Steve Ayan: Seelenzauber
Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 20.02.2025

Steve Ayan: Seelenzauber. Aus Wien in die Welt : das Jahrhundert der Psychologie. Deutscher Taschenbuch Verlag (München) 2024. 397 Seiten. ISBN 978-3-423-28440-0. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 34,90 sFr.
Thema
Dass nahezu alle gesprächspsychotherapeutischen Verfahren ihren Ursprung in Sigmund Freuds „Redekur“ nehmen, die er in den Jahren um 1900 entwickelte, nach und nach differenzierte und verfeinerte, gehört heute zum Allgemeinwissen. Nicht minder aufschlussreich und für Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften gleichermaßen relevant ist das geistes- und ideengeschichtliche Klima, das die Herausbildung der Psychoanalyse förderte und in dem neben Freud selbst eine Reihe weiterer Pionier:innen der „Seelenkunde“ praktizierten, forschten und publizierten.
Obwohl es an Publikationen dazu nicht mangelt, ist es an sich zu begrüßen, wenn sie sich um eine Monografie vermehren, deren Anspruch es ist, das 20. Jahrhundert insgesamt als „Jahrhundert der Psychologie“ zu würdigen.
Autor
Steve Ayan „ist Psychologe und Wirtschaftsjournalist. Er studierte in Berlin, Düsseldorf, Reading und Neapel. Der langjährige Redakteur der Zeitschrift 'Gehirn und Geist' gilt als genauer Kenner der Neuropsychologie und Bewusstseinsforschung. Ayan lebt mit seiner Familie in Heidelberg“ (Klappentext).
Aufbau und Inhalt
Die insgesamt sechs Kapitel des Buches sind nach Themen geordnet, die oft chronologisch voranschreitend bearbeitet werden. Mit den Titeln „Das Unbewusste“, „Der Sex“, „Die Angst“, „Das Ich“, „Die Anderen“ und „Der Sinn“ entscheidet sich Ayan für Hyperonyme, hinter denen sich wesentliche Konstrukte der Psychologie und Psychoanalyse verbergen. Den Textteil ergänzen ein Literaturverzeichnis, Anmerkungen und ein Register sowie Chronologien in den vorderen und rückwärtigen Umschlagseiten. Sie enthalten Eckdaten aus Freuds Leben und dem seiner Familie, ergänzt um weitere bedeutende Jahreszahlen aus der Entwicklung von Psychologie und Psychotherapie.
Kapitel 1 – Das Unbewusste - lässt unter dem Header „Psychologie ohne Seele“ den Behaviorismus und seinen Begründer John B. Watson Revue passieren, bevor „die Wunderheilung der Anna O.“ als „Fall 0“ gewürdigt wird. Dahinter verbirgt sich Bertha Pappenheim, deren Leiden als Hysterie definiert wurde. Josef Breuer, eigentlich Internist, bemerkte, dass sich Berthas Leiden besserten, wenn sie darüber sprach. So sei die „kathartische Methode“ entstanden, die Freud als Anstoß für seine Theorie der Bewusstmachung der Hintergründe des Leidens gedient habe. Berthas „hysterische Anfälle“ habe er als Symptome einer unterdrückten Libido gedeutet.
Neben Breuer, „Urvater der experimentellen Psychologie“ (S. 49), und Wilhelm Wundt seien Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung die ersten Anwender des „Assoziationsexperiments“, d.h. des Sich-Einlassens auf den spontanen Redefluss der Patient:innen. Auf dieser Grundlage habe man die meisten von ihnen „in eine von zwei Schubladen“ (S. 53) einsortiert: „manisch-depressives Irresein sowie Dementia praecox“ (S. 53), die Bleuler in Schizophrenie „umtaufte“ (ebd.).
Um 1905 sei die Psychoanalyse von „einer Behandlungstechnik zur weithin anerkannten Seelenkunde“ (S. 65) avanciert. Um das für diese konstitutive Unbewusste zu erforschen, böten sich Träume an. Im Gegensatz zu Alphonse Maeder, der eine „funktionelle Theorie des Träumens“ (S. 67) konzipiert habe, seien Träume für Freud in erster Linie eine Wunscherfüllung, die im Zuge der Traumdeutung, beim Auflösen des manifesten Trauminhalts zugunsten des latenten, hervortrete. Berühmt geworden sei der „Traum von Irmas Injektion“ (vgl. S. 71–76). Diese und Freuds andere Fallgeschichten seien zunächst vorwiegend von Dichter:innen und Künstler:innen rezipiert worden.
Freuds Annahme, dass neurotische Symptome durchweg sexuellen Ursprungs seien, habe man sehr schnell in den Kreisen seiner Kolleg:innen kontrovers diskutiert und infrage gestellt. Alfred Adler habe abweichend dazu eine Theorie entworfen, die um die These kompensierter Minderwertigkeit kreise (vgl. S. 81). In den Deutungen der Individualpsychologie basiere jedes exzeptionelle Talent auf einem Mangel, der damit zum Verschwinden gebracht werde. „Während bei Freud die neurotischen Regungen in verdrängter infantiler Sexualität und traumatischen Erfahrungen wurzeln, beginnt bei Adler alles mit dem Wunsch, der eigenen Mangelhaftigkeit zu entfliehen“ (S. 93). Viele Begriffe seien in Adlers Theorie eher unbestimmt, was seine Lehre „anschlussfähig für verschiedene Strömungen“ (S. 95) mache.
Freud habe sich nicht nur mit Adler, sondern ebenso mit Carl Gustav Jung überworfen, was auf ihre diskrepanten Konzeptionen des Unbewussten zurückzuführen sei. Jung stelle Freuds Auffassung des Unbewussten als Hort des individuell Verdrängten und möglicherweise Traumatischen ein Unbewusstes gegenüber, das sich als „kollektives Unbewusstes“ im Laufe der Menschheitsgeschichte herauskristallisiert habe. Die Seele sei nicht von heute – so sein Credo (vgl. S. 105), sondern ein Sammelbecken von Archetypen, von denen alte Mythen der Menschheitsgeschichte zeugten, konstituiere sie.
Freud sei sich seiner Sache immer sehr sicher gewesen und obwohl sich seine Thesen grundlegenden Anforderungen an Wissenschaftlichkeit entzögen, hätten sie viele seiner Zeitgenoss:innen begeistert.
Wie intensiv einige von ihnen die Theorie des Lustprinzips bzw. die Thesen vom sexuellen Ursprung psychopathologischer Phänomene, von einer verdrängten Libido, die sich in Symptomen Bahn breche, begrüßten, fächert Ayan in Kapitel 2 – Der Sex - auf. Der Grazer Arzt Otto Gross, „enfant terrible der psychoanalytischen Bewegung“ (S. 130), habe die „Psychologie des Unbewussten“ als „Philosophie der Revolution“ (ebd.) bezeichnet und sich dafür eingesetzt, freie und selbstbestimmte Sexualität im Hinblick auf eine bessere Gesellschaft auszuleben.
Im Vergleich zu ihm habe Wilhelm Reich Berühmtheit erlangt. Freuds Forderung, das Lustprinzip dem Realitätsprinzip unterzuordnen, habe er genauso kategorisch wie Gross abgelehnt. Jede Neurose gehe auf eine genitale Problematik zurück, oft liege eine „Stauungsneurose“ vor, weil das Bedürfnis nach Sexualität verdrängt werde und sich die Libido so nicht entladen könne (vgl. S. 154). So fordere Reich in seinen Publikationen das Ausleben der Triebe, was Freud entsetzt habe (vgl. S. 155).
Überdies habe Reich mit einer „Theorie der Sexualökonomie“ die Gesellschaftstheorie von Karl Marx mit Freuds Theorie des Unbewussten in Einklang bringen wollen.
Kapitel 3 – Die Angst - beginnt mit der „Geschichte vom Kleinen Hans“ und den daraus resultierenden Einsichten Freuds, „dass auch Kinder von Lust und Unlust regiert werden und verdrängte Wünsche haben“ (S. 166). Durch Hans bestätige sich auch die Theorie, „wonach verdrängte Lust in Angst umschlägt, und da sie nicht einfach verschwinden kann, einen anderen Gegenstand ‚affiziert‘“ (ebd.).
In eine andere Richtung bewegen sich die Experimente von John B. Watson, der die Psychoanalyse abgelehnt habe und Psychologie rein experimentell habe begründen wollen, als Teil der Naturwissenschaften (vgl. S. 175). Fürchten lasse sich erlernen, lasse sich „konditionieren“, wie die weltberühmten und ethisch verwerflichen Experimente mit dem kleinen Albert bewiesen. Vor diesem Hintergrund könne man – so Watsons Schlussfolgerungen – Verhalten lenken und Kinder heranziehen, die gesellschaftlich gewünschten Betragensmodi entsprächen und die Funktionen ausführten, z.B. bestimmte Berufe ergriffen, die mit kollektiven Interessen konform gingen.
Eine Forscherin, Mary Cover, die Watsons Vorlesungen besuchte, habe als Erste eine Verhaltenssteuerung im Rahmen einer Therapie durchgeführt, um den Wert des Konditionierens im Hinblick auf eine Heilung zu untermauern. Sie habe sich gefragt, ob man „nach dem Prinzip der Reizverknüpfung auch das Gegenteil bewirken und die bestehende Angst kurieren“ (S. 191) könne. Mit einem knapp dreijährigen Jungen namens Peter, der Angst vor Hasen und anderen „Fellträgern“ hatte, habe Mary Cover mehrere Desensibilisierungstechniken (vgl. S. 192 f.) getestet.
Im folgenden Kapitel (4 – Das Ich) konzentriert sich Ayan zunächst auf Alfred Adler, der in den 1920er Jahren in den USA am Höhepunkt seiner Karriere angelangt sei. Er erweise sich als „Meister der Mehrfachverwertung“ (S. 204), indem er mit Ratschlägen zur Selbstoptimierung ausführe, wie man Schwächen in Stärken umwandeln könne. Ein Individuum beziehe seinen Selbstwert zum einen dadurch, nach Macht und Kontrolle zu streben und zum anderen durch die Adaption an eine Gemeinschaft. Ein Neurotiker sei nicht imstande, sich einem interindividuellen Projekt anzuschließen. Letztendlich sei die Neurose für Adler „ein Mittel, um jenen Forderungen zu entgehen, die die Familie, der Job oder das Leben insgesamt an die Person stellen“ (S. 206). Mit Freuds „vertrackter Triebmechanik“ (S. 208) habe dies kaum mehr etwas gemeinsam. So wie Freud jedoch sei Adler darauf aus gewesen, dass seine Adept:innen ihm widerspruchslos folgten.
Freud habe in den 1920er Jahren sein Modell der Psyche überarbeitet – nun kategorisiere er die Psyche in die Instanzen Es, Ich und Über-Ich, mit denen er die Differenzierung in Bewusstes, Unbewusstes und Vorbewusstes ersetze. Eine weitere Revision dieser Jahre ziele auf die Abkehr vom Lustprinzip. Jeder Trieb ziele „nicht in erster Linie auf Lust ab, sondern darauf, einen früheren Zustand wiederzuerlangen“ (S. 209). Der ultimativ zu erlangende Status sei „anorganisches Nichtsein – der Tod. Die Psyche, so Freud, beinhalte einen Drang zur Selbstauflösung, der durch Verschiebung auf andere Objekte zu Aggression und Hass führe“ (ebd.).
Mit seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur“ wandle sich Freud endgültig „vom Seelenarzt zum Kulturtheoretiker“ (S. 214). Er erläutere Formen der Triebsublimierung – Religion, Liebe, Kunst, Literatur und Wissenschaft, alle tauglich dafür, „die dem Lustprinzip innewohnende Aggressionsneigung in verträgliche Bahnen zu lenken“ (S. 215).
Mit der sogenannten „Großmann-Methode“ (vgl. S. 223), entworfen in dem Buch „Sich selbst rationalisieren“ (1927), habe der Psychologe Gustav Großmann die Ratgebermentalität Adlers, dessen Schriften laut Ayan mehr als die von Freud für eine breitere Leser:innenschaft geeignet sind, zum Kulminationspunkt gebracht.
„Dritte Kraft“ innerhalb der Psychotherapie ist für Ayan die von Fritz Perls initiierte Gestalttherapie, weil diese später als „humanistische“ Psychotherapie (vgl. S. 230) Psychoanalyse und Behaviorismus ergänze. Perl betrachte sowohl Freuds als auch Watsons Menschenbild mit großer Skepsis, weil ihm beide als zu mechanistisch und im Abseits des menschlichen Willens situiert erschienen. Unter dem Titel „Ego, Hunger and Aggression“ (1946) habe Fritz Perls die Grundfesten der Gestalttherapie skizziert. In ihm komme dem Hunger eine wesentliche Rolle zu: „Hunger nach geistig-seelischer Nahrung verhält sich wie physischer Hunger“ (Perls, zit. nach Ayan, S. 246). Nicht der von Freud in den Mittelpunkt gestellte „anale Widerstand“ und die mit ihm assoziierte „Angst vor dem Abgeben“ sei das Hauptproblem, sondern vielmehr „die Unfähigkeit zum Einverleiben […]. Nicht Unvermögen, sich zu öffnen und ‚es‘ rauszulassen, kennzeichne den Neurotiker, sondern dass er es vermeide, das Offensichtliche anzunehmen, seine geistige Nahrung zu assimilieren“ (S. 247). Ein:e Neurotiker:in vermöge es nicht, sich selbst gewahr zu sein und sich selbst zu verwirklichen, seinen:ihren Hunger nach seelisch-geistiger Nahrung könne er:sie nicht stillen. Demzufolge sehe das Programm der Gestalttherapie vor, den Kontakt zum Selbst zu restaurieren und die fünf Mechanismen der „Introjektion, Projektion, Konfluenz, Retroflexion“ und des „Egotismus“ (S. 249) zu unterbinden.
Ab 1964 gab Perls im „Esalen-Institut“ (vgl. S. 252 ff.) Seminare und „Awareness-Trainings, die zum Gewahrsein im Hier und Jetzt anleiten“ (S. 257). Dahin kam auch der durch seine „Bedürfnispyramide“ bekannt gewordene Abraham Maslow. Perls sei ein großer Kritiker dieser Konzeption gewesen (warum könne man sich erst der Transzendenz widmen, wenn man nicht mehr hungrig sei?). Mit seiner Skepsis habe er Maslow zutiefst verunsichert. Darüber hinaus habe er sich bei den Teilnehmer:innen seiner Seminare durch kontinuierliches Nachfragen und stetes „Nachbohren“ ausgezeichnet. Laut seiner Autobiografie ist Esalen „zum Symbol für die humanistisch-existenzielle Revolution“ (S. 258) geworden.
In den 1940er und 1950er Jahren habe ebenfalls der Behaviorismus an Fahrt aufgenommen. Den Titel „Vater der Verhaltenstherapie“ (S. 231) könne man Joseph Wolpe verleihen, der nach einer Reihe von Experimenten mit Katzen ein ähnliches Prozedere bei Menschen mit Phobien durchführte: sie in Entspannung versetzen, danach mit Angstreizen konfrontieren. Die eigentliche kognitive Verhaltenstherapie sei von Aaron Beck und Albert Ellis entwickelt worden. Beide seien unabhängig voneinander zu der Erkenntnis gelangt, „dass belastende Gefühle verzerrten Gedankenmustern und Irrtümern entspringen. Die von diesen Kognitionen ausgelösten Emotionen scheitern an der Realität, säen Konflikte und Überforderung“ (S. 239). Patient:innen seien dazu aufgefordert, dies zu verstehen und neue Verhaltensweisen einzuüben.
Die Anderen (Kap. 4) scheinen all jene Psycholog:innen zu meinen, die sich der Klassifizierung entziehen. Den Reigen führt Otto Rank an, der zur „Ehrenrettung des Willens“ (S. 269) angetreten sei. Inspiriert von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, deute er das Leben insofern existenzialistisch, als der Mensch demnach in das Sein hineingeworfen sei. Es löse Angst aus, dass jede:r zur Freiheit verdammt sei und im Zuge dessen eine Wahl treffen müsse, die andere Wahlmöglichkeiten, an denen man schuldig werden könne, ausschließe. Obwohl Rank in seinen Publikationen behaupte, keine eigene Therapietechnik zu befolgen, inkludiere er Konstrukte, die nachfolgende Therapeut:innen nachhaltig beeinflussten, so etwa „Wachstum, Selbstfindung, Beziehungen, Hier und Jetzt“ (S. 271).
In seinem Klassiker „Counseling and Psychotherapy“ (1942) habe Carl Rogers die Leitlinien der von ihm begründeten klientzentrierten Gesprächspsychotherapie dargelegt. Empathie und Wertschätzung, die beiden ersten Konzepte, eränze Rogers mit Kongruenz Der:die Therapeut:in müsse insofern kongruent sein, als er seinen Klient:innen authentisch begegnen müsse, er:sie dürfe sich nicht verstellen und müsse Menschen das Gefühl geben, vollumfänglich – mit ihrer gesamten Gefühlswelt – ernst genommen zu werden. Eine Grundregel laute, dass die Gesprächsführenden von jeglichem Ratschlag Abstand nähmen. Auf diese Art und Weise manifestiere sich eine „Alternative zur distanzierten Psychoanalyse, aber auch zu der vom Behaviorismus geprägten Verhaltenstherapie“ (S. 283).
Vor allem in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sei die Gruppenpsychotherapie entstanden. Popularität habe sie mit den humanistischen Ansätzen von Irvin D. Yalom erlangt, „erfunden“ habe sie Jacob Moreno bereits in den 1920er Jahren. Er habe in seinen Therapie-Experimenten „frühe familiäre Beziehungen“ reinszeniert (S. 290) und nicht zuletzt damit das Psychodrama geschaffen. Beim spielerischen Wiederholen zwischenmenschlicher Beziehungen werde man sich im Sprechen und Bewegen den begleitenden Emotionen gewahr. Dafür benötige man ein „alter ego“.
Hans Jürgen Eyenck, ein weiterer Mitbegründer der Verhaltenstherapie, habe, Verhaltenstherapie und psychoanalytische Methoden auf der Grundlage von Krankenhausdaten vergleichend, konkludieren können, dass verhaltenstherapeutische Methoden eine sehr viel höhere Besserungsrate zeigten als die Psychoanalyse. So forderte er, dass die Anwender:innen der psychoanalytischen Methode ihren Nutzen belegen sollten. Dies sei ein Meilenstein auf dem „Weg von der Eminenz zur Evidenz“ (S. 295) gewesen. Es konkretisiere sich, dass Psycholog:innen „dem Vorbild der exakten Naturforschung“ folgten, „samt objektiver Messung seelischer Variablen, kontrollierten Experimenten und statistischer Datenauswertung“ (S. 297).
„Das unbekannte Wesen“ – unter diesem Header subsumiert Ayan die sich unter anderem mit Freuds jüngster Tochter Anna Freud entwickelnde Erforschung und Therapie der Psyche von Kindern. Das Ergebnis ihrer Überlegung, wie das freie Assoziieren in Therapien von Erwachsenen in Therapien von Kindern ersetzt werden könne, veröffentlichte sie 1927 in ihrer „Einführung in die Technik der Kinderanalyse“.
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts habe Melanie Klein ihre „Objektbeziehungstheorie“ konzipiert: Jedes Kind baue „eine symbiotische Beziehung zur ersten Fürsorgeperson“ (S. 307) auf. Zwischen Anna Freud und Melanie Klein sei ein Streit um die Frage entbrannt, ab welchem Alter Kinder analysiert werden könnten (vgl. S. 308).
In seinem letzten Kapitel (Der Sinn – 6) schlägt Ayan einen Bogen von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie, hin zu dem Arzt Wolfgang Huber, dem Gründer des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK).
Steiner habe nicht dulden wollen, dass die „Alltagserfahrung des Unbewussten“ auf „Nicht-Wissen“ (S. 313) basiere. „Gedanken, Assoziationen, Gefühle und Wünsche“ (ebd.) seien plötzlich da. Das sie umgebende Rätsel ihrer Genese lasse sich allein mit einer „reinen Erkenntnis des Selbst, die zugleich Weltkenntnis sei“ (S. 315), lösen. Im „Innern der Menschen“ werde eine „Sprache der Dinge“ (S. 315) gesprochen, die es zu verstehen gelte. Ayan bescheinigt Steiner eine „traumwandlerische Aura“ und befindet, dass es „auffällige Parallelen zwischen Psychoanalyse und Anthroposophie“ (S. 321) gebe, die Kluft zwischen ihnen aber mindestens genauso tief sei. Anders als Freud verfolge Steiner das Konzept transzendentalen Strebens, ein Streben „nach einem objektiven Idealismus, in dem Ich und Welt verschmelzen. Wahrheit offenbart sich demnach nicht den Sinnen, sondern allein dem ‚inneren Geist‘“ (S. 333).
Karl Popper, Schöpfer des kritischen Rationalismus, habe sich die Frage gestellt, wo die Grenze zwischen „Pseudowissenschaft“ und „Erkenntnis“ (S. 328) verlaufe. Wissenschaftlichkeit konzentriere sich in der Methode, mit der man „Hypothesen und Kausalgesetze“ (ebd.) extrapoliere. Theorien seien so zu entwerfen, dass sie falsifiziert werden könnten. Das „Kernkriterium der Widerlegbarkeit“ (S. 329) müsse vorhanden sein. Für die „empirieresistente“ Psychoanalyse sei dies kein Maßstab. Mit ihren „vieldeutigen Begriffen“ entziehe sie sich der Überprüfung und verkehre sogar „Einwände zum vermeintlichen Beleg für die eigene Richtigkeit“ (S. 329).
Als Kritiker der Individualpsychologie lässt Ayan den Neurologen und Psychiater Viktor E. Frankl auftreten. Für ihn sei die Auffassung prägend, dass Menschen ihr Leiden nur dann überwinden könnten, wenn sie dazu in der Lage seien, mit ihm einen Sinn zu konstruieren. Es sei primordial, Menschen zu zeigen, wie sie Verantwortung für ihr Leben übernehmen könnten. Frankl sei „Transzendentalist“ – ihn fasziniere der „‘Übersinn‘, das Bedürfnis des Menschen, sich und seine Existenz einer größeren Sache zu widmen“ (S. 338). Seine Technik der „paradoxen Intention“ (vgl. S. 339) sehe vor, dass ein:e Patient:in imaginiere, was der heftigste Ausgang seiner:ihrer Befürchtungen sein könne. Auf diese Weise bemerke er:sie, dass er:sie eigentlich nichts zu fürchten habe. Bei furchtauslösenden Situationen dürften Therapeut:innen einerseits das Vermeidungsverhalten nicht fördern. Andererseits dürften sie aber nur moderat auf der Konfrontation bestehen, weil der Kooperationswille schwinden könne (vgl. S. 340). Ein weiteres Element aus Frankls Therapie sei die „Dereflexion“ (vgl. S. 341). Anstatt sich mit unlösbaren Problemen zu beschäftigen, solle der Mensch in die Aktivität kommen – einer Leidenschaft folgen, etwas tun, was seinem Leben Sinn verleihe. Dabei spiele die „Selbsttranszendenz“ eine prominente Rolle.
Ayan beschließt seine Kapitel mit einem Blick auf Wolfgang Huber und das SPK – Huber habe seine Patient:innen, „darunter solche mit schizophrener Psychose und Suizidgedanken, zu Geiseln der politischen Agitation“ (S. 351) transformieren wollen. In einem kurzen Nachwort (sag, was soll es bedeuten) spürt der Autor der „verwirrenden Vielfalt“ von Psychotherapien nach. Sachliche Gründe seien dafür heranzuziehen, „die mit dem Fortschritt der klinischen Psychologie und Psychiatrie zu tun haben“. Außerdem wurzele die Vielfalt „in der Tatsache, dass die Psychotherapie der ökonomischen Logik von Angebot und Nachfrage gehorcht“ (S. 353).
Diskussion
Obwohl man sich zum einen mehr Grundlagentexte und zum anderen deutlich mehr geschichtswissenschaftliche bzw. medizinhistorische Studien hätte wünschen dürfen, lässt sich festhalten, dass die vorliegende Publikation auf akzeptablen und breitgefächerten Recherchen beruht. Vorab stellt sich gleichwohl die Frage nach der Qualität und Quantität von Wissenschaftlichkeit, die man bei einem Streifzug durch die Geschichte von Psychologie und Psychotherapie erwarten kann. Ayans Buch entspricht einem Gattungsmuster der Hybridität – Wissenschaftlichkeit liegt vor, ja, aber sie gibt sich streckenweise wie ein rissiger Putz, der hätte repariert werden müssen. Oftmals wirkt die sprachliche Performanz wie aus der Zeit gefallen, wie aus einer zweitklassigen romanesken Biografie mit bemühtem narrativem Duktus. Mit dieser Anstrengung, ein Höchstmaß an Komplexität auf journalistisch-essayistische und kulinarische Weise zu minimieren und zu vereinfachen, behindert sich der Autor selbst, weil das Resultat des „Locker-Flockigen“ darin besteht, dass sich Seriosität und Zitierfähigkeit der Darstellung um ein Vielfaches reduzieren.
Viele gute Bemerkungen lassen sich nur bedingt in ein systematisches Ganzes einordnen und laufen damit Gefahr, nicht lange im Gedächtnis der Leser:innen zu verweilen, sondern eher wirkungslos zu verpuffen. Sobald man meint, tiefer in das Werk und die Theorien einer Persönlichkeit eintauchen zu können, werden sie von biografischen Details und schnell auch Informationen zu wiederum anderen überlagert.
In den ersten beiden Kapiteln, danach in geringerer Ausprägung, stellt sich „Name-Dropping“ als Problem heraus, das den Lesefluss massiv behindert. Leser:innen sehen sich gezwungen, durch ein Dickicht von Namen zu spazieren, von denen einige in Fußnoten, notfalls im Anmerkungsapparat, besser aufgehoben wären.
Zwar lässt sich Ayans Erzähltalent, das er zum „Jahrhundert der Psychologie“ (Untertitel), dem „Zeitalter der Psychotherapie“ (Umschlag) oder den „Kindertagen der Psychotherapie“ (S. 353) wortreich unter Beweis stellt, uneingeschränkt bewundern, aber der grundlegenden Terminologie hätte ein epistemologisch motiviertes Nachschärfen gutgetan. Wegen mangelnder Distinktionen ist nur streckenweise klar, ob nun Psychoanalyse, Psychotherapie oder Fragen der Erkenntnis innerhalb der Psychologie im Allgemeinen fokussiert werden. Lässt man Koryphäen wie Sigmund Freud, Alfred Adler oder Carl Gustav Jung außer Acht, deren Vorkommen im Buch als Prämisse gesetzt sein kann, sind die Kriterien für die Auswahl manch anderer Theoretiker:innen wenig transparent.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Ayan mit den – prinzipiell irrelevanten – Beschreibungen der Physis seiner Protagonist:innen die Neugierde der Leser:innen wecken möchte. Allem anderen voran scheint ihm die Körpergröße am Herzen zu liegen – „ein Mann von kleiner Statur eilt die Straße entlang“ (S. 11, Alfred Adler), „der groß gewachsene Jung“ (S. 117) erforsche mit Sabina Spielrein eine besondere „erotische Spielart“ (ebd.), Rosalie Rayner, mit der Watson eine Liebesbeziehung beginne, sei eine „groß gewachsene Einundzwanzigjährige“ (S. 174) und Sándor Ferenczi ein „groß gewachsener, leicht ergrauter Mann“ (S. 306), als Melanie Klein seine Praxis betrete.
Kontrastierend damit, eilt der Autor nicht selten über Wesentliches hinweg, so gleich zu Beginn über die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im medizinischen genauso wie im literarischen Diskurs häufig auftretende Neurasthenie. Extensivere und intensivere Ausführungen zur Genese des Phänomens sind ebenso bei der Hysterie zu vermissen. Dass zu Freuds Zeiten immer noch historisch gewachsene, jahrhundertealte aberwitzige Konstrukte durch die Köpfe vieler Mediziner waberten, hätte nicht ausgelassen werden dürfen: Hysterie wird nach diesen von einem „uterus migrans“, einer wandernden Gebärmutter also, hervorgerufen. Laut solcher Theorien gilt sie als weibliches Gegenstück zur vorwiegend männlich akzentuierten Hypochondrie, Modekrankheit seit dem 18. Jahrhundert.
Was macht im Übrigen eine psychoanalytische Redekur aus? Das, was für Analytiker:innen imperativ ist – durch Zuhören und extrem sparsam eingesetzte Kommentare dem:der Patienten:in dabei helfen, Unbewusstes bewusst zu machen und allein damit psychopathologische Verhaltensmuster aufzulösen –, kommt bei Ayan vor, wird zu Recht als „kathartische Methode“ deklariert und im ersten Kapitel mit dem Hauptaugenmerk auf Bertha Pappenheim zufriedenstellend beschrieben. Danach ist die Methode indessen nur noch einiger sporadischer Bemerkungen wert. Die Würdigung des Sprechens und Erzählens als solches – das freie Assoziieren der Patient:innen, die schwebende Aufmerksamkeit der Therapeut:innen, Mechanismen der Übertragung und Gegenübertragung, die es bewusst zu machen und aufzulösen gilt – verfängt sich tendenziell im Fragmentarischen. Ähnlich ist es bei allem, was Ayan zu Träumen und zur Traumarbeit schreibt. In der für diese konstitutiven Trias Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung bleibt letztere gänzlich absent.
Skepsis ist gegenüber vielen anderen Statements geboten, weil sie nicht oder nur unzureichend mit Quellen belegt werden. So etwa die widerspruchslose Akzeptanz des „Meisters“, die Ayan sowohl Freuds als auch Adlers Adept:innen bescheinigt. Sätze wie „Freud wird eher von der kunstsinnigen Upperclass rezipiert, während Adlers kleinbürgerliche Aufsteigermentalität die breite Masse anspricht“ (S. 218) hinterlassen Fragezeichen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Alfred Adler „der begnadete Popularisierer“ (S. 219) war, als den Ayan ihn apostrophiert – ohne Quellen wirkt ein solches Label als leere Behauptung, die sich als Wahrheit gerieren möchte.
Nicht nur im Kontext von Neurasthenie, Hysterie und Methode der Psychoanalyse fällt auf, dass wichtige Informationen kursorisch daherkommen. Vermutlich ist dies der Tatsache zu schulden, dass dem Autor im Zuge eines „hausgemachten“, selbst definierten Anspruchs an das, was eine wissenschaftsjournalistische Schreibweise zu sein habe, die Prioritäten verrutschen. Beispielhaft dafür ist, dass Ayan die humanistische Psychologie quasi nebenbei definiert. So kommt es, dass der brillante Psychotherapeut und Autor Irvin D. Yalom nur sehr oberflächlich, vorwiegend als Begründer der Gruppentherapie, Eingang in das Buch findet. Hinweise auf seine exzellenten Fallgeschichten fehlen gänzlich.
Anstatt sich in Freuds Biografie zu verlieren, die man an anderer Stelle nachlesen kann (am besten in Peter Gays „Freud: Eine Biographie für unsere Zeit“ aus dem Jahre 2006), wäre es empfehlenswert gewesen, Yaloms Variante der Existenzpsychologie angemessen neben der von Viktor Frankl zu präsentieren. Unabhängig davon erstaunt es, dass ein Begriff wie „Resilienz“ in diesem Kontext nicht fällt. Des Weiteren hätte man sich eine genauere Gegenüberstellung von Sartres und de Beauvoirs Existenzphilosophie mit Frankls und Yaloms existenziell und humanistisch motivierter Psychotherapie wünschen dürfen.
„Jede Therapieschule braucht ein Manifest. Eine Art Masterplan, der den eigenen Weg zum Seelenheil umreißt“ (S. 245). Das mag für Fritz Perls und die Gestalttherapie zutreffen, aber selbst in diesem Kontext ist es nur eine leere Hyperbel, von „Masterplan“ und „Seelenheil“ zu schreiben. Würde es nicht eher zu einer guten Therapieschule passen, wenn sie sich nicht als „Schule“ sähe und jedwedes Manifest, dem immer eine Normierung eignet, ablehnte?
Obgleich die letzten beiden Kapitel, in dem auch die Gestalttherapie behandelt wird, vergleichsweise gut sind, wirken sie ein bisschen als thematisches Sammelbecken von allem, was sich zuvor nicht unterbringen ließ. Erwartungen destruieren sie insofern, als man bei „Die Anderen“ – wohlgemerkt mit Majuskel – mit Ausführungen zu Jacques Lacan rechnet. Dieser kommt allerdings nur in einem Satz vor, der, mit „Und“ beginnend, eine Art Add-on markiert: „Und der Franzose Jacques Lacan sieht in dem Versuch, unartikulierbare, animalische Triebe zur ‚Sprache zu bringen‘ eine nie versiegende Quelle des Selbsthasses“ (S. 210). Besser als eine solche, nicht falsche, aber unendliche grobe Kategorisierung wäre es gewesen, Lacan zu ignorieren.
Dass Rudolf Steiner im Buch mit von der Partie ist, lässt sich rechtfertigen. Dass eine exakte, d.h. quellengestützte, Begründung dafür fehlt, verwundert nicht. So wie Freud habe Steiner „die Eroberung unerkannter, aber essenzieller Seelenkräfte“ (S. 321) versprochen, als charismatische Persönlichkeit habe er in strittigen Fragen die Deutungshoheit für sich reklamiert. Alles schön und gut – aber was ist eigentlich das „Reich des Raunens“ (S. 322)? In dieses sei der Anthroposoph geflüchtet – im Gegensatz zu Freud und Adler, die sich immerhin „um eine befriedigende Herleitung und Absicherung ihrer These“ (ebd.) bemüht hätten.
Vom Ansatz her gut ist, dass Karl Popper mit seiner Bewertung der Psychoanalyse im Rahmen des kritischen Rationalismus thematisiert und demzufolge ein kurzer Schwenk zum Verfahren der Falsifikation vorgenommen wird. Nichtsdestoweniger schlummert da noch viel Potenzial, bezogen etwa auf die Frage, inwieweit gerade Ambiguität und Toleranz ihr gegenüber einen Wesenskern der Psychoanalyse ausmachen.
Leider mangelt es an einer ausgefeilten und vor allem kritischen Perspektive auf das, was Ayan als Weg von der „Eminenz“ zur „Evidenz“ bezeichnet.
Den berühmten „roten Faden“ weist „Seelenzauber“ zwar auf, doch dieser verheddert sich manchmal und reißt mitunter sogar ab, um irgendwo an späterer Stelle wieder aufgenommen zu werden. Mit anderen Worten: seine Themen verfolgt Ayan eher sprunghaft, spontan, sporadisch, und, bevor ein Gedanke mit Stringenz weitergeführt und zu Ende gebracht wird, ploppen oft, im Stil der Social Media-Plattform TikTok, eine Reihe weiterer kleiner Aspekte auf, die den initialen Gedankengang perturbieren. Ein solches Procedere des „Hopsens“ nach dem Modell des Zappens durch mediale Kanäle ist dazu angetan, von klugen Beobachtungen abzulenken.
Mit einer prononcierten In-medias-res-Technik zu Beginn der Großkapitel und/oder der Unterabschnitte soll – so ist zu unterstellen – Spannung aufgebaut werden. Ein junger Mann möchte unbedingt an Freuds Mittwochsrunde teilnehmen – davon erzählt Ayan im ersten Kapitel und enthüllt erst einige Seiten weiter, dass es sich bei diesem Mann um Alfred Adler handelt. Ähnlich verfährt der Autor z.B. im zweiten Kapitel mit dem Vorstellen von Sabina Spielrein, dann kommen Otto Gross und Wilhelm Reich hinzu, wobei sich Bemerkungen zur Ausbildung von Analytikern an der Psychoanalytischen Poliklinik Berlin dazwischen drängen. Als ein solches Intermezzo erlangen sie den Status eines weniger wertigen Appendix, hätten aber durchaus den Stoff für mindestens ein weiteres Kapitel abgegeben. Genauso verhält es sich mit dem Abschnitt „Das Beelzebub-Manöver“ (S. 167 ff.), in dem Ayan die während des Ersten Weltkriegs und danach aufflammende Debatte über Kriegsneurosen thematisiert. Das, was bei Weitem nicht nur historisch sehr bedeutsam ist, gerät ins Hintertreffen.
Ein letztes Beispiel: im vierten Kapitel erwartet man mehr Informationen zu Fritz Perls. Bevor diese tatsächlich kommen, schiebt sich erst ein Text zu John Wolpe (vgl. S. 231) dazwischen – so, als ob man von einem Kürzestfilmchen zum nächsten geleitet werde.
„Der schmucke Watson“ (S. 37), „der gewissenhafte Arzt Frank Riklin“ (S. 49) oder Otto Gross, „der verarmte, geistig zerrüttete Visionär“ (S. 136) – zum Glück setzt Ayan das Procedere der Charakterisierung durch Adjektive (erinnert an drittklassige Dokusoaps) nicht allzu häufig ein. Eine solche Rhetorik schmälert die Ernsthaftigkeit des Dargestellten bzw. überzieht es mit einer Schicht ironischer Uneigentlichkeit, die auch in einer nur bedingt wissenschaftlichen Monografie nichts zu suchen hat.
Leider dräut auch im Abseits inadäquater Verwendung von Adjektiven nicht selten ein Impetus ironischer Distanzierung. Problematisch wird dieser dann, wenn er vielleicht intentional und dezidiert präsent sein soll, ja sogar berechtigt ist, weil ein bestimmter anachronistischer Diskurs mit ihm entlarvt und/oder ad absurdum geführt werden könnte. Da dieser Impetus aber nicht in seiner Partikularität markiert wird, ertrinkt er in den Wogen allgegenwärtiger Ironie, vernichtet sich selbst, schlägt sich mit seinen eigenen Mitteln. Krasse Beispiele dafür sind Etikettierungen wie „Salonlöwin Lou-Andreas Salomé“, die Art und Weise, wie das Phänomen Hysterie in den Text eingeführt wird (vgl. S. 42) und insbesondere der Kommentar zum Porträtfoto von Bertha Pappenheim – „Peitsche und Hut stehen ihr gut: Bertha Pappenheim streng zugeknöpft“ (S. 45). Entweder ist Ayan hier in einem Höchstmaß und sehr unbedacht lässigen Formulierungen aufgesessen oder aber er partizipiert – etwas überspitzt formuliert – am frauenfeindlichen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Es ist nicht zu bezweifeln, dass Steve Ayan ein sehr belesener Autor ist, der über ein immenses Wissensrepertoire zu Fragen der Psychoanalyse, Psychologie, Psychotherapie und der Geschichte dieser Disziplinen verfügt. Die Zähmung des Wissens bleibt ein Desiderat. Für Ayan selbst könnte es eine passende Entwicklungsaufgabe sein, den Weg von der „Eminenz“ zur „Evidenz“ zurückzulegen, den Weg von eminentem extensivem Wissen zu solchem, das evidenzbasiert und mit Quellen belegt ist oder sich – alternativ dazu – a priori als Interpretation und somit nur bedingt als nachprüfbares Wissen zu erkennen gibt.
Fazit
Wer ein launiges Dahingleiten durch historische Zusammenhänge liebt, wen weder biografische Verbrämungen und ein pseudofiktional romaneskes Gewand stören, der:die ist mit Steve Ayans Buch gut bedient. Wer sich jedoch tiefgründiger mit der Geschichte von Psychologie und Psychoanalyse auseinandersetzen möchte, dem seien andere Titel empfohlen.
Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
Literaturwissenschaftlerin (Venia legendi für Romanische Literaturwissenschaft, Französisch und Italienisch) sowie Dozentin an einer Fachschule für Sozialpädagogik.
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