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Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft

Rezensiert von Alan Schink, 31.03.2025

Cover Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft ISBN 978-3-406-81461-7

Frauke Rostalski: Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit. Verlag C.H. Beck (München) 2024. 188 Seiten. ISBN 978-3-406-81461-7. 16,00 EUR.
Reihe: C.H. Beck Paperback - 4608. Edition Mercator.

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Thema

Die Diagnose, dass Verletzlichkeit einen zunehmenden gesellschaftlichen Stellenwert gewinnt, ist nicht neu, sie wird in Soziologie und Philosophie und auch in der intellektuellen Öffentlichkeit seit Jahren behandelt und diskutiert. Doch ist sie nach der Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsident und der sich abzeichnenden Aufrüstung in Europa überhaupt noch aktuell? Wie hängen Vulnerabilität, Resilienz und Risikowahrnehmung zusammen? Wie verändert eine gesteigerte Verletzlichkeit das Zusammenleben in einem liberalen Rechtsstaat, durch welche Diskurse manifestiert sie sich und wie wirkt sich Vulnerabilität im Hinblick auf unser Verhältnis zu Freiheit aus? Diese Fragen werden im vorliegenden Werk „Die vulnerable Gesellschaft“ zum einen rechtsphilosophisch hergeleitet und erörtert, zum anderen zeitdiagnostisch in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen verortet, sichtbar gemacht und einem kritischen Blick unterzogen.

Autorin

Die Autorin Frauke Rostalski (*1985) ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der juristischen Fakultät der Universität zu Köln. Sie wirkte mehrfach als juristische Sachverständige für den Bundestag und in verschiedenen Landtagen. In der jüngeren Vergangenheit äußerte sich Rostalski, die auch Mutter zweier Kinder ist, in öffentlichen Debatten u.a. zu den Themen von Lebensschutz, zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen in der Corona-Pandemie oder zur aktuellen Politik der Schuldenbremse.

Entstehungshintergrund

Neben der Analyse des Soziologen Andreas Reckwitz (2020), der dem spätmodernen Subjekt eine zunehmende „Verletzlichkeit“ attestiert , der Phänomenologie des Leides von Emmanuel Lévinas (2011) oder der Gesellschaftsdiagnose von Byung-Chul Han (2020) über die „Hypersensibilität“ des modernen Menschen (S. 27 f.) ist es vor allem auch die Arbeit über die Eigenart „moderne(r) Empfindlichkeit“ der Philosophin Svenja Flaßpöhler (Flaßpöhler 2021), die den Denkhorizont des vorliegenden Buches eröffnet (S. 21, 28, 144). Im Rahmen des Diskurses über die Maßnahmen in der Corona-Krise stand Flaßpöhler nicht allein durch ihre philosophischen Standpunkte, sondern aufgrund ihrer abweichenden Äußerungen als Person im diskursiven Fokus der pandemischen Öffentlichkeit. Klima, Corona, Krieg oder Gender: Öffentliche Debatten werden einerseits offenbar zunehmend polarisierter, was vorgenannte Schlagworte anklingen lassen. Andererseits nimmt nicht nur die Gereiztheit, sondern auch die Verletzlichkeit in bestimmten Diskursen sichtlich zu, was nicht zuletzt vor dem Hintergrund des politischen Dilemmas sogenannter ‚Cancel Cultures‘ sich zeigt. Diese und weitere Beobachtungen führen die Autorin Frauke Rostalski über die bisherigen, oben teils genannten, soziologischen und philosophischen Auseinandersetzungen zur modernen Verletzlichkeit hinaus und leiten hin zu einem Phänomen, dass sie als zunehmende Verletzlichkeit von Diskursen, bzw. „Diskursvulnerabilität“, hervorhebt und analysiert.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist nach der Einleitung in fünf Kapitel untergliedert, die sich systematisch aufeinander beziehen und daher am besten auch in der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden sollten.

Im ersten Kapitel leitet Rostalski ihre Diagnose von der vulnerablen Gesellschaft soziologisch, psychologisch und philosophisch her. Sie bestimmt zunächst einmal die „Kennzeichen einer vulnerablen Gesellschaft“ und zeigt dabei unter anderem das Wechselverhältnis von Vulnerabilität und Resilienz auf (S. 22 ff.). Hierzu bezieht sie sich auch auf den phänomenologischen Ansatz von Emmanuel Lévinas, der Leiden als ein intersubjektives Verhältnis fasst und damit die Verschränkung von „Vulnerabilität und Sensibilität“ (S. 26) begründet. Von Lévinas aus formuliert Rostalski die naheliegende soziologische These, dass sich „Vulnerabilitätszuschreibungen wesentlich darauf auswirken, wie Menschen individuell und kollektiv mit Risiken umgehen – wie sie diese wahrnehmen und bewältigen“ (S. 27). Ein zentrales Merkmal einer vulnerablen Gesellschaft sei aus dieser Perspektive, dass sie „nicht bloß besonders risikoavers“ seien, sondern auch dazu neigten, „die Aufgabe der Risikobewältigung in staatliche Hände zu legen und diesen Vorgang immer weiter auszudehnen“ (S. 27).

Im zweiten Kapitel bestimmt Frauke Rostalski das Verhältnis von Staat und Freiheit und zeichnet die Entwicklung des modernen Präventionsstaats nach. Spätestens hier zeigt sich, inwiefern die Autorin vorweg aus einer liberalen politischen Warte argumentiert, in der sie sich auf Immanuel Kants Autonomiebegriff bezieht und anschließend für die Staatstheorie von Thomas Hobbes darlegt, inwiefern der in unserem Rechtsstaat relevante „rechtliche Freiheitsbegriff“ ein immanent negativer sei: „Um Freiheit im rechtlichen Sinne herzustellen, muss der Staat Eingriffe unterlassen“ (40). Zwar anerkennt Rostalski hierbei die Rolle des Staates als Manager hochkomplexer Risikobereiche, die ein geordnetes Zusammenleben erst ermöglichen (S. 46 f.) und damit die Basis für Sicherheit und Vertrauen schaffen. Gleichzeitig beobachtet und problematisiert die Autorin – und damit steht sie in der intellektuellen Auseinandersetzung freilich nicht alleine – eine zunehmende staatliche Einflussnahme auf immer weitere gesellschaftliche Lebensbereiche. Diese höhlten die Freiheit des Individuums, und damit die Keimzelle des liberalen Rechtsstaates, zunehmend aus.

Vulnerabilitätsdiskurse spielen in dieser Entwicklung, wie die Rechtsphilosophin in den folgenden Absätzen und Kapiteln an verschiedenen Beispielen ausführt, eine entscheidende Rolle. Die Folgen zunehmender staatlicher Risikovorsorge für das Individuum seien jedenfalls, so eine wichtige Feststellung des zweiten Kapitels, der Verlust von Handlungsfreiheit, von Eigenverantwortung sowie das Schrumpfen der Räume privater Konfliktlösung (S. 55). Deutlich kritisiert die Autorin dabei die vielen Gerechtigkeitsdiskursen zugrunde liegende und mindestens einseitige Annahme, dass es „bei der innergesellschaftlicher Gerechtigkeit“ darum gehe, die „Freiheit verschiedener Gesellschaftsmitglieder lediglich anders als bislang zu verteilen“ (S. 57). Ihre provokante These hierzu lautet: „Immer dann, wenn staatliche Maßnahmen ergriffen werden, um Freiheit neu zu vermessen, geht dies nämlich auf Kosten der individuellen Freiheit aller. […] Richterweise muss es heißen, dass die Freiheit aller zugunsten der Freiheitsauslebung einiger und zugunsten des Befugniszwanges des Staates beschnitten wird.“ (Ebd.).

Das dritte Kapitel bildet mehr oder weniger das empirische Fundament des Buches. Hier zeigt die Autorin anhand verschiedener Fallbeispiele und ausgehend von einer rechtstheoretischen Einordnung des Schutzes der Ehre im deutschen Strafrecht, wie Vulnerabilitätsdiskurse die individuelle Freiheit in verschiedenen Lebensbereichen durch eine „Blickverengung auf das alleinige Ziel des Schutzes Vulnerabler“ (S. 104) beeinträchtigen. Sie erörtert dahingehend Fälle von „Catcalling und sexuelle[r] Beleidigung“ oder „Hate Storms“ und bezieht sich in dieser Hinsicht auf die Dynamik von „Silencing-Effekten“ (S. 66), die negativ auf das zentrale demokratische Gut der freien Meinungsäußerung einwirkten. Vor allem auch im Bereich des Sexualstrafrechts sieht Rostalski die Entwicklung, in der eine zunehmende Sensibilisierung im Rahmen von Vulnerabilitätsdiskursen „eine weitere Vorverlagerung“ von nicht im eigentlichen Sinne strafbar-entwürdigenden Handlungen hin zu Handlungen, die „auf die bloße Eignung zur Entwürdigung“ bewirke (S. 78).

Eine ähnliche Vorverlagerung aufgrund von Vulnerabilitätszuschreibungen lässt sich den Beispielen in diesem Kapitel zufolge in rezenten Diskursen über Suizidassistenz, in der Debatte über Schwangerschaftsabbrüche oder über Impfnachweise gegen Covid-19 oder die Masern beobachten. Die Autorin zeichnet auf Basis all dieser Beispiele plausibel eine „Tendenz vulnerabler Gesellschaften“ nach, „bislang gekannte Risiken neu zu bewerten und ihnen ein höheres Maß an staatlicher Risikovorsorge entgegenzusetzen“ (S. 103). Zur Illustration dieser Dynamik zieht sie neben der erwähnten wissenschaftlichen Literatur hauptsächlich Medienberichte und Rechtssachen heran.

Im vierten Kapitel schließlich beschreibt die Autorin ein Phänomen, das sie „Diskursvulnerabilität“ nennt. Diese stellt sozusagen den Fluchtpunkt ihrer Argumentation dar. Unter Diskursvulnerabilität versteht Rostalski „eine besondere Verletzlichkeit in der gegenseitigen Kommunikation, die auf ganz unterschiedlichen Gründen beruhen kann“, wobei die Philosophin aktuell eine „Konjunktur allgemeiner Vulnerabilitätszuschreibungen“ beobachtet (S. 106). Diskursvulnerabilität, so Rostalskis bemerkenswerte These, sei eine „Ursache für eine gegenwärtig von vielen wahrgenommene allgemeine Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses bzw. Verschlechterung des Diskursklimas“ (S. 107). Diese Einordnung mag zunächst erstaunen. Auch Rostalski ist sich der vermeintlichen Paradoxie dieser Behauptung bewusst und versucht sie im betreffenden Kapitel noch weiter auszudifferenzieren.

Rostalskis Begriff von Diskursvulnerabilität meint dabei „besondere Verletzlichkeiten […], die Menschen im Gespräch mit anderen aufgrund des Gesprächs selbst aufweisen. Worte können verletzen, aber nicht bloß, weil sie die Grenze zum strafbaren Ehrangriff überschreiten. Ein verletzender Effekt kann bereits eintreten, wenn über bestimmte Themen gesprochen wird“ (S. 110). Mit dieser Definition trifft Rostalski den Triggerpunkt dessen, was die sogenannte „neue Verletzlichkeit“, aber auch Debatten um die sogenannte „Cancel Culture“ auszeichnen. Es geht darum, dass der gesellschaftliche Kommunikations- und Diskursraum vor dem Hintergrund von Vulnerabilitätszuschreibungen vielfach und ohne Not verengt wird, wobei auch der akademische Debattenraum betroffen sei (vgl. S. 137 ff.). Als Beispiele für öffentliche Debatten nennt die Autorin die im vorigen Kapitel behandelten, oftmals religiös motivierten, „Gehsteigansprachen“, die in der Gegenwart von Schwangeren oder aber den vermeintlichen Angriff auf Trans- oder nichtbinäre Personen, sobald in öffentlichen Debatten „auf biologische Erkenntnisse“ rekurriert würde. In beiden Fällen könne „die betreffende Person in einer solchen Diskussion einen Angriff“ auf ihre sexuelle Selbstbestimmung sehen, „die durch das Berufen“ entweder auf moralische oder religiöse Sachverhalte oder aber „auf biologische Erkenntnisse marginalisiert“ werde (S. 110).

Die Autorin differenziert drei Gründe für Diskursvulnerabilität. Erstens könne diese „in einem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Diskurses stehen.“ Dies sei dann gegeben, „wenn das konkrete Diskursthema in der Lebenswirklichkeit Anlass zu Vulnerabilität bietet“ (111). Zweitens könne sich Diskursvulnerabilität daraus ergeben, „dass eine Person eine besonders starke ethische Position zu dem jeweiligen Debattenthema einnimmt“ (112). Ersteres zeigt sich etwa in Gender- und Identitätskonflikten, zweiteres ließ sich zum Beispiel im politischen Mainstream-Diskurs über Waffenlieferungen im Ukrainekrieg oder über „Impfgegner“ in der Corona-Krise beobachten. An der mit Vulnerabilitätszuschreibungen und -debatten verbundenen Kommunikation sieht Rostalski oftmals ein „hohes Maß an affektiver Polarisierung“ sowie ein „Freund-Feind-Denken“ beteiligt (S. 113 f.).

Nach Rostalski, die sich hierbei unter anderem auf Jürgen Habermas’ Diskursethik bezieht, greife der problematische Vorrang von Persönlichkeits- und Identitätsfragen gegenüber Sachargumenten, der für Vulnerabilitätsdebatten charakteristisch sei, wie erwähnt, bis in den akademischen Diskurs durch. Als Negativbeispiel führt die Autorin dazu das Werk „Gekränkte Freiheit“ von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger (2023) an. Von der Widersprüchkeit dieser Studie über den Sozialtypus des sogenannten „libertären Autoritären“, den Nachtwey und Amlinger in den Corona-Protesten ausfindig gemacht haben wollen, abgesehen, bescheinigt Rostalski dem Werk paradigmatisch dafür zu stehen, dass „zu den eigentlichen Sachfragen schon deshalb nicht vorgedrungen wird, weil den anderen [in diesem Fall den Corona-Kritikern, A.S.] unlautere Motive, ein schlechter Charakter oder Wirklichkeitsverzerrungen pauschal unterstellt werden – oder ihnen sogar eine »Art Autoimmunerkrankung« attestiert wird“ (S. 122).

Mit ihrer Beschreibung von Diskursvulnerabilität setzt sich Rostalski von Argumentationen ab, die eine zunehmende Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses hauptsächlich in der Digitalisierung der Kommunikation und in sozialen Netzwerken verorten und sich nicht selten über diese Echauffieren. Beispielhaft dafür ist die Debatte über „Desinformation“, „Fake News“ oder „Verschwörungstheorien“, die die Gesellschaft bedrohen würden und vor denen Staat und etablierte Medien ihre Bürger mit Präventionsarbeit und Faktencheckern schützen müssten (vgl. Anton/​Schink 2021). Dass die Zunahme gesellschaftlicher Vulnerabilitätszuschreibungen paradoxerweise nicht dazu führe, „dass Diskurse rücksichtsvoller und gerade nicht roher geführt werden“, führt Rostalski darauf zurück, „dass Verletzlichkeiten Abwehrreaktionen hervorrufen“ und „[u]mso höher das eigene Interesse daran gewichtet“ werde „im gesellschaftliche Diskurs nicht verletzt zu werden, desto näher liegt es, selbst besonders abwehrend gegenüber potenziellen Verletzungen zu reagieren“ (S. 107).

Diese im Kern psychologische Erklärung für die zunehmende Verrohung des Diskurses bei gleichzeitiger Zunahme von Sensibilität und Vulnerabilitätszuschreibungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bedürfte einer umfassenderen empirischen Unterfütterung und Analyse. Diese liefert die Autorin freilich nicht. Stattdessen richtet sich Rostalskis Blick eher auf das ‚große Ganze‘, die mutmaßlich ‚schleichende‘ Veränderung des Rechtsstaates und damit auch den von ihr diagnostizierten Verlust der individuellen Freiheit als Grund- und Abwehrrecht gegen diesen Staat.

Dieser Freiheit widmet Rostalski das fünfte und letzte Kapitel, das den Titel „Vulnerabilität und Freiheit“ trägt. Beide, Vulnerabilität und Freiheit, stünden „in einem facettenreichen Spannungsverhältnis“ (S. 154) und die Autorin versucht durch die Klärung dieses Verhältnisses die Klammer zum ersten Kapitel, in dem auch das Verhältnis zwischen Vulnerabilität und Resilienz verhandelt wurde, zu schließen. Sie argumentiert, dass es oftmals gerade nicht „die »Schwachen«“ seien, die Vulnerabilität für sich in Anspruch nähmen: „Diskursvulnerabel zeigen sich gerade auch Menschen, die durch ihre persönliche Auffassung, wenn nicht die Mehrheit, so doch einen besonders großen Teil der Bevölkerung repräsentieren“ (S. 155). Als Beispiel dafür führt sie „die öffentliche Debatte zu deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine im Jahr 2022“ (ebd.) an – man könnte aber auch hier wieder ebenso exemplarisch den Corona-Diskurs nehmen.

Die Autorin plädiert in diesem Schlusskapitel dafür – und hier bewegt sie sich wieder im gleichen Denkhorizont wie die im Buch mehrfach zitierte Philosophin Flaßpöhler (vgl. Flaßpöhler 2024) – die Bedeutung der Streitkultur für die Demokratie wieder zu betonen. Rostalski verweist kommunikationstheoretisch darauf, dass „[j]e unverstellter der Diskurs geführt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sein Ergebnis am Ende gut ist – es sich also um ein Ergebnis handelt, das bestmöglich all die gesellschaftlich vertretenen Interessen in Einklang bringt.“ Im Umkehrschluss bergen „[s]chlechte Diskursergebnisse […] hohe Risiken, dass individuelle Freiheit stärker eingeschränkt wird, als notwendig und sachgerecht ist. Diskursvulnerabilität ist daher ein Problem für freiheitliche Gesellschaften, das als solches ernstgenommen werden sollte“ (S. 157).

Diskussion

Mit der Wiederwahl von Donald Trump und dem Wiedererstarken konservativer und rechter Bewegungen auf dem gesamten europäischen Kontinent und auch global könnte hinterfragt werden, wie aktuell und relevant Rostalskis Ausführungen über Vulnerabilität heute sind. Hat sich die Sorge vor einer zunehmenden, die individuelle Freiheit einschränkenden, Verletzlichkeit mit Trump und dem folgenden „Backclash“ hinsichtlich von Diversity- oder Inklusionsprogrammen zunächst in den USA, möglicherweise aber bald auch in Europa, erledigt? Und müsste nicht jetzt (wieder) die Kritik dieses vermeintlichen Backclash und der sich abzeichnenden Verrohung des Diskurses folgen?

Würde man Rostalskis Werk nur aus einer bestimmten politischen Perspektive lesen, in der beispielsweise „Wokeness“ gleichgesetzt wird mit Vulnerabilitätszuschreibungen um diese wiederum rechten Diskursen entgegenzusetzen, so könnte man „die vulnerable Gesellschaft“ im doppelten Sinne ad acta legen. Man würde es sich aber mit dieser Dichotomie zu einfach machen. Auch wenn Rostalski dies so nicht ausbuchstabiert hat, so geht doch vor allem aus den Ausführungen im ersten und letzten Kapitel hervor, dass die Autorin weder zunehmende Sensibilisierung und Verletzlichkeit als solche abwertet – im Gegenteil, sie sieht diese gleichfalls als Teil eines Prozesses von Zivilisierung und Befreiung –, noch diese politischen Positionen feststehend zuordnet. Vielmehr anerkennt die Analyse das bereits erwähnte „Wechselverhältnis“, man könnte auch sagen, die Dialektik zwischen Vulnerabilität und Resilienz. Das bedeutet erst einmal ganz abstrakt, dass ein zunehmendes Maß an Vulnerabilität ab einem gewissen Punkt wiederum Resilienz benötigt, um sich zu erhalten.

Daraus folgt schließlich für die politische und gesellschaftliche Realität, und lässt sich bei genauerer Hinsicht ebenfalls empirisch erkennen, dass auch traditionell rechte und konservative Diskurse nicht nur auf Resilienz, sondern zugleich auf Vulnerabilität immer wieder rekurrieren. So ist mit dem gegenwärtig starken Ruf nach Aufrüstung und Wehrfähigkeit gleichzeitig die Erzählung einer ‚schwachen‘, nicht wehrfähigen Gesellschaft verbunden. Der Resilienzdiskurs verweist auf den Vulnerabilitätsdiskurs und umgekehrt. Sogar rechte Diskurse über Einwanderung oder „Remigration“ lassen sich zwischen Resilienz- und Vulnerabilitätszuschreibungen verorten, die ihre Legitimation über die wertbehaftete Zu- oder Absprechung von Stärke und Schwäche gewinnen. Zurecht konstatiert in diesem Sinne Rostalski unter der Zwischenüberschrift „Die Ausweitung der Risikozone“: „In der Tat liegt es nahe, dass Menschen, die sich wesentlich durch ihre Eigenschaft der Verletzlichkeit definieren, dazu neigen, ihre Umwelt als besonders risikoreich wahrzunehmen“ (S. 30).

Jeder Mensch sollte in dieser Hinsicht selbst hinterfragen, wo eigene Zuschreibungen von Vulnerabilität bzw. Resilienz das Selbstbild auf entsprechende Weise prägen und dieses einer Realitätsprüfung unterziehen. Das Problem, so auch Rostalskis Ansatz, sind nicht Vulnerabilitäts- bzw. Resilienzzuschreibungen per se, sondern ist ihre Übertragung und Ausweitung in Bereiche, die weder der Freiheit der im eigentlichen Sinne Betroffenen tatsächlich nutzen, aber dafür große Einschnitte im Bereich des öffentlichen Lebens und der individuellen Freiheit im Allgemeinen bedeuten und insofern den demokratischen Prozess als solchen bedrohen. Beispiele hierfür liefert Rostalski viele, wobei der Bereich der Psychopathologie, aus dem die Begriffe Vulnerabilität und Resilienz ihre ursprüngliche Bedeutung erfuhren, leider auffällig unterbelichtet bleibt (vgl. S. 24: „Verletzlichkeit wirkt sich negativ auf die Autonomie des Menschen und dessen Möglichkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe aus.“). Gerade im Bereich von psychischen Erkrankungen gäbe es wesentliches nicht nur über das Verhältnis dieses zentralen Begriffspaars, sondern auch über die Beziehung von Vulnerabilität und Resilienz zu Freiheit und Autonomie zu sagen und an Erkenntnissen für aktuelle Debatten zu gewinnen. So könnten etwa moderne Diskurse über „Neurodiversität“ oder „Trauma“ vor dem theoretischen Hintergrund, den Rostalski bereitstellt, bereichert werden.

Fazit

„Die vulnerable Gesellschaft“ von Frauke Rostalski ist ein kurzweiliges, an manchen Stellen etwas theoretisch-trocken zu lesendes, aber durchaus relevantes Werk. Nicht nur vor dem Hintergrund einer wie auch immer gearteten möglichen Aufarbeitung der Corona-Krise, in Debatten über das Klima oder Konflikte zwischen Gender und Geschlecht, sondern gerade auch im Hinblick auf die sich derzeit abzeichnende Mobilmachung für Wehrfähigkeit und Krieg in Deutschland und Europa, sind Rostalskis Ausführungen zur neuen Verletzlichkeit lesens- und bedenkenswert und liefern wichtige Perspektiven auf einer sachlichen Basis.

Literatur

Amlinger, O. Nachtwey (2023): Gekränkte Freiheit. Aspekte des Libertären Autoritarismus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Anton, A. Schink (2021): Der Kampf um die Wahrheit. Verschwörungstheorien zwischen Fake, Fiktion und Fakten. München: Komplett Media.

Flaßpöhler (2021): Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren. Stuttgart: Klett-Cotta.

Flaßpöhler (2024): Streiten. Berlin: Hanser.

Han (2020): Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Berlin: Matthes & Seitz.

Levinas (2011): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg: Karl Alber.

Reckwitz (2020): Risikopolitik. In: M. Volkmer u. K. Werner (Hg.): Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: Transcript, S. 241-251.

Rezension von
Alan Schink
Soziologe, Kulturwissenschaftler und freiberuflicher Achtsamkeitstrainer. Er arbeitet aktuell in am Projekt „EI-IWS“, das sich mit der Auswirkung des gesellschaftlichen Stigmas psychischer Erkrankung auf Betroffene beschäftigt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm sowie im „Recovery College“ Stuttgart, einer Einrichtung, die Bildungs- und Selbsthilfeangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Krisenerfahrungen organisiert.
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ISSN 2190-9245