erster Linie von der Intelligenz der Betroffenen, aber auch von der Therapie, dem familiären Umfeld und der medikamentösen Behandlung der Begleitstörungen.
Das abschließende Kapitel gibt Hinweise darauf, welche Möglichkeiten der Unterstützung und Förderung Kinder, Jugendliche aber auch Erwachsene in den Bereichen Kita, Schule und Beruf haben.
Im Anhang werden in einem Glossar medizinische Fachbegriffe erklärt und aktuelle Literatur aufgelistet. Das Register hilft bei der Suche nach spezifischen Begriffen im Buch.
Diskussion
In diesem kleinen, aber feinen Buch stellen zwei Professor*innen, die seit Jahrzehnten in der Fachwelt anerkannt sind, das Phänomen Autismus dar, mit all seinen Facetten, mit seiner Faszination aber auch mit den Schwierigkeiten, welche die betroffenen Menschen in ihrem Leben und die Fachkräfte in ihrer professionellen Arbeit haben. Wir erhalten einen guten Einblick und Überblick in die einzelnen Bereiche der autistischen Thematik. Ihre Aussagen sind weitgehend durch zitierte Studien belegt und sie sind auch sehr kritisch reflektiert. Als Beispiel mag der Umgang mit den diagnostischen Manualen DSM V und ICD 11 gelten: während das DSM V als für die Diagnostik und auch für die Folgerungen in der Therapie als sehr hilfreich dargestellt wird, wird bzgl. der ICD 11 sehr kritisch gesehen, „dass keine Anzahl an zwingend notwendigen Merkmalen genannt wird. Außerdem werden viele Ausnahmen und Einschränkungen in Bezug auf Störungsbeginn und die Beeinträchtigung gemacht. Die Kriterien fokussieren insbesondere auf Erwachsene ohne kognitive Beeinträchtigung und deutlich weniger auf schwer Betroffene und Kinder. Die Beschreibungen erhalten viele unpräzise Formulierungen und Widersprüche, was die klinische Nützlichkeit fraglich erscheinen lässt“ (S. 21).
Neben diesen fachlich fundierten Aussagen finden wir in diesem Buch auch mehrere Falldarstellungen, die es auch der nicht so versierten Leser*in erleichtern, einzutauchen in das Phänomen Autismus und für ihre professionelle Tätigkeit zu lernen.
Nicht eingegangen wird in diesem Buch auf die Diskussion, ob Autismus als Störung zu bezeichnen oder als ist andere Form die Welt wahrzunehmen und damit auch eine andere Sicht auf die Welt als die „neurotypischen Menschen“ zu haben
Fazit
Ein sehr empfehlenswertes Buch für Psycholog*innen, Mediziner*innen, Berufsgruppen aus dem Sozialbereich, Lehrer*innen und andere Pädagog*innen, die diesem nicht sehr seltenen Störungsbild früher oder später in ihrer praktischen Arbeit begegnen werden.
Rezension von
Dr. Richard Hammer
Dipl. Motologe
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Es gibt 33 Rezensionen von Richard Hammer.
Zitiervorschlag
Richard Hammer. Rezension vom 21.11.2024 zu:
Inge Kamp-Becker, Sven Bölte: Autismus. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2024. 4. aktual. Auflage.
ISBN 978-3-8252-6315-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32574.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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