Franz Wienand: Projektive Diagnostik bei Kindern, Jugendlichen und Familien
Rezensiert von Sebastian Kron, 29.10.2024

Franz Wienand: Projektive Diagnostik bei Kindern, Jugendlichen und Familien. Grundlagen und Praxis - ein Handbuch. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 3., erweiterte und aktualisierte Auflage. 419 Seiten. ISBN 978-3-17-044066-1. 79,00 EUR.
Thema
In der Psychotherapie sind psychologische Testverfahren kaum wegzudenken. Unterschieden nach objektiven und projektiven Testverfahren „schmücken“ sie seit vielen Jahren die psychotherapeutische Interventionslandschaft und helfende Berufe gleichermaßen. Sie wirken unterstützend bei der Diagnostik kritischen Erlebens und Verhaltens.
Das vorliegende Werk stützt sich auf projektive Testverfahren, deren Ursprung in der tiefenpsychologisch-psychoanalytisch orientierten Denkschule begründet liegen. Sie geben Auskunft über unbewusste Vorstellungen, Erfahrungen, Wünsche und ermöglichen zum Teil spielerisch einen Einblick in das unbewusste Erleben und in das tiefe Seelenleben der Betroffenen.
Autor
Dr. med. Dipl.-Psych. Franz Wienand ist Psychoanalytiker und niedergelassen in eigener, fachärztlicher Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Böblingen. Neben ihm waren vier Mitwirkende an der Erstellung des Fachbuches beteiligt.
Entstehungshintergrund
Durch den Aufschwung der kognitiven Verhaltenstherapie scheinen objektive (Leistungs- und Intelligenz-) Tests weit verbreitet zu sein. Projektive Testverfahren sind allerdings auch (insbesondere in tiefenpsychologisch-fundierten) Praxen weit verbreitet. Auch die Soziale Arbeit nutzt Teile des Repertoires spielerischer und künstlerischer Auseinandersetzungen, um mit Kindern in den Austausch zu gehen und um Hemmnisse in Familiendynamiken im Laufe der Beratung „aufzuweichen“.
Aufbau
Das Fachbuch stellt sich als Handbuch dar und liefert fundamentale Wissensbestände projektiver Testverfahren. Die dritte Auflage des Werkes stellt eine ergänzende Herleitung dar und nimmt weitreichenden Bezug zur Theorie und Praxis. Zu Beginn liefert das Werk einen theoretischen Überblick über projektive Testverfahren. Anschließend geht es auf zeichnerische Gestaltungsverfahren, verbal-thematische Verfahren, spielerische Gestaltungsverfahren, Formdeuteverfahren, Bindungsdiagnostik, Familiendiagnostik und projektive Verfahren in der Begutachtungsdiagnostik ein.
Inhalt
Grundfunktionen projektiver Diagnostik sind Kreativität, Imagination und Symbolisierung. Sie lassen das unbewusste Erleben „sprechen“. Das vorliegende Werk sieht auch einen Fokus in der Beschreibung testpsychologischer Grundlagen und der Bedeutung projektiver Diagnostik in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und in der Arbeit mit Familien, thematisiert aber zeitgleich auch Hürden. Die kritisch-reflektierende Betrachtung wird ebenfalls geschärft.
Im ersten Teil „Zeichnerische Gestaltungsverfahren“ werden verschiedenen Formen von Zeichnungen thematisiert. Im Zentrum stehen Baum-, Mensch- und Familienzeichnungen. Je nach Form, Ausgestaltung und Tiefgründigkeit der Zeichnungen können Persönlichkeitseigenschaften erkannt werden. Familienzeichnungen zeigen Beziehungen, Beziehungsdynamiken und unbewusste Wünsche in der Familiendynamik auf. Durch das Gespräch mit dem Klientel werden Zeichnungen in ihren Aussagen deutlicher und ermöglichen einen relativ konkreten Deutungsspielraum. Unterschiedliche Testarten bilden breite Möglichkeiten der Testdiagnostik ab. Jeder Test wird kritisch diskutiert, wobei Testgütekriterien dabei eine besondere Rolle einnehmen. Einer der bekanntesten projektiven Zeichentests ist der Wartegg-Zeichentest, bei dem in acht Feldern begonnene Formen und Figuren vervollständigt werden sollen. Je nach Ausgestaltung lassen sich Rückschlüsse über Persönlichkeitseigenschaften ziehen. Dies lässt sich gut über Archetypen nachvollziehen.
In einem weiteren Kapitel werden verbal-thematische Verfahren diskutiert. Zu ihnen gehören unter anderem der thematische Apperzeptionstest (TAT-Test) oder Geschichten-Erzähl-Testverfahren. Fabel- und märchenbezogene Tests runden dieses Kapitel ab. Als Grundlage dienen zumeist Zeichnungen, Bilder oder eben auch Geschichten oder Märchen, die bei Klient*innen bestimmte Assoziationen hervorrufen. Diese Assoziationen bilden den Grundriss für eigene Interpretationen und Beurteilungen, die dann über unbewusste Erfahrungen Auskunft geben sollen. Beim TAT-Test beispielsweise werden dem*der Klient*in Bilder oder Fotos vorgelegt, zu denen er*sie den „Auftrag“ erhält eine Geschichte, eine Dichtung, ein Märchen zu verfassen. Je nach Tiefgründigkeit, Sinnigkeit und der eigenen Interpretation des dabei entstehenden Werkes lassen sich Rückschlüsse über die Person, ihre Familien- und Beziehungs-, ihre unmittelbaren, inneren Erfahrungen und ihre individuelle Lebensgeschichte interpretativ deuten. Auch Satzergänzungstests gehören in die Kategorie der verbal-thematischen Verfahren und lassen Deutungen zu, die unter Umständen Interpretationen der Biografien der Klient*innen thematisieren.
Das Kapitel 4 beschreibt spielerische Gestaltungsverfahren. Solche Verfahren geben oft Auskunft über Beziehungsdynamiken, innere, persönliche Haltungen und dem Zusammenleben im systemischen Kontext. Das Kapitel betrachtet Spielen und die spielerische Auseinandersetzung mit verschiedenen biografischen Hürden aus unterschiedlichen, psychologisch-paradigmatischen Sichtweisen, da sich bereits auch die Verhaltens- oder die systemische Therapie mit Spielen als methodische Auseinandersetzung mit kritischen Lebenserfahrungen auseinandersetzt. Der klassische Scenotest von Staats ist ein projektiver Test, bei dem form-, biegbare Puppenfiguren zum Einsatz kommen. Je nach Gestaltung und Anordnung dieser lässt er zum einen Rückschlüsse über das eigene Erleben und Verhalten im gruppendynamischen Kontext zu, thematisiert gleichzeitig Affekte und Emotionen. Der Sceno-2 wurde dann durch einige andere Parameter und Figuren ergänzt.
Zu den Formdeuteverfahren gehört der Rorschach-Test, der um 1921 entwickelt wurde. Der Rorschach-Test ist ein projektives Testverfahren, bei dem Tintenkleckse verschiedene Formen und Figuren darstellen, die dann durch die betrachtende Person gedeutet werden sollen. Durch die projektive Deutung der vorliegenden Figuren kommt es zu einer Darstellung von Phantasien, die laut dem*der Betrachter*in im Bild zu sehen sind. Der Rorschach-Test ist damit das mittlerweile älteste, projektive Verfahren, welches augenscheinlich zu Zeiten Freuds von Hermann Rorschach entwickelt wurde. Aus dem Rorschach-Test entstanden durch Weiterentwicklung neuere Verfahren der Formdeutung, die noch tiefgründiger in das Denken und Fühlen der betrachtenden Personen vordringen können.
In der Bindungsdiagnostik wird durch unterschiedliche Verfahren der Einblick in bindungsspezifische Parameter ermöglicht. Bindungsdiagnostiken geben Einblicke über die Qualität der Bindung in der Familiendynamik. Damit kann die Bindungsdiagnostik Aufschluss über Bindungstypen und unbewusste Gefühlswelten in Bindungsdynamiken geben.
Imaginative Methoden ermöglichen über das „Eintauchen“ in eine Phantasiewelt Aufschlüsse über das eigene Ich. Vorstellungen eine Märchenfigur zu sein, geben Auskünfte über die eigene Wahrnehmung und die jeweiligen unbewussten Wünsche, sich selbst „anders“ erleben zu wollen, oder andere Persönlichkeitseigenschaften zu besitzen.
Im Kapitel Familiendiagnostik werden unterschiedliche Verfahren thematisiert, die Aufschlüsse über die Qualität der Beziehungsgestaltung innerhalb der Familie geben sollen. Ferner geht es auch darum, Aufschlüsse über Beziehungskonstellationen und das Zusammenleben zu erfahren.
Abschließend werden projektive Verfahren als Begutachtungselement und in der Begutachtungspraxis diskutiert.
Diskussion
Projektive Testverfahren stehen oftmals in der Diskussion, keine konkreten Ergebnisse zu generieren. Sie sind aber Zweifels ohne geeignet, unbewusste Erfahrungen widerzuspiegeln oder den Beratungskontext „aufzuweichen“. Sicher sind sie noch aussagekräftiger, wenn sie im Kontext eines Gesprächs Anwendung finden.
Kritisch können ebenso objektive Testverfahren betrachtet werden. Kinder, die sich in der Entwicklung befinden, vielleicht noch unter kognitiven Einschränkungen durch depressive Verstimmungen leiden, sollten nicht mit Leistungs- und Intelligenztests konfrontiert werden, da Testergebnisse durch etwaige Einschränkungen verfälscht werden können. Oftmals führt dies dazu, dass auf Grundlage eines Testergebnisses eine Prognose vorgenommen wird, die weitreichende Konsequenzen für das weitere Leben haben. Viele Kinder sehen sich bereits zunehmend in der Schule mit einer Leistungsbeurteilung konfrontiert, die oftmals nicht ihre eigentlichen Fähigkeiten abbilden. Ergebnis ist die Reduzierung eines in spezifischen Feldern begabten Kindes auf eine „Zahl“, die den weiteren Lebensweg maßgeblich mitbestimmen kann.
Fazit
Das vorliegende Werk bildet mit knapp 400 Seiten ein gut konzentriert formuliertes Grundlagenwissen über projektive Testverfahren. Sicher bildet das Buch nur eingeschränkt eine Grundlage, um testdiagnostisch „fit“ gemacht zu werden. Es bildet aber für helfende Berufsgruppen Möglichkeiten sich mit etwaigen Tests auseinanderzusetzen und das Wissen über die projektive Diagnostik bei Kindern, Jugendlichen und Familien grundlegend zu schärfen.
Rezension von
Sebastian Kron
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