Stefan Becker: Plastisches Gestalten von Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Svenja Rehse, 28.10.2024
Stefan Becker: Plastisches Gestalten von Kindern und Jugendlichen. Entwicklungsprozesse im Formen und Modellieren mit Ton. kopaed verlagsgmbh (München) 2024. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. 340 Seiten. ISBN 978-3-96848-114-2. D: 39,80 EUR, A: 41,00 EUR.
Thema
Die erste Auflage des Buches: „Plastisches Gestalten von Kindern und Jugendlichen, Entwicklungsprozesse im Formen und Modellieren mit Ton“ von Stefan Becker wurde bereits 2003 publiziert und bot das Konzept einer Morphogenese des plastischen Gestaltens vom frühen Kleinkindalter bis zur späten Adoleszenz. Auch die damaligen Erkenntnisse wurden phasenweise mit der Entwicklung der Kinderzeichnung verglichen. Grundlage der ersten Auflage bildeten umfangreiche wissenschaftliche Studien, die der Autor in seiner 40jährigen Laufbahn als Kunstpädagoge zwischen 1998–2023 an Kindergärten und Schulen im Bereich plastisches Gestalten und Modellieren mit Kindern durchgeführt hat.
Bereits diese erste Auflage wurde gehandelt als Standardwerk, das theoretische Grundlagen der Forschung zu Entwicklungsprozessen im Formen und Modellieren von der Kita bis zum späten Jugendalter umfasst. Die eigene Forschung ist mit über 1400 dokumentierten Objekten und Figuren unterlegt und umfasst zusätzlich 300 Kinderzeichnungen. In der aktualisierten Auflage von 2024 sind zahlreiche neue Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie sowie Hinweise zum Aufwachsen im heutigen Zeitalter und die Einflüsse der Digitalisierung enthalten. Teils farbige Abbildungen (Fotos und Zeichnungen) ergänzen die Texte anschaulich.
Die Forschungslage und Publikationen zu diesem Bereich Gestalten mit Ton sind im Gegensatz zum bereits seit 120 Jahren erforschten Thema Entwicklung der Kinderzeichnung immer noch eher dürftig. Nur wenige Werke befassen sich laut Stefan Becker explizit mit dem Gestalten und Modellieren von Ton im Kindes- und Jugendalter. Dies wird im ersten Kapitel auf S. 14–17 in dem Text Forschungschronologie überblicksartig deutlich dargestellt. Es ist erklärtes Anliegen des Autors, ästhetische Verhaltensformen sowie die gesellschaftlichen soziokulturellen und ökonomischen Lebensbedingungen der Zielgruppe und die Auswirkungen auf deren plastisches Gestalten auszuloten und idealerweise eine altersgemäße Zuordnung vorzunehmen.
Auch die Einflüsse der zunehmenden Mediatisierung, familiäre Umwälzungen, Einschränkung von Freiräumen in den sozialökologischen Zonen und den verändernden Sozialisierungsbedingungen in der Schule für die Produktionsformen des Kindes/​Jugendlichen im plastischen Bereich werden vom Autor als Themenfelder seiner Forschung genannt.
Autor
Stefan Becker ist Kunstpädagoge, Dozent, Autor und Künstler. Er erforscht seit über 40 Jahren im Themenfeld plastisches Gestalten mit Ton im Kleinkindalter und das Modellieren von Ton bei Jugendlichen in der Sekundarstufe. Studien führte er in Kitas, Schulen und freien Fördereinrichtungen zur künstlerischen frühen Bildung durch oder ließ sie unter seinen Prämissen umsetzen. Aus über 1400 dokumentierten Objekten und Figuren sowie 300 Kinderzeichnungen entwickelte und untersuchte er seine Thesen.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist eine sorgfältig aktualisierte Neuauflage einer zugrundeliegenden Publikation von 2003. Vor dem Hintergrund neuer entwicklungspsychologischer Erkenntnisse (Piaget und Weiterentwicklung seiner Thesen) sowie heutiger Medienszenarien, Lern- und Lebensbedingungen werden aktuelle Erkenntnisse dargestellt. Es beinhaltet daher auch Objekte, die mit Blick auf heutige Gegebenheiten eigens hergestellt, wissenschaftlich ausgewertet und fachlich in den Gesamtprozess integriert wurden.
Aufbau
Das Buch umfasst 340 Seiten. Es beinhaltet sieben Kapitel, wovon Kapitel 1 die Vorworte zur zweiten aktualisierten und erweiterten Auflage sind (S. 10–19) und Kapitel 7 den Anhang mit Tabellen und dem Literaturverzeichnis bildet. Den Kapiteln 2,3 und 4, die sich mit den Altersstufen (Kleinkind/​Vorschulalter, Grundschule und Spätes Schulkinder/​Adoleszenz) getrennt befassen, sind dem Inhalt jeweilige Entwicklungspsychologische Voraussetzungen im Umfang von 6–8 Seiten vorangestellt.
Das Kapitel 2 im Umfang von 66 Seiten lautet: Kleinkind- und Vorschulalter und es umfasst 9 Unterkapitel, die wiederum jeweils mehrere Themen behandeln und das letzte Unterkapitel eine Zusammenfassung ist. Die Unterkapitel im Kapitel 2 sind: Sensomotorische Anfänge, Materialexploration, Gestalten, Deutung und ikonische Darstellung, Gegenständliches und plastisches Gestalten, Gestaltungstechniken und Gestaltungsprinzipien im späten Vorschulalter, Themenbereiche im freien, ungeleiteten Plastizieren des Vorschulkindes, Darstellung der menschlichen Figur.
Kapitel 3 befasst sich mit dem Thema Grundschulalter im Umfang von 77 Seiten. Die 8 Unterkapitel nach den Entwicklungspsychologischen Voraussetzungen lauten: Das plastische Gestalten nach dem Schuleintritt, Morphologische Kennzeichen der Plastiken Sechs- bis Elfjähriger, Formkategorien, Themen und Inhalte im Plastischen Gestalten, Darstellung der menschlichen Figur, Individuelle Schemata im plastischen Gestalten der menschlichen Natur, Projektive Aspekte im plastischen Gestalten des Grundschulkindes, Exkurs (zu Wahrnehmung und Objekterkennung).
Kapitel 4 stellt die Altersgruppe Spätes Schulkindalter und Adoleszenz auf 91 Seiten dar. Hier folgen nach den Entwicklungspsychologischen Grundlagen die 4 Unterkapitel: Das plastische Gestalten zwischen Schulkind- und Jugendalter, Das plastische Gestalten während der Pubertät, Das plastische Gestalten im späten Jugendalter Darstellung des Menschen mit den Punkten vom naiv-realistischen zum kritisch- realistischen Menschenbild, Identitätskrise und plastisches Menschenbild, Das plastische Menschenbild im späten Jugendalter. Auch hier gibt es wieder weitere Unterkapitel.
Kapitel 5 bietet auf 19 Seiten ein Resümee mit dem Thema Konsequenzen für die Kunstpädagogische Praxis. Empirische Studien auf 22 Seiten werden im 6. Kapitel behandelt, konkret sind des Studie 1 und Studie 2 des Autors Stefan Becker. Studie eins befasst sich mit dem plastischen Gestalten von Vorschulkindern und Studie 2 mit dem plastischen Gestalten im Schulkind- und Jugendalter zum Thema gestalte/​modelliere einen Menschen.
Kapitel 7 beinhaltet neben den o.g. Themen auch noch ein einseitiges Impressum, das neben den üblichen Angaben auch den Hinweis der Förderung durch die Kultur Stiftung Speyer enthält.
Inhalt
Das Buch ist übersichtlich aufgebaut und geht chronologisch und sehr strukturiert durch die Altersgruppen vom Kleinkind zum späten Schulkindalter/​adoleszenten Jugendlichen und seinen je altersentsprechenden Themen und Kompetenzen beim Gestalten und Modellieren mit Ton. Die Kapitel sind nach einer gleichen Ordnung untergliedert und dadurch sachlogisch übersichtlich und vergleichbar. Vorangestellt sind den Alterseinteilungen jeweils ca. acht Seiten entwicklungspsychologischer Grundlageninformationen, die zum weiteren Verständnis sehr hilfreich sind. Diese Informationen ermöglichen wertvolle Schlüsse, was gestalterisch/beim Modellieren thematisch und im Zusammenspiel der benötigten Ressourcen (körperlich-motorische, sozial-emotionale und kognitive Entwicklung) an Kompetenzen und Kapazitäten nach Altersstufen möglich und üblich ist. Vielfach werden auch Vergleiche zur wissenschaftlich bereits sehr viel früher und ausgiebig erforschten und dokumentierten Entwicklung der Kinderzeichnung hergestellt und die plastisch-gestalterischen Prozesse und Ergebnisse damit verglichen und vertieft analysiert. Alle Kapitel bieten eine Fülle an wesentlichen und wertvollen Informationen, deutliche Beschreibungen der beobachteten Arbeitsprozesse, Beobachtungsprotokolle und Ergebnisse in Form einer fotografischen oder gezeichneten Darstellung oder Grafik. Jedes Kapitel bietet eingängige Bilddokumentationen und ergänzend Fallbeispiele aus der Praxis.
Im Kapitel 2: Kleinkind und Vorschulalter, bietet z.B. das Unterkapitel 2.3 Bereich: Gestalten die Phase des „Etwas“-Gestalten (S. 43ff). Im dritten/​vierten Lebensjahr wird – analog zur Entwicklung der Kinderzeichnung – das einschneidende Erlebnis des „Etwas“-Gestaltens und die damit verbundenen Entwicklungsereignisse und -abfolgen beschrieben. Während die Zeichnung nach Hans Volkelt (1968) die Entwicklungsabfolge Linienknäuel, Strichfleck und Kringel aufweist, entstehen im plastischen Gestalten die Formausprägungen aufragendes, säulenähnliches Objekt und oval geschlossener Ring. Dazu ist je ein Bildbeispiel gegeben. Dieses „Etwas-“Gestalten wird als bedeutsames Ereignis für die Genese des gegenständlichen Formens dargestellt und zusammengeführt mit ästhetischen Gesamterfahrungen des Kindes. Verbale, motivationale, emotionale und sinndeutende werden konstituierend einbezogen. Konkret stehen Materialexplorationen funktionale und erste gliedernde Betätigungen in der Arbeit mit Ton nach Stefan Becker am Anfang dieser Entwicklungsphase. Diese führen ihm zufolge dann zu einem Umbruch im Verhalten und in der Einstellung zu der entstehenden Form, indem das Kind sich plötzlich „konzentriert, zielgerichtet, in sich ruhend und in gewisser Weise ergriffen von seinem Tun […mit dem Material Ton…] beschäftigt“ (S. 45) und ein Gebilde erzeugt, das keine Veränderung mehr erfahren soll, als Plastik das Stadium „fertig“ erreicht und sorgfältig aufbewahrt wird. Verbal ist das Kind als Produzent nicht interessiert oder in der Lage, auf Nachfrage von Erwachsenen oder Gleichaltrigen das Objekt zu erklären oder konkret zu benennen. Allenfalls freudige Kommentare sind nach Stefan Becker manchmal vom Kind selbst initiiert zu hören: „Schaut mal, ich habe etwas gemacht!“, wobei seine Genugtuung zum Ausdruck bringt aber das Werk oder den Prozess danach nicht näher erläutert, erklärt oder definiert. Hier wird nach Gantschewa (1930) die Komplexität eines Entwicklungsphänomens deutlich: Das Kind erlebt sich eindeutig als Produzent (eigenhändige Objektmanipulation). Die Benennung ist Gantschewa zufolge entweder als gedankliche Repräsentation noch nicht existent und daher nicht möglich oder das Kind ist aufgrund der motorischen und gestalterischen Fokussierung nicht interessiert an einer Deutung. Die teils suggestiven Nachfragen (erwachsener) Begleitpersonen werden von Kindern abgewimmelt oder ausweichend, und teils ärgerlich beantwortet. Als Entwicklungsschritt in Abfolge von sensomotorischen materialexplorierenden Spuren und Abformungen erreicht das Kind nach Jean Piaget mit der „Etwas-Gestalt“ ein frühes ordnendes Schema, das zunächst – verbal noch unbenannt – in die kognitive Struktur eingebaut wird und klassifizierend wirkt. Nach den zunächst zufälligen und schnell wieder zerstörten Materialexplorationen ist mit dieser Entwicklung ein gestalterisches Moment und eine ästhetische Erfahrung erreicht, selbst aktiv auf die Umwelt einwirken und damit künftig auch Sinndeutungen machen zu können.
Im Kapitel 3.8 Exkurs im Kapitel 3. Grundschulalter (S. 180ff) werden Geone als Grundformen der Objektrepräsentationen vorgestellt und anhand einer Zeichnung verdeutlicht. Gestaltungsprinzipien und Mechanismen der Erkennung von Gegenständen und Gestaltungsprinzipien werden hier für die Altersgruppe der vier- bis zehnjährigen untersucht. Arbeiten von Grundschulkindern orientieren sich nach Stefan Becker an Geonen und einer stetigen Zunahme der Anzahl, Kenntnisse und Gestaltungsvorliebe dieser Grundformen als Basis für die Gestaltung und Entwicklung von immer komplexeren Objekten. Auch hier werden einige Beispiele aufgezeigt, bei denen Verstand, Imagination und Feinmotorik zusammenwirken. Das damit einhergehende Phänomen des Top-Down und Bottom-Up Ansatzes zur Verarbeitung und Objekterkennung wird als Folgeentwicklung vorgestellt. Dieser Prozess wird im Verlauf dieser Phase bei elf-bis zwölfjährigen Kindern kognitionspsychologisch an die Phase im Übergang vom konkret-operationalen zum formal operationalen Denken eingeordnet.
Jedes Kapitel und jeder Abschnitt des Buches geben theoretisch fundierte Hinweise und konkrete Beispiele, die das Verständnis über das Plastische Gestalten bei Kindern fördern und zu einer umfassenden Kenntnis gestalterischer Prozesse und Kompetenzentwicklung beitragen. Zugrundeliegende motorische, entwicklungspsychologische und weitere erforderliche Fähigkeiten werden in ihrer Wechselwirkung jeweils anschaulich integriert. Der Anhang umfasst Tabellen/​Grafiken (S. 300–223) und ein alphabetisches Literaturverzeichnis (S. 324–339).
Diskussion
Das Buch Plastisches Gestalten von Kindern und Jugendlichen. Entwicklungsprozesse im Formen und Modellieren mit Ton von Stefan Becker überzeugt durch seinen Aufbau und die Inhalte. Umfangreiche Erfahrungen, Kenntnisse und sorgfältige Studien zeigen die komplexen Kenntnisse des Autors, der damit Grundlagen für die kunstpädagogische Arbeit legt und mit den entwicklungspsychologischen Studien wegweisende Erkenntnisse verknüpft. Somit zeigt er insbesondere für PädagogInnen und Lehrkräfte Grundlagen auf, die zu einem grundsätzlichen und ganzheitlichen Verstehen beitragen. In der weiteren Umsetzung werden auch Impulse zu didaktisch-methodisch achtsamer Heran- und Umgehensweise in der Gestaltungsarbeit angeboten. Die Einbeziehung der Entwicklung der Kinderzeichnung und die Diskussion von zwei- und dreidimensionalem Ausdruck in den verschiedenen Altersstufen ist ebenfalls erkenntnisreich und bietet Hilfestellung für die jeweils möglichen und wirksamen Angebote in Bezug auf die Entfaltung schöpferischer Kompetenz und das technische Potenzial der plastisch gestaltenden Kinder und Jugendlichen.
Insbesondere die Hinweise für den schulischen Kontext sind wesentliche Informationen über Möglichkeiten, Grenzen und auch Gefahren der Zerstörung künstlerischer Kompetenzen und Interessen beim Kind/Jugendlichen. Hinweise zu entsprechender Kommunikation, Themengestaltung und didaktischen Fragen nach Prozess- oder Produktorientierung werden fundiert und begründet dargestellt und durch eingängige Fallbeispiele und Fotodokumentationen nachvollziehbar unterlegt.
Fazit
Ein inhaltlich umfangreiches, qualitativ anspruchsvolles, hochwertiges und insgesamt wertvolles Handbuch über die Entwicklungsprozesse beim Formen und Modellieren mit Ton vom Kleinkindalter bis zur Adoleszenz. Wegweisenden Erkenntnisse für Möglichkeiten und Ansätze der künstlerisch-kreativen Gestaltungsarbeit der genannten Altersgruppen werden geboten. Die explizit dargestellten Studien mit jeweils differenzierten Forschungsfragen bieten eine Fülle an aktuellen/​aktualisierten wissenschaftlichen Hintergrundinformationen und implizit didaktischen Aspekten für einen achtsamen Praxistransfer, überzeugend sind auch die prägnanten Fallbeispiele, Abbildungen und komprimierten Thementabellen und Grafiken.
Rezension von
Svenja Rehse
M.A., Dozentin Pädagogik (Fach-/Hochschulen) und Kunsttherapie
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Zitiervorschlag
Svenja Rehse. Rezension vom 28.10.2024 zu:
Stefan Becker: Plastisches Gestalten von Kindern und Jugendlichen. Entwicklungsprozesse im Formen und Modellieren mit Ton. kopaed verlagsgmbh
(München) 2024. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-96848-114-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32609.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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