Inge Seiffge-Krenke: Psychodynamische Psychotherapie mit jungen Erwachsenen
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 30.09.2024
Inge Seiffge-Krenke: Psychodynamische Psychotherapie mit jungen Erwachsenen. Besonderheiten der Entwicklungsphase "emerging adulthood". Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2022. 167 Seiten. ISBN 978-3-17-040364-2.
Thema
Das junge Erwachsenenalter wird als Postadoleszenz einer eher neuen entwicklungspsychologischen Vorstellung folgend vom Jugendalter abgegrenzt. Nicht erst seit Corona, aber durch die Pandemie verstärkt, kehren Studierende, vor allem junge Männer, in Elternhaus zurück. In Beziehungen scheinen sie sich nicht mehr sicher zu fühlen; sie scheuen die Verbindlichkeit einer festen Partnerschaft. Der Eintritt in die Elternschaft rückt immer mehr in die Zukunft.
Autorin und Entstehungshintergrund
Prof. Dr. phil. Inge Seiffge-Krenke (*1948) ist Psychologin und Psychoanalytikerin; 1997–2013 leitete sie die Abteilung Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Universität Mainz. Mindestens im deutschen Sprachraum ist sie die führende psychoanalytische Entwicklungswissenschaftlerin ihrer Generation (die letzte psychodynamisch orientierte Professorin für Entwicklungspsychologie an einer öffentlichen Hochschule in Deutschland): Einer ihrer Schwerpunkte ist die Adoleszenzentwicklung (besonders Identität und Gesundheitsverhalten). Sie hat hunderte Originalarbeiten und eine große Zahl von Monographien vorgelegt. Inge Seiffge-Krenke lehrt als Gastprofessorin an der IPU Berlin und der Catolica Pontificat Universitas Lima, Peru; 2008 – 2010 war sie Präsidentin der EARA (European Association for Research in Adolescence) und ist seit 2005 Mitglied des Steering Committee “Emerging Adulthood”.
Im vorliegenden Band fasst die Autorin den aktuellen Stand zu ihrem Hauptforschungsthema der vergangenen Jahre zusammen: „Emerging Adulthood“.
Aufbau und Inhalt
Die neue Entwicklungsphase „emerging adulthood“: Psychoanalytische Konzepte und empirische Befunde
Das Konzept des beginnenden Erwachsenenalters wurde von Jeff Arnett (2004) eingeführt. Es umfasst die Alterspanne von 18 bis 25, manchmal bis hin zum Alter von 30 Jahren; vermutlich ist es auf die westlichen Industrieländer beschränkt und tritt bei jungen Menschen mit höherer Bildung prägnanter auf als bei Auszubildenden, die in der Regel im Alter von 19 Jahren ihre Gesellenprüfung absolvieren und danach voll ins Erwerbsleben einsteigen. Vermutlich bildet sich die Tendenz zur Verlängerung der Individuierungs- und Loslösungsphase zuerst in sozial „gehobenen“ Milieus nicht nur in Europa, Nordamerika und Australien, sondern auch in Südamerika und in Asien; neurobiologische Befunde mögen beigetragen haben. Wir sehen
- Die Exploration der eigenen Identität, besonders im partnerschaftlichen und beruflichen Bereich [1]
- Instabilität im Bereich beruflicher Status, Partnerschaften; generelle „Umzugsmobilität“
- starke Selbstfokussierung
- Das Gefühl des „Dazwischenseins“
- Heterogenität der Lebensläufe
Veränderte Identitätsentwicklung und ihre Auswirkungen auf Beziehungen
In Eriksons Konzept sind in der Altersphase der Adoleszenz die Entwicklungskonflikte (5.) Ich-Identität vs. Ich-Identitätsdiffusion und (6.) Intimität vs. Isolation vorherrschend; erst danach kann (7.) die Phase Generativität vs. Stagnation und Selbstabsorption gelebt und ggf. bewältigt werden.
Zunahme psychischer Störungen im jungen Erwachsenenalter
Die Autorin belegt, dass junge Erwachsene die höchste Prävalenzrate für psychische Störungen haben (auch wenn viele spätere Störungen bereits mit Prodromalphasen in der Kindheit beginnen).
30 % aller jungen Männer im Alter von 18–34 Jahren erfüllen die Kriterien für eine psychische Erkrankung. Im mittleren Erwachsenenalter fällt diese Zahl auf 21 % und im fortgeschrittenen Erwachsenenalter auf 15 %. Es gebe einen deutlichen Geschlechtsunterschied: Junge Frauen würden noch deutlich häufiger manifest erkranken. Als besonders typische Erkrankungen zählt Seiffge-Krenke auf: Depression und Suizid, ADHS, selbstverletzendes Verhalten, Sucht, Persönlichkeitstörungen, Computerspielabhängigkeit, Prokrastination. Schwierigkeiten den angemessenen Umgang innerhalb unseres Versorungssystems werden angedeutet; die Zuständigkeit der (entwicklungsorientierten) Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie und -psychotherapie endet mit dem 21 Lebensjahr. In Deutschland wird die Durchlässigkeit der Versorgung durch unüberwindliche bürokratische und ökonomische Barrieren völlig unnötig erschwert.
Wie stellen sich die Patienten dar? Probatorische Sitzungen und Indikationen
In zahlreichen Fallvignetten schildert die Autorin mannigfaltige Fallkonstellationen. Eine besondere Herausforderung stellen migrantische Milieus dar, die in traditionellen Kulturen ihrer Heimatländer verharren; es wird aber auch der Druck deutlich, der auf Angehörigen der 2. Generation lastet.
Besonderheiten in der Behandlungstechnik bei jungen Erwachsenen
Seiffge-Krenke schlägt vor, die Behandlungstechnik für junge Erwachsene von der Adoleszenz her zu denken. Viele Anpassungen der traditionellen psychydynamischen Behandlungstechnik für Jugendliche sind auch für junge Erwachsene sinnvoll, so Verzicht auf die Couch, sprechen im vis-à-vis, individualisiert flexibler Umgang z.B. mit Behandlungsfrequenz und Dauer sowie ein aktiveres Vorgehen (jedoch ohne Abstinenz oder technische Neutralität zu gefährden). Während in der digitalen Welt alles sofort und in jeder gewünschten Menge verfügbar ist, muss in der Psychotherapie der Rahmen anerkannt werden, und es stehen begrenzte Zeiträume zur Verfügung.
Warum ist Arbeit mit Eltern und Partnern sinnvoll?
Eltern- oder Bezugspersonenarbeit ist oft sinnvoll, weil es nicht selten gerade die sind, die die Autonomieentwicklung der Betroffenen vereiteln. Häufig können Eltern ihren Kindern aus unterschiedlichen Gründen keinen Raum lassen für ein Sich-Ausprobieren. Der Affektbetrag, mit dem sie die Ablösung der Kinder ablehnen, ist oft größer als deren Autonomiebedürfnis (Hotel Mama).
Die Beendigung der Behandlung
Auch Abbrüche können manchmal zu einem befriedigenden Behandlungsergebnis führen. Manchmal müssen sich die Therapeut-innen auf ein Teilergebnis einlassen und z.B. mit dem zufrieden sein, was sich in einer Kurztherapie erarbeiten lässt. Für manche Störungen sind spezielle Programme erfolgsversprechender als eine Richtlinienpsychotherapie (etwa Prokrastination oder Sucht).
Abschließende Bemerkungen
Zum Ende macht die Autorin noch einmal auf die Notwendigkeit der (Anerkennung von) Begrenzung aufmerksam. Sie fordert auf zu Verständnis mit den Eltern, die noch nie in der Vergangenheit eine solange Familienphase gestalten mussten und macht auf das große Forschungsdefizit aufmerksam, dass das Feld des Erwachsenenalters-in-Entwicklung auszeichnet.
Diskussion
Dieses Werk schließt unmittelbar an das Hauptwerk der Autorin, gewissermaßen das Fazit 40-jähriger Forschungsarbeit: „Jugendliche in der psychodynamischen Psychotherapie“ (4. Auflage 2020, 2007 Heigl-Preis für die 3. Auflage, 1. Auflage 1986, Habilitation: Problembewältigung im Jugendalter. 3 Bände. Universität Gießen, 1985.).
Mit 150 Seiten Fließtext ist das Buch eine ziemlich komprimierte Einführung. Trotzdem gelingt es der Autorin, recht detailliert und plastisch auf typische Konstellationen und Fragestellungen einzugehen. Einigen Spezialthemen hat sie eigene Publikationen gewidmet, etwa dem Thema „Väter“ oder der Thematik der „Entwicklung der sexuellen Identität und ihrer Flexibilisierung“ (Transidentität/Geschlechdysphorie) in der Gegenwart. Auch zum Thema romantischer Beziehungen Adoleszenter hat sie sich geäußert.
Fazit
Wie alle Bücher der Autorin ist der vorliegende Band sehr gut lesbar und orientiert sich stark an den Bedürfnissen der klinischen Praxis. Hätte jemand noch nie einen jungen Erwachsenen behandelt und müsste sich der Herausforderung am Montag stellen, würde er sich übers Wochenende mit dem Buch von Inge Seiffge-Krenke bestmöglich vorbereiten.
Literatur
Erich H. Erikson (1959 dt. 1971): Identität und Lebenszyklus, Stuttgart: Klett-Cotta
Jeff J. Arnett(2004): Emergin adulthood: The windingroad trom the late teens through the Twenties. New York: Oxfort University Press
Seiffge-Krenke, I. (1986). Psychoanalytische Therapie Jugendlicher. Stuttgart: Kohlhammer
Seiffge-Krenke, I. (2004). Psychotherapie und Entwicklungspsychologie: Beziehungen: Herausforderungen, Ressourcen, Risiken. Heidelberg: Springer
Seiffge-Krenke, I. (2004). Psychotherapie und Entwicklungspsychologie: Beziehungen: Herausforderungen, Ressourcen, Risiken. Heidelberg: Springer
Seiffge-Krenke, I. (2016). Väter, Männer und kindliche Entwicklung: Ein Lehrbuch für Psychotherapie und Beratung. Heidelberg: Springer.
Seiffge-Krenke, I. (2017). Psychoanalyse des Mädchens. Stuttgart: Klett-Cotta
Seiffge-Krenke, I. (2012/22). Therapieziel Identität. Veränderte Beziehungen, Krankheitsbilder und Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta
Seiffge-Krenke, I, (2020). Auf der Suche nach dem neuen Ich: Identitätsentwicklung im Jugendalter. Stuttgart: Kohlhammer.
Seiffge-Krenke, I (2020) Jugendliche in der Psychodynamischen Psychotherapie: Kompetenzen für Diagnostik, Behandlungstechnik, Konzepte und Qualitätssicherung Klett-Cotta, Stuttgart.
Seiffge-Krenke, I. Dietrich, H., Adler-Corman, P., Timmermann, H., Rathegber, M., Winter, S., & Röpke, C. (2014). Die Konfliktachse der OPD-KJ-2: Ein Fallbuch für die klinische Arbeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
[1] Nach Arnett findet die Identitätskriese nach Erikson nicht mehr im Jugendlichenalter statt sondern im beginnenden Erwachsenenalter
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 30.09.2024 zu:
Inge Seiffge-Krenke: Psychodynamische Psychotherapie mit jungen Erwachsenen. Besonderheiten der Entwicklungsphase "emerging adulthood". Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2022.
ISBN 978-3-17-040364-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32575.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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