Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen
Rezensiert von Moritz Tebbe, 29.11.2024
Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2024.
390 Seiten.
ISBN 978-3-518-58814-7.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 45,90 sFr.
Reihe: Frankfurter Adorno-Vorlesungen - 2021.
Thema
Will man das Thema des Buches als Ganzes erfassen, so rekonstruiert Dagmar Herzog über 255 Seiten die Anerkennung der „Euthanasie-Morde“ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit: einen faschistisch motivierten Genozid. Diese Rekonstruktion zeichnet sich insbesondere durch die Verstrickungen, aber auch den Widerständen, dreier Institutionen in dem Genozid aus: der „konfessionellen Wohlfahrt, Heilpädagogik und Psychiatrie“ (S. 13). Der Nationalsozialismus verkörpert die Zuspitzung des „Eugenischen Phantasmas“. Seine Vorgeschichte reicht aber weit voraus und seine Aufarbeitung reicht bis ins Jetzt. Diese lässt sich über die Lektüre des Buches verstehen lernen.
Autor
Prof.in Dr.in Dagmar Herzog (*1961) ist Professorin für Geschichte am Graduate Center der City University in New York. Zu den Schwerpunkten ihrer Forschung zählen unter anderem die Geschichte der Sexualität, der Religion und der Shoah. Insbesondere die Gegenstände der Sexualmoral, des europäischen Faschismus und der zeitgenössischen US-amerikanischen Situation sind in ihren Werken aufzufinden.
Aufbau und Inhalt
Das Werk ist in fünf Kapitel gegliedert. In einer dieser Kapiteln vorgeschobenen Einleitung führt die Autorin in das Vorhaben ein. Wichtig ist an dieser Stelle die Verortung der Studie als eine „Geistesgeschichte“ (S. 19). Diese Verortung greift sie in einem den Kapiteln nachgeschobenen Nachwort wieder auf. Die Bredouille der Geschichtsschreibung ist, dass „die Gegenwart die Vergangenheit »verursachen«“ (S. 240) kann. An dieser Konstruktion der Vergangenheit ist die Geschichtswissenschaft in hohem Maße beteiligt. Diese Verantwortung nimmt die Autorin in methodisch nicht durch die bloße Rekonstruktion von Fakten auf, sondern ihr besonderes „Interesse an »Gefühlsstrukturen«“ (S. 20). Dies dürfte mit ein Grund der Abbildung einer Vielzahl an historischen Fotografien und Grafiken, welche die durch die Sprache transportierte Emotion intensiviert.
Kapitel 1: Das Problem der Unheilbarkeit
Dagmar Herzog startet mit einem Einblick in die „Guggenbühl’sche Zeit“ (S. 30) und startet ihre Analyse mit historischen Gegenbewegungen zur biologistischen Eugenik. Sie zeichnet den Diskurs nach, wie Menschen mit Behinderungen von einer gesellschaftlichen „Last“ zu dem Bestreben der gesellschaftlichen „Nützlichkeit“ umdefiniert werden. Diese Bestrebung schlägt sodann in sein Gegenteil um. Menschen mit Behinderungen werden vornehmlich in die sie „versorgenden“ Institution eingebunden, welche zur Reproduktion ihrer selbst beiträgt. Hier zeichnet die Autorin eine „Hierchisierung von Behinderung“ ab, welche sich über die gesamte Studie erstreckt. Anstatt einer Dominanz des Diskurses um die bekannte Wechselwirkung von Behinderung und Armut wird Behinderung in seiner vermeintlich volkswirtschaftlichen Belastung betont. Die eugenische Antwort hierfür ist „das Ausmerzen von Behinderungen durch selektive Fortpflanzung und gezielte Tötungen“ (51).
Kapitel 2: Liebe, Geld, Mora
Die Hierarchisierung von Menschen mit Behinderung bemisst sich an der „ökonomischen Verwertbarkeit“ und das in drei Gruppen, so die Autorin. Erstens in die Gruppe von Personen mit geringen kognitiven Einschränkungen oder vorübergehenden psychischen Krisen, zweitens der Gruppe von Menschen, welche in Anstalten arbeiten und drittens von Menschen, welche in Anstalten untergebracht sind und nicht arbeiten können. Karl Binding und Alfred Hoche sind mit ihrem Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ die zentralen Pioniere eugenischer Absichten. Eine Referenz, welche über das gesamte Werk platziert wird. Die Bemessung der Menschen an ihrer Arbeitsfähigkeit wird um eine theologisch-religiöse Perspektive erweitert. Es ist der Glaube der Kirche, dass sündiger Sex die Ursache für Behinderungen sei. Dies zeigt exemplarisch die Verstrickung der Kirche, wie sich herausstellen wird, insbesondere der evangelisch-protestantischen Kirche, in die eugenischen Phantasmen. Hier zeigt sich eine bedeutsame Ursache eugenischer Phantasmen: „eine Hierarchisierung menschlichen Wertes“ (S. 77).
Kapitel 3: Wie erkennt man ein Verbrechen?
Bewusst startet die Autorin hier mit der Rekonstruktion des gesellschaftlichen Umgangs mit dem faschistischen Verbrechen und nicht mit den Zahlen und Fakten des Verbrechens selbst. Dies ist die Konsequenz der Autorin aus dem späten und trügerischen Aufarbeiten der faschistischen Verbrechen. Das Trügerische zeigt sich unter anderem in dem Weitertreiben von ehemaligen NS-Funktionären in nun neuen machtvollen Positionen. Die Autorin zeichnet nach, wie progressive Praktiken von ebendiesen Personen verwehrt werden. Insbesondere zeigt sich auch, dass das Eugenische Phantasma weiterhin mindestens in unter ökonomischen Gesichtspunkten verteidigt wird. Mit Gerhard Schmidt und dem Buch „Selektion in der Heilanstalt“ zeigt die Autorin den Beginn der Aufarbeitung auf, wenngleich seine Popularität erst Jahre später erfolgt. Ein Ausdruck für die Art der gesellschaftlichen Aufarbeitung der faschistischen Geschichte.
Kapitel 4: Faschismus in den Köpfen
In einem vierten Kapitel verweist Dagmar Herzog nun auch auf die Zahlen der eugenischen Morde und der Nachkriegssituation in den Anstalten. Besonderes Augenmerk sei aber auf die Darstellung der Gegenbewegungen einiger wenigen Personen gerichtet, über welche widerständige Praktiken gewürdigt werden können. So wird auch auf die durch Betroffene initiierte „Krüppelbewegung“ verwiesen, welche in dieser medialen Aufmerksamkeit nun erstmalig Protest ausübten.
Kapitel 5: Sozialistischer Humanismus und behindertes Leben
Ein letztes Kapitel schließt mit einer komplexen Darstellung des sozialistischen Umgangs zwischen der Vereinnahmung von Menschen mit Behinderung im Rahmen der sozialistischen Staatsdoktrin einerseits und der Würdigung progressiver ostdeutscher Projekte andererseits ab. In dieser späten Phase des Buches wird von Dagmar Herzog auf die Arbeiten von Ernst Klee verwiesen, welcher medial präsent die menschenunwürdige Situation in Anstalten thematisiert.
Das Nachwort fasst sehr bündig die Entwicklungen bis 2024 in Anbetracht der Rechtslage von Menschen mit Behinderungen nach. In Bezug auf die deutsche Wohlfahrt schließt sie ab: „Insgesamt ist überall deutlich zu erkennen, dass sowohl die öffentlichen Aussagen als auch die konkreten Initiativen prominenter […] Interessenvertretungen wie der Lebenshilfe und […] die Leitkonzepte für die Diakonie und die Caritas weitgehend auf die radikal egalitären Menschenrechtsparadigmen ausgerichtet wurden, die anfangs am vehementesten von den antipostfaschistischen Kohorten der 1970er und 198er Jahre artikuliert wurden. Das ist ihr Vermächtnis. Es liegt an uns allen, diese Revolution, von der die Antipostfaschisten als Erste träumten, gedanklich und praktisch zu vollenden“ (S. 255).
Diskussion
Die Studie „Eugenische Phantasmen“ zeichnet sich durch die Darstellung der Verquickung der Institutionen der Medizin, Pädagogik und Religion in der Eugenik und der eugenischen Morde aus. Der Lektüre sind besonders nachhallend die bildlichen Impressionen, welche das Geschrieben intensiviert und darüber hinaus ganz eigene Prozesse freisetzt. Das Buch spricht aber nicht nur über die Katastrophe, sondern zeigt mindestens gleichwertig Gegenbewegungen auf, welche der Katastrophe noch immer entgegenstehen. Das Lebenswerk der Menschen, welche an diesen Prozessen beteiligt waren und sind, wird hierdurch gewürdigt.
Fazit
Leser:innen, welche sich vor einer normativen Sprache scheuen und eine rein faktische Darstellung erwarten, sei von dieser Lektüre abgeraten. In Anbetracht aktueller behindertenfeindlicher und euthanisierverherrlichender Angriffe auf Menschen mit Behinderungen, „Euthanasie ist die Lösung“ [1], ist diese Lektüre hochaktuell, und die Normativität des Buches als eindeutiges Zeichen gegen „Eugenische Phantasmen“ einzuordnen. Das Buch ist allen Menschen, die sich den dreien Institutionen (Wohlfahrt, Heilpädagogik und Psychiatrie) in irgendeiner Weise zugehörig fühlen, als Reflexionslektüre empfohlen.
[1] Vgl. hierzu https://www1.wdr.de/nachrichten/​rheinland/​angriff-wohnheim-moenchengladbach-100.html
Rezension von
Moritz Tebbe
wissenschaftlicher Mitarbeiter HAW Hamburg - Department Soziale Arbeit, Promovend Universität Münster Erziehungswissenschaften - Arbeitsbereich Sozialpädagogik
Mailformular
Es gibt 2 Rezensionen von Moritz Tebbe.
Zitiervorschlag
Moritz Tebbe. Rezension vom 29.11.2024 zu:
Dagmar Herzog: Eugenische Phantasmen. Eine deutsche Geschichte. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2024.
ISBN 978-3-518-58814-7.
Reihe: Frankfurter Adorno-Vorlesungen - 2021.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32605.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.