Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 27.06.2006
Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie. UTB (Stuttgart) 2005. 384 Seiten. ISBN 978-3-8252-2719-7. 19,90 EUR.
Verwirrende Leseerfahrungen
Wie soll man die Rezension eines Buches beginnen, welches einen als Leser zunehmend in Verwirrung stürzt? Vielleicht mit dem Titel? Denn mit fortschreitender Lektüre gelangt man immer mehr zu der Auffassung, dass der Titel eigentlich "Die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie" lauten müsste. Oder vielleicht sogar "Eine sozialkonstruktivistische Lesart der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie". Denn es ist die "sozialkonstruktivistische" Lesart der Wissenssoziologie, wie wir sie von Peter Berger und Thomas Luckmann aus ihrem großartigen "Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit" kennen, um die es hier geht. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass das entsprechende Kapitel "Die phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie"(141-165) mit großem Gewinn und Vergnügen zu lesen ist.
Oder soll man den fast enzyklopädischen Charakter kritisch befragen? Befragen, ob eine solche breite Darstellung bis hin zu den "ausgefransten Rändern" (300) und auch darüber hinaus an wirklich allen Stellen sinnvoll ist? Ob nicht weniger manchmal mehr wäre? Und ob es wirklich sinnvoll ist, "an einigen Stellen deutlich über die Grenzen der Soziologie"(303) zu treten?
Denn bei diesem über die Grenze treten verwischen sich die klaren Konturen - oder sollte dies Absicht sein? Diese Verwischung trägt aber nicht immer zur Klarheit bei: So kann man über den Satz "Entscheidend für die Eigenart der französischen Entwicklung der Wissenssoziologie ist der Strukturalismus"(203) sicherlich lange und intensiv nachdenken; aber trifft diese Bemerkung nicht mindestens genau so auf den "Neostrukturalismus" zu? Und was ist der Subtext dieses Satz; ganz zu schweigen vom Inhalt überhaupt?
Dann wiederum ist diese enzyklopädische Breite auch ein Gewinn: Themen und Denker werden angerissen; Neugier wird geweckt und mit einem "das muss ich jetzt doch mal nachlesen" geht der Weg zum Buchregal und angestaubte "blaue Bände" werden in der Lektüre zum Leben erweckt.
Doch im nächsten Schritt eben dieser Lektüre verwandelt sich die enzyklopädische Breite in einen eher rhizomatischen Zustand: Soziologische Denker werden in einer Art und Weise an oder unter die hier skizzierte Wissenssoziologie zugeordnet, die beim Leser den Eindruck einer ungeordneten, einer rhizomatischen Fülle hinterlässt. "Interessant, aber wo ist der rote Faden?" - denken dann an dieser Stelle Leser und Leserin. Und so bleibt - bedingt durch die Fülle und Breite - der Eindruck einer "großen Erzählung" zurück; einer Erzählung zu einer Wissenssoziologie, bei deren Lektüre leicht der Eindruck entsteht, dass hier eine neue, große Meta- oder Megatheorie skizziert werden soll. "Erlauben die wissenssoziologischen Ansätze einen geradezu universalen Bezug auf alles Wissen"(232) ist dann die folgerichtige Formulierung eines solchen Anspruchs.
Aufbau und Inhalte im Überblick
Dabei ist die Lektüre eine spannende Rundreise durch europäisches Denken.
- Im 1. Kapitel zur "Ausbildung der Wissenssoziologie" stehen im Fokus die ideengeschichtlichen Entwicklungen der Aufklärung und ihre Wende in der deutschen Romantik und die Entstehung der deutschen und amerikanischen Wissenssoziologie. Fundiert werden hier die Wurzeln skizziert und problematisiert.
- Im Kapitel 2 "Gegenwärtige Ansätze der Wissenssoziologie" erfolgt eine Dreiteilung: Das Kapitel über die "phänomenologisch orientierte Wissenssoziologie" ist dabei der eigentliche Kern des gesamten Buchs. Mit einer seltenen Luzidität und Präzision werden an dieser Stelle die phänomenologischen Quellen dieser "fortwährenden Auseinandersetzung mit Marx" skizziert; Quellen die dann in ihrer Fortführung bei Berger/Luckmann mit der notwendigen Dichte beschrieben werden. Und es ist dieses Kapitel, welches das eigentliche Lesevergnügen ausmacht. Nicht die rhizomatische Weite führt bei Knoblauch zu tiefen Einsichten und begrifflicher Klarheit, sondern vielmehr solche analytischen Meisterstücke - die verstehen und erklären. Rhizomatisch sind dann die beiden weiteren Drittel zur "kommunikativen Wende", zum "Strukturalismus" und zu den "Cultural Studies". "Strukturalismus", Foucault, Bourdieu und "Cultual Studies" auf 33 Seiten!
- Das 3. und letzte Kapitel hat die "Gegenwärtigen Themen der Wissenssoziologie und der Wissensforschung" zum Thema. Und wer sich einen schnellen und guten Überblick über den aktuellen Stand des Diskurses verschaffen will, ist hier gut bedient. Die notwendige Breite von Kuhn bis zu Knorr-Cetina ist gegeben; neuere Ergebnisse aus der Internetgesellschaft werden skizziert, von Castells "Netzwerkgesellschaft" bis hin zur "Wissensproduktion" und "Wissensmanagement" reicht der Bogen. Knoblauch selbst macht in diesem Kapitel auch den Versuch, seine Arbeit zu verorten. Und selbstkritisch gibt er zu, dass "der systematische Vergleich und die Integration der theoretischen wissenssoziologischen Ansätze, die hier nur knapp vorgestellt werden konnten, noch aussteht"(341). Denn erst auf einer solchen Grundlage könnten dann die "Unklarheiten und Überschneidungen der BegrifflichkeitenÉder Wissenssoziologie"(341) ausgeräumt werden.
Diese Leistung kann oder will er mit dem vorliegenden Buch nicht erbringen. Und daher bleiben eine leichte Unzufriedenheit, ein schaler Geschmack zurück. Vieles wird angerissen, nur einige wenige zentrale Fragen werden vertieft, eine "Tour d"horizon" modernen soziologischen und kulturwissenschaftlichen Denkens im "sozialkonstruktivistischen" Duktus wird hier vorgelegt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Aber dem Gegenstand angemessen?
Und so ist der Schlusssatz sicherlich paradigmatisch im doppelten Sinne: "Es gibt also durchaus eine "Objektivität" in der sozial konstruierten Wirklichkeit - nämlich diejenige, die die Menschen geschaffen haben und an die sie glauben. Sie ist der Gegenstand der Wissenssoziologie"(353).
Fazit
Wer soll es lesen? Am Thema Interessierte erhalten einen breiten Überblick. Ein Über-blick, der durch den ausgezeichneten Literaturapparat vertieft werden kann. Und dies ist für mich das eigentliche Angebot des Buches: Themen werden in ihrer Entstehung, ihrer je eigenen Struktur und in ihrem diskursiven Feld angerissen und verortet. Und bieten so einen Einstieg in die Tiefe und die Verzweigungen des soziologischen Denkens. Als Überblick, als Landkarte, als Anregung, als Hinführung gelesen - so gewinnt Hubert Knoblauchs "Wissenssoziologie" ihren Wert.
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation
Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.
Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 27.06.2006 zu:
Hubert Knoblauch: Wissenssoziologie. UTB
(Stuttgart) 2005.
ISBN 978-3-8252-2719-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3258.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.