Katharina Lamprecht, Stefan Hammel et al.: Wie der Tiger lieben lernte
Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 26.06.2025

Katharina Lamprecht, Stefan Hammel, Adrian Hürzeler, Martin Niedermann: Wie der Tiger lieben lernte. 120 Geschichten zum Umgang mit psychischem Trauma.
Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2021.
190 Seiten.
ISBN 978-3-497-03017-0.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Reihe: Psychologie.
Autor:innen
Bei den vier Autor:innen des Buches handelt es sich um Fachkräfte aus dem psychotherapeutischen und (heil-)pädagogischen Bereich aus Deutschland und der Schweiz, die den Einsatz von Geschichten in ihre berufliche Tätigkeit integrieren.
Aufbau und Inhalt
Anhand einer Vielfalt von Geschichten zeigt das Buch, wie Erzählungen und Geschichten eine therapeutische Wirkung bei der Bewältigung traumatischer Erfahrungen haben können. Den Beginn des Buches bildet eine kurze theoretische Einführung, in der dargestellt wird, wie psychische Traumata entstehen, wie sie sich innerpsychisch auswirken und welche Ziele traumatherapeutisches Arbeiten hat. Als therapeutische Strategien werden die Dissoziation von Belastungserleben und Ich-Erleben, die Fragmentierung von Belastungserleben, die Assoziation von Ressourcenerleben, die Zusammenführung von Ressourcen- und Belastungserleben sowie die Transformation von Belastungs- in Ressourcenerleben genannt. Die dargestellten Geschichten lassen sich jeweils einer oder mehrerer dieser Strategien zuordnen. Am Ende der Einführung wird in Kürze beschrieben, wie mit Geschichten in einem psychotherapeutischen Setting, aber auch in anderen Kontexten, gearbeitet werden kann. Die Anwendung der therapeutischen Geschichten basiert auf dem hypnotherapeutischen Ansatz Milton Ericksons. Grundannahme des Arbeitens mit Geschichten ist, dass auch „Parallelgeschichten“, die „einen Schritt vom Problem versetzt“ (S. 23) ähnliche Themen wie die traumaassoziierten Inhalte behandeln, intuitiv unbewusste innere Anteile anregen können, die Belastungen und Fixierungen verändern und zu neuen Lösungswegen hinleiten können.
Es folgen 120 therapeutische Geschichten, die assoziativ verschiedenen Kategorien zugeordnet sind:
- Traumaprävention
- Die Starre lösen
- Geduld und Zuversicht im Überwinden
- Ein neuer Blick auf scheinbar schlechte Reaktionen
- Zugehörigkeit erleben lassen
- Beziehungen entlasten
- Traumatische Reaktionen nachkonditionieren
- Aussöhnung, Güte, Selbstversöhnung
Die Geschichten können an dieser Stelle nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Sie sind durchwegs kurz, selten länger als eine Seite, und tragen oft geheimnisvoll klingende Namen wie „Barbarossa“, „Mit Zuversicht in die Buckelpiste“, „Drei Drittel Ehemänner“ oder „Elefanten in der Teeplantage“. Jeder Geschichte folgen kurze Überlegungen zur therapeutischen Anwendung. Die Geschichten sind sehr unterschiedlich: Manche Erzählungen sind märchenhaft, andere anekdotisch, in manchen Geschichten werden kurze therapeutische Vignetten nacherzählt, und manche lesen sich wie sehr konkrete Anleitungen zu therapeutischen Interventionen und (Imaginations-)Übungen. Manche Geschichten behandeln sehr konkret traumatische Themen wie Verlust, Flucht und Tod, während andere phantasievolle Bilder aus der Tier- oder Märchenwelt zeichnen.
Diskussion
Das heilsame Potenzial von Geschichten und Erzählungen ist seit langem bekannt. „Kinder brauchen Märchen“, stellte Bruno Bettelheim (1977/2006) bereits vor einem halben Jahrhundert fest. Geschichten vermögen auf einer unbewussten Ebene Kräfte in uns zu wecken, die dazu beitragen, innere Konflikte bearbeitbar zu machen und neue Zugänge zu ungelösten Themen und Problemen zu finden. Wer Antworten darauf sucht, wie es sich wissenschaftlich erklären lässt, dass und in welcher Weise Geschichten heilsam wirken können und welche Auswirkungen Imaginationen auf unsere Psyche haben, wird in diesem Buch wohl kaum fündig werden. Auch über den hypnotherapeutischen Ansatz, auf den mehrfach Bezug genommen wird, erfährt man wenig.
Die Stärke des Buches liegt vielmehr darin, dass hier vier Fachkräfte, die das Potenzial von Geschichten für ihre Arbeit mit belasteten und traumatisierten Personen für sich entdeckt haben, ihren Erfahrungsschatz an therapeutischen Geschichten teilen. (Es ist ein wenig bedauerlich, dass die Geschichten nicht namentlich gezeichnet sind, sodass beim Lesen mitunter Irritation entsteht, wenn die als „Ich“ erzählende Person einmal männlich und einmal Mutter ist.)
Dass hier vier Autor:innen Geschichten beisteuern, trägt vermutlich zum Gesamteindruck bei, dass die versammelten Geschichten von Inhalt, Struktur und Erzählweise ganz unterschiedliche Narrative ergeben. Dies ist eine besondere Qualität des Buches, denn so kann jede Leserin und jeder Leser für sich die Erfahrung machen, welche Geschichten sie/ihn besonders ansprechen und welche Geschichten und Bilder im Gegenzug gar keine innere Resonanz auslösen, oder bei welchen Geschichten man sich vorstellen könnte, sie selbst in der Arbeit mit Klient:innen anzuwenden. Die Geschichten sind für Erwachsene gedacht, lassen sich aber zum Teil auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen adaptieren.
Möglicherweise ist das Buch auch genau so konzipiert, dass Leser:innen sich aus den dargestellten Geschichten Anregungen holen sollen, um ihre eigenen Geschichten und (Sprach-)Bilder zu kreieren. Anders wäre es kaum vorstellbar, nehmen doch viele der Geschichten Bezug auf persönliche Umstände von Klient:innen, die sehr spezifisch sind und für andere Personen in ähnlichen Situationen nicht in derselben Weise wirksam oder passend wären. In der Geschichte „Der Vulkan“ rät ein Berater seinem Klienten, der die impulsive Persönlichkeit seiner Frau mit einem Vulkan assoziiert, ein Bild von einer entsprechenden Landschaft auszudrucken und zuhause aufzuhängen. Er sagt dem Klienten: „Ich mir sicher, dass Sie viel weniger Stress haben werden und viel mehr Ruhe mit Ihrer Frau erleben…“ (S. 138). Eine gewagte Intervention, die sich nicht nur die Macht der Imagination, sondern auch der Suggestion zunutze macht, und die möglicherweise bei diesem Klienten eine produktive Wirkung hat, bei anderen aber nicht. Diese Geschichte ist auch ein Beispiel dafür, dass es sich bei manchen Erzählungen eben nicht um Geschichten im Sinne eines Narrativs handelt, sondern Anleitungen zu beraterischen oder therapeutischen Interventionen wiedergegeben werden, etwa auch in der Geschichte „Nimm meine Stimme mit“ (S. 147), die so beginnt: „Hör meine Stimme, und wenn es passiert, dass du in Alptraumwelten abtauchst, in grausame Erinnerungsfilme, die wie echt, wie jetzt erscheinen, nimm meine Stimme mit. Versuche nicht, im Jetzt zu bleiben, sondern halte dich an meiner Stimme fest.“ (Im Anschluss wird erklärt, dass es bei traumatisierten Klient:innen oft schwierig ist, sie bei Dissoziationen und Flashbacks im „Hier und Jetzt“ zu halten, dass es aber das Erleben in diesen Zuständen erleichtern kann, wenn die Stimme der Therapeutin/des Therapeuten „mitgenommen“ werden kann.)
Manche Geschichten greifen äußerst komplexe Themen auf wie etwa die Reinszenierung von traumatischen bzw. unbewältigten Kindheitserfahrungen in späteren Beziehungen in der Geschichte „Das Karussel“. Dabei darf aber nicht außer Acht gelassen werden, dass die zugrundeliegenden Übertragungsprozesse durch die vorgestellten Geschichten von Betroffenen vielleicht besser erkannt werden können, das Durcharbeiten und Auflösen dieser Dynamiken aber oft jahrelange therapeutische Arbeit erfordert. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Frage stellen, was „therapeutisch“, was also „heilend“ in diesem Zusammenhang meint. In der theoretischen Einführung wird ausgeführt, dass das Ziel traumatherapeutischer Arbeit ist, dass Erinnerungen an traumatische Erlebnisse und damit verbundene Erlebnisinhalte keine traumatische Stressreaktion mehr erzeugen. Dies ist mit therapeutischen Geschichten alleine wohl kaum zu erreichen. Die durch Geschichten initiierten Bilder und Phantasien können allerdings dazu beitragen, dass einzelne Aspekte des traumatischen Erlebens aus einer anderen Perspektive betrachtet werden können und dass sie – zumindest punktuell – nicht mehr als überwältigend und unkontrollierbar erlebt werden müssen.
Wenn man die Geschichten des Buches dazu nutzen möchte, sich Anregungen für die eigene Praxis zu holen, dann sind Überlegungen wie die Auflösung von komplexen Übertragungs-/Gegenübertragungsdynamiken theoretische Spitzfindigkeiten. Dies gilt auch für die Tatsache, dass der Bezug zum Thema „Trauma“ bei manchen Geschichten sehr lose und assoziativ ist, ebenso wie die Zuordnung zu einem der acht Abschnitte oder die Beschlagwortung der Geschichten (das Stichwortverzeichnis im Anhang erleichtert es, Geschichten zu ganz bestimmten Themen zu finden). Die Autor:innen stellen wohl auch gar nicht den Anspruch, das Thema systematisch zu bearbeiten – als „Wühlkiste“ für die eigene praktische Tätigkeit eignet sich das Buch aber bestimmt.
Der einführende theoretische Abschnitt über psychische Traumatisierung ist leicht verständlich geschrieben und auch für Betroffene gut nachvollziehbar. Dennoch sollten sich Betroffene nicht alleine mit den Geschichten des Buchs auseinandersetzen, vielmehr sind diese dazu gedacht, im Kontext von heilenden Beziehungen in Beratung, Therapie und in pädagogischen Settings zum Einsatz zu kommen (S. 27).
Fazit
Wer in seiner pädagogischen, beraterischen oder therapeutischen Tätigkeit gerne Geschichten einsetzt und mit traumatisierten oder belasteten Klient:innen arbeitet, wird in diesem Buch vielfältige Anregungen finden.
Literatur
Bettelheim, B. (1977/2006). Kinder brauchen Märchen. München: dtv.
Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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