Peter Buttner: Soziale Diagnostik in der Psychiatrie
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 18.02.2025

Peter Buttner: Soziale Diagnostik in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2024. 200 Seiten. ISBN 978-3-8252-6322-5. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 37,50 sFr.
Thema
Das vom Psychiatrie Verlag in Köln in der UTB-Reihe herausgegebene Lehrbuch bietet eine fundierte Einführung in die Soziale Diagnostik in der Psychiatrie. Vermittelt wird, wie die psychosoziale Situation von psychisch erkrankten Menschen ganzheitlich erfasst und für die Planung und Gestaltung von Hilfen genutzt werden kann. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf partizipativer Diagnostik, welche die Sichtweise der Betroffenen fokussiert.
Autor
Prof. Dr. med. Peter Butter lehrt Sozialmedizin, Klinische Soziale Arbeit, Soziale Diagnostik, Ethik und Wissenschaftsphilosophie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften. Er ist u.a. Mitherausgeber des „Handbuchs Soziale Diagnostik“ Rezensiert bei socialnet [https://www.socialnet.de/rezensionen/​24134.php]
Zielgruppe
Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit.
Aufbau und Inhalt
Das Lehrbuch ist in die zwei Abschnitte „Grundlagen“ und „Praxis der Sozialen Diagnostik“ unterteilt. In den einzelnen Kapiteln werden neben einer Einleitung die Aspekte „Die Menschen in der Psychiatrie“, „Das psychiatrische Versorgungssystem“, „Psychiatrische Diagnostik“ (Abschnitt 1) und „Gesprächsführung“, „Anamnese“, „Lebenslauf“, „Soziale Beziehungen, Netzwerke“, „Ressourcen“, „Teilhabediagnostik“ und „Der soziale Befund“ (Abschnitt 2) aufgegriffen. Zusätzlich zur Printausgabe erhalten die Lesenden Zugang zu umfangreichem Downloadmaterial, u.a. einen längeren Begleittext zur Multiperspektivität in der Sozialen Diagnostik, Arbeitsmaterialien und Instrumenten, Checklisten und Fragebögen. Jedes einzelne Unterkapitel schließt mit Lern-Kontrollfragen und vertiefenden Quellenhinweisen und den Verweisen zum Downloadmaterial.
Grundlagen
Der Grundlagenabschnitt greift zunächst den Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und sozialen Phänomenen auf. Auf Basis des biopsychosozialen Modells und den Erkenntnissen des Vulnerabilitäts-Stress-Coping-Modells beschreibt Buttner die vielfältigen Auswirkungen einer psychischen Erkrankung auf soziale Zusammenhänge und umgekehrt. Soziale Diagnostik erschließt diesen Raum und bietet damit einen wichtigen Teil einer allgemeinen Diagnostik im Feld der Psychiatrie, sie ist „eine verdichtete Erfassung, Klärung und Bewertung von Situationen, wie sie typischerweise in der Arbeit … vorkommen“. Damit ist Soziale Diagnostik u.a. die Grundlage für sozialarbeiterisch-behandelnde Interventionen, die auf die (Wiederherstellung) der Passung zwischen (erkranktem) Individuum und Umwelt abzielt.
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit den „Menschen in der Psychiatrie“. Anders als vielleicht erwartet wird, folgt hier keine Darstellung der wichtigsten Krankheitsbilder in der Psychiatrie, sondern die Beschreibung von Interaktionsphänomenen zwischen Menschen, die behandelt werden und Menschen, die behandeln, den Angehörigen psychisch Kranker und Fragen der professionellen Haltung, die als authentische Empathie, Bindungsorientierung, Anerkennung und Achtung und Hoffnungsvermittlung knapp konzipiert wird.
Auf neun Textseiten folgen dann die Darstellung des psychiatrischen Versorgungssystems, inklusive eines kurzen historischen Exkurses und ein Überblick zur psychiatrischen Diagnostik, mit Darstellung der klassischen Diagnose- und Klassifikationssysteme und Hinweisen zum psychopathologischen Befund. Im Verhältnis psychiatrischer zu sozialer Diagnostik definiert Buttner die psychiatrische Diagnostik als „eine Randbedingung … etwas, das nicht im Zentrum der Bemühung steht, das aber auch nicht unbeachtet bleiben darf“ (64)
Praxis der Sozialen Diagnostik
Abschnitt B beinhaltet die eigentliche Thematik der Publikation, Verfahren und Instrumente der Sozialen Diagnostik in der Praxis. Dazu führt Buttner überblicksartig in die Thematik der Gesprächsführung ein, erläutert Gegenstand, Zielsetzung und Bedeutung der Anamnese als diagnostischem Teilschritt und leitet dann über in die biografische Diagnostik, Netzwerkanalysen und soziale Beziehungen, die Lebenslagediagnostik, Ressourcendiagnostik und Teilhabediagnostik. Im letzten Kapitel erfolgt eine gründliche Auseinandersetzung mit dem sozialen Befund, dessen allgemeine Charakterisierung, Inhalten und dem Aufbau von Befundberichten. Die einzelnen Themen, Verfahren und Instrumente werden großteils theoretisch fundiert, etwa mit dem Modell der Gesprächsstruktur nach Pantucek, das Lebenslagekonzept v.a. mit Bezug zum Konzept von Ingeborg Nahnsen, die Ressourcentheorie, oder dem Capability Approach (nach Amartya Sen). Die Theoriebezüge werden in allen Fällen in Bezug zur Praxis Sozialer Arbeit und den Anforderungen Sozialer Diagnostik gesetzt. Als konkrete Arbeitshilfen bietet Buttner dann jeweils eine Auswahl von Verfahren und Instrumenten, die teils aus der Sozialen Arbeit, teils aus anderen Bereichen des Gesundheitswesens (Medizin, Psychotherapie) stammen. Teilweise werden die Darstellungen durch Fallbeispiele illustriert, z.B. im Abschnitt zum Sozialen Befund.
Diskussion
Buttner will mit seinem Lehrbuch die „Logik des sozialen Blicks genauer … studieren“ (27) und mit einer gewissen Systematik angehen. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, „wer bzw. welche Berufsgruppe sozialdiagnostische Instrumente anwendet (ebd.)“. Entscheidend sei, ob der Einsatz sozialer Diagnostik „etwas bringt“ (ebd.). Verschwiegen wird hier, dass es, um soziale Diagnostik anwenden zu können, die richtigen, d.h. passenden Verfahren und Instrumente verwenden zu können voraussetzt, ein grundsätzliches wissenschaftliches Verständnis erworben zu haben, dass handlungswissenschaftlich begründetes Agieren (Diagnostizieren, Intervenieren, Evaluieren) sozialer Prozesse überhaupt erst möglich macht. Geht man vom Wissenskörper der Sozialarbeitswissenschaft aus, fällt Soziale Diagnostik damit der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit zu. Dort wird solch ein „sozialer Wissenskorpus“ vermittelt. Im Sinn inter- und multiprofessioneller Praxis stimmt allerdings auch, dass unterschiedliche Berufsgruppen soziale Diagnostik verstehen, anwenden, betreiben können müssen. Multiprofessionalität bedeutet allerdings nicht, dass „alle alles können (oder tun)“, sondern, dass es ein teambezogenes Wissen und Verständnis um die Beiträge aller Professionen geht und dies fachlich beurteilt, gewürdigt und kritisiert werden kann.
Peter Buttner richtet sein Buch an Ausbildungskandidat*innen Sozialer Arbeit, will in diesem Kontext ein Grundverständnis auf Basis disziplinären und professionellen Wissens vermitteln, öffnet gleichzeitig die Türe für andere Professionen. Aus Sicht des medizinischen Psychiaters ist das logisch und für die Leserschaft auch nachvollziehbar und entspricht auch in den meisten Fällen der sozialpsychiatrischen Praxis, andererseits zeigt sich hier die Grenze des Bandes: der Bezug auf sozialwissenschaftliche Grundlagen wird nicht durchgängig und an manchen Stellen nicht tief genug hergestellt, z.B. durch sozialarbeiterische Theorien, welche in ein Lehrbuch zur Sozialen Diagnostik in der Psychiatrie, geschrieben für „Soziale Arbeit in der Psychiatrie“ (Buchrücken) nicht nur gehören, sondern Ausgangspunkt für eine Soziale Diagnostik sein sollten. Die Schwerpunkte liegen stattdessen streckenweise deutlich in einem disziplinären Mix aus Psychiatrie, Psychotherapie, Pflegewissenschaften (die allerdings nicht explizit erwähnt werden) und Sozialarbeitswissenschaft. Letztere wird z.B. mit Verweis auf das Lebensführungssystem (Sommerfeld et al.) gut verankert, die zentrale Basis für diesen Bezugspunkt (der Lebensbewältigungsansatz von Böhnisch) jedoch ausgespart. Sozialdiagnostische Klassifikationssystematiken werden mit Verweis auf das Person-In-Environment-Classification-System (PIE) von Karls und Wandrei zwar angerissen, das Kernstück dieses Klassifikationssystems, die Fokussierung auf soziale Rollenprobleme, deren Intensität, Dauer und die bisherigen Bewältigungsversuche bleiben jedoch unerwähnt, stattdessen ausschließlich auf die Stärken des PIE im Bereich der Erhebung von Umgebungsbedingungen verwiesen (189). Die vorgestellten Instrumente sind entsprechend eine Auswahl, gleichwohl anspruchsvoll, etwa wenn auf psychodramatisch-diagnostische Übungen verwiesen wird, welche am „Kipppunkt zwischen Diagnostik und Therapie“ verortet werden.
Manche, in der Praxis der Sozialen Arbeit weit verbreitete Instrumente und Verfahren bleiben in Buttners Lehrbuch unerwähnt: die Diagnostik mit dem Mehrebenenraster, das Mehrperspektivenraster, Ansätze zur Motivationsdiagnostik, die soziale Verhaltensdiagnostik, die Zielerreichungsanalyse oder der Bereich der Bindungsdiagnostik. Allerdings: dem Konzept der UTB-Reihe und dem Aufbau des Lehrbuchs folgend hätte dies den Umfang des Werks sicher überstrapaziert. Aber: Peter Buttner gibt am Ende jeden Kapitels Hinweise zu den verwendeten Quellen, zu weiterführender Literatur, sowie zu Internetquellen, womit die losen Enden der diagnostischen Vielfalt im Bereich der Sozialen Arbeit zusammengeführt und für das Selbststudium erschlossen werden. Auffallend ist das partizipative Verständnis, der an Beteiligung der Betroffenen Menschen orientierte Ansatz im diagnostischen Ansatz Buttners. Hier finden sich vielfache Grundlagen, Begründungen und methodische Hinweise, wie Patient*innen der Psychiatrie in den diagnostischen Prozess als eigenständige und eigensinnige Expert*innen ihrer Lebenssituation einbezogen werden können, bis hin zu konkreten Instrumenten und Arbeitsansätzen. Das Dilemma der Sozialen Diagnostik und damit der gesamten Sozialen Arbeit besteht darin, dass es in Disziplin und Profession keinen verbindlich vereinbarten Konsens bezüglich diagnostischer Verfahren und Instrumente gibt. Stattdessen finden sich vielfältige, ähnliche, z.T. auch völlig konträre diagnostische Ansätze, die in der Praxis Anwendung finden. Das Lehrbuch zur Sozialen Diagnostik in der Psychiatrie könnte hier einen fachlichen Standard definieren, der entsprechend theoretisch begründet und mit Fallbezug angewendet werden soll. Das Werk ist in diesem Sinn ein wichtiger Diskussionsbeitrag um die Ausstattung und Verbindlichkeit Sozialer Diagnostik in der Ausbildung und in Folge auch in der Praxis.
Didaktisch besticht der Band durch eine angemessene einfache Sprache, vertiefende Übungsfragen am Ende der einzelnen Kapitel, passende Fallbeispiele zur Veranschaulichung der Inhalte und umfangreiches Arbeitsmaterial im Downloadbereich des Verlages, das zusätzlich mit einem bereits früher veröffentlichen Text Buttners zu Multiperspektivität in Sozialer Diagnostik und Intervention ergänzt wird.
Fazit
Ein gut lesbares, didaktisch gut aufgebautes Werk zur Sozialen Diagnostik im Arbeitsfeld der Psychiatrie. Als Lehrbuch vermittelt der Band eine Einführung in den Gegenstand psychosozialer Hilfen und erschließt eine Auswahl an Grundlagen für die Planung und Gestaltung sozialer Interventionen im anspruchsvollen Arbeitsfeld der Psychiatrie.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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