Wolf Rainer Wendt: Ökologie der Teilhabe
Rezensiert von Prof. Dr. Peter Löcherbach, 04.11.2024
Wolf Rainer Wendt: Ökologie der Teilhabe. Am Wandel kompetent und mündig mitwirken.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2024.
180 Seiten.
ISBN 978-3-7560-1850-5.
D: 54,00 EUR,
A: 55,60 EUR.
Reihe: Ökologie - Kultur - Gesellschaft - Band 1.
Thema
Klimawandel und andere Widrigkeiten (ökonomischer und gesellschaftlicher Art) stellen die Menschen und gesellschaftlichen Systeme vor große Herausforderungen. Welche Ansätze sind geeignet, Zugänge und Erklärungen zu schaffen und möglicherweise auch Lösungen für notwendige Wandlungsprozesse aufzuzeigen?
Autor:in oder Herausgeber:in
Prof. Dr. Wolf Rainer Wendt, Dipl.-Psychologe, studierter Philosoph, em. Professor und Studienleiter an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Stuttgart und der Universität Tübingen. Er entwickelte das ökosoziale Handlungsmodell und hat diesen Ansatz in eine Sozialwirtschaftlichslehre integriert. Er gilt als der wichtigste Vertreter der Theorie des Case Managements im deutschsprachigen Raum und einer der profiliertesten Vertreter der Sozialwirtschaft. Seine Veröffentlichungen sind national und international weit verbreitet und anerkannt. Was weniger bekannt ist, ist dass Wendt eine Reihe philosophischer Texte veröffentlicht hat.
Entstehungshintergrund
Bereits 1982 veröffentlichte Wendt seine „Ökologie und Soziale Arbeit“ (1982), die eine Fortführung in den Werken „Das ökosoziale Prinzip. Soziale Arbeit, ökologisch verstanden“ (2010) und „Wirtlich handeln in der Sozialen Arbeit“ (2018) fand. Wendt entfaltet darin seinen ökosozialen Handlungsansatz und dessen Weiterentwicklung. Mit dem nun vorliegenden Buch verknüpft er konsequent das ökosoziale Paradigma (Verschränkung des Sozialen und des Wirtschaftens) mit einem generellen Ansatz der Lebensgestaltung.
Aufbau
Das Buch hat insgesamt 5 Kapitel. Nach einer Einleitung (Kapitel 1) folgen 4 Kapitel mit grundlegenden Annahmen (2), Ausführungen zu Zuständigkeit und Befähigung (3), Kundigkeit und Mündigkeit (4) und zum Habitus ökologischer Teilhabe (5).
Das sehr umfangreiche Literaturverzeichnis (über 350 Quellen!) umfasst zentrale internationale und deutschsprachige Veröffentlichungen nicht nur der aktuellen Literatur, sondern auch relevante Werke der letzten Jahre/Jahrzehnte. Ein ebenfalls umfangreiches Stichwortverzeichnis schließt das Buch ab.
Inhalt
Das Buch befasst sich mit der Integration des bisherigen ökosozialen Ansatzes in ein umfassendes (über die Soziale Arbeit hinausgehendes) Verständnis und diskutiert die durch die ökologische Krise ausgelösten notwendig gewordenen Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft. Eine neue Verortung der individuumszentrierten Sichtweise wird vorgeschlagen: Es geht von der Selbstsorge zur „Wirtlichkeit“.
Einleitung
Im Einleitungskapitel (mit zwei Unterkapiteln) erfolgt die Erläuterung zentraler Begriffe [1] und die Rahmung des Buches: Es geht um notwendige Wandlungsprozesse, die die „ökozentrische Positionierung“ des Menschen in seinen vielfältigen Kontexten aufzeigen.
Grundlegende Annahmen
Kapitel 2 ist in 7 Unterkapitel unterteilt und beginnt mit den theoretischen Grundlagen, die in verschiedenen Disziplinen der humanen, sozialen und speziellen Ökologien vorliegen. Die bekannten Kategorien Haushalt, Nische, Feld und Netzwerk werden im Hinblick auf die Themen Nachhaltigkeit, Partizipation und Teilhabe z.T. neu gefasst und erläutert.
Ökologische Zuständigkeit und Befähigung
Wenn ökologische Teilhabe über passives Teilhaben hinausgehen soll, wird eine Kompetenz benötigt, die zu einem angemessenen Handeln führen kann bzw. soll. Öffentliche Aufklärung und persönliche Einsichten bahnen den Weg für eine Beteiligung. Echte, aktive Mitwirkung verlangt (in Demokratien) einen Bewältigungsprozess, in dem die Menschen „mitgenommen“ werden und auf den verschiedenen Aktionsebenen an Entscheidungen zu beteiligen sind.
Ökologisch kundig und mündig werden
Die Erörterungen in diesem Kapitel zeigen in 6 Unterkapiteln, dass die angestrebte ökologische Mündigkeit und Teilhabe schrittweise zu erreichen ist und mit sozialer, wirtschaftlicher und politischer Mündigkeit einhergeht. Dabei werden die verschiedenen „Sphären“ kommunaler, regionaler, nationaler und internationaler Angelegenheiten und Handlungsbereiche unterschieden.
Zum Habitus ökologischer Teilhabe
Ökologie, so Wendt, betrifft den Handlungsrahmen kollektiver und individueller Akteure. Er spricht von Möglichkeitsräumen zur Daseinsentfaltung, die sich in der natürlichen Umwelt und sozialen Mitwelt bieten. Das Ziel ist die Realisierung wirtlicher Verhältnisse (gemeint sind förderliche Lebensbedingungen), die den Menschen eine umfassende ökologische Teilhabe erlaubt.
Diskussion
Das Buch kann durchaus als philosophisches Werk gelten, da sich Wendt systematisch und tiefgründig mit grundsätzlichen Fragen menschlichen Lebens, der Wirklichkeit und der Ethik beschäftigt. Da hat auch der ökosoziale Ansatz seinen Hintergrund: Es wird nicht von der Umwelt her gedacht, sondern „von Haus aus“. Der Ansatz rückt humanes Handeln in den (mehr oder weniger ausgedehnten) Raum des Zusammenlebens (wie einst im altgriechischen Oikos), in dem das Wirtschaften „sozial“ und das Soziale „wirt-schaftlich“ zu denken ist: nämlich den (lebens-)fördernden Unterhalt des Zusammenseins betreffend. Dafür hat der humane Akteur als „Wirt“ oder „Wirtin“ zu sorgen – und das kann er auch spezifisch in professioneller Weise tun (z.B. in der Sozialen Arbeit).
In dem vorliegenden Werk ist die aktuelle Umweltkrise nur Anlass, grundlegend den prozessualen Zusammenhängen nachzugehen, „…welche in den Sphären des Lebens, des menschlichen und allen anderen Lebens lokal und global“ bestehen. Wendt kritisiert die wissenschaftlich gepflegte Vorstellung, dass Mensch und Umwelt sich gegenüberstehen (binäre Konstruktion). Statt von einem Außenverhältnis im Gegenüber von Mensch und Umwelt wird von einem Binnenverhältnis ausgegangen: „Wir sind“, so Wendt, „im Nehmen und Geben gleichermaßen – angehörig und teilhabend“ (S. 13.). Und dieses Verständnis zieht sich als roter Faden durch die Erörterungen. Dem „ganzheitlichen“ Blick auf die Dinge folgen hochdifferenzierte Ausführungen zu den Wegen der Gestaltung und (Mit)verantwortung. Aktuelle, historische, lokale, regionale Bezüge und Beispiele aus dem In- und Ausland illustrieren das Panorama der Möglichkeitsräumer „wirtlicher Verhältnisse“ – kritische Entwicklungen werden ebenso aufgezeigt wie mutmachende Beispiele. Hier zeigt sich die internationale, ja weltweite „Verwobenheit“ des Autors, die eine umfassende Bearbeitung der Thematik erlaubt: (fern-)östliche Erkenntnisse werden westlichen Sichtweisen gegenübergestellt, indigenes Wissen mit aktuellen Beständen verknüpft, das Nord-Süd-Gefälle im ökologischen Kontext aufgegriffen. Geradezu verblüffend sind die ausgewählten und gezielt eingestreuten Beispiele, die dafür sorgen, dass die Thematik sich nicht gänzlich im Elfenbeinturm verliert (es sei an die 350 Quellen im Literaturverzeichnis erinnert).
Der Anspruch des Buches ist hoch: Die Texte werden elaboriert vorgetragen, das Gesagte ist mitunter erst nach mehrmaligem Studieren verständlich. Die Quintessenz ist herausfordernd: Wendt geht es bei dem Wandel letztendlich darum, das persönliche Selbstverständnis mit der eigenen und gemeinsamen Lebensführung zu verbinden, sozusagen vom Selfhood (Selbstkonzept mit der Maxime Unabhängigkeit und Selbstentfaltung) zum Hosthood (erweitertes Selbstkonzept: Mensch als aktiv Ermöglicher, der für die Aufrechterhaltung und nachhaltige Entwicklung der Lebensbedingungen sorgt) zu werden, um den ökologischen Wandel anzugehen. Auf den Punkt gebracht: Die Erweiterung des Selbstseins in eine Wirtlichkeit (was im eigenen Lebenskreis in der Vernetzung mit anderen zu tun und zu machen ist) stellt gleichzeitig eine Überwindung egozentrierter bzw. ausbeuterischer Denk- und Handlungsweisen dar. Passive Teilhabe in ökologischen Zusammenhängen ist verständlich (und gehört zu den Grundlagen menschlichen Lebens), doch erst durch eine aktive Teilhabe können die Herausforderungen der Zukunft gemeistert werden. Und das will gelernt sein. Trotzdem ist aktive Teilhabe kein überwiegend individuelles oder pädagogisches Vorhaben. Wendts Thema sind Zusammenhänge, in denen gelebt und gehandelt wird. Im ökologischen Horizont sind die (mikro-meso-makro) persönlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhänge. Sie sind „in Teilhabe“ bzw. „in hosthood„ zu meistern. Verhalten und Verhältnisse haben miteinander zu tun: Eine mündige Einbindung der Bürger in die (demokratische) Gestaltung wirtlich nachhaltiger Verhältnisse verweist auf die politische Dimension des Ansatzes und damit auch auf die gewählten „Wirte“ (hosts), die in Governance (nicht Government) aufgefordert sind „auskömmliche“ oder „gedeihliche“ Möglichkeitsräume zu schaffen.
Fazit
Das neue Buch von Wendt stellt einerseits eine konsequente Fortführung seiner bisherigen Theorien und andrerseits eine wesentliche Erweiterung dar. Denn er geht weit über die Soziale Arbeit und Sozialwirtschaft hinaus, da er sehr grundsätzlich die Bedingungen für eine „gute Lebensführung“ in einem umfassenden ökologischen Verständnis beschreibt – sozusagen ein interdisziplinäres Mehr-Ebenen-Konzept. Ein Buch für Lehrende, Fachkräfte und Studierende, die sich nicht scheuen, die Konfiguration „Mensch und Umwelt“ (noch einmal) genauer zu studieren und die überraschenden Einsichten gegenüber offen geblieben sind.
[1] an das spezifisch Wendt'sche Vokabular und seine präzise Sprache dürften sich nach über 40 Jahren Veröffentlichungen die meisten Leser:innen gewöhnt haben
Rezension von
Prof. Dr. Peter Löcherbach
Prof. Dr. Peter Löcherbach, Professur für Wissenschaft der Sozialen Arbeit an der Kath. Hochschule Mainz, Mitherausgeber der Zeitschrift „Case Management“
Website
Mailformular
Es gibt 3 Rezensionen von Peter Löcherbach.
Zitiervorschlag
Peter Löcherbach. Rezension vom 04.11.2024 zu:
Wolf Rainer Wendt: Ökologie der Teilhabe. Am Wandel kompetent und mündig mitwirken. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2024.
ISBN 978-3-7560-1850-5.
Reihe: Ökologie - Kultur - Gesellschaft - Band 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32603.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.