Tim Engartner: Raus aus der Bildungsfalle
Rezensiert von Peter Flick, 07.02.2025

Tim Engartner: Raus aus der Bildungsfalle. Warum wir die Zukunft unserer Kinder gefährden. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2024. 240 Seiten. ISBN 978-3-86489-452-7. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Wenn rund 50 000 Jugendliche jedes Jahr die weiterführende Schule ohne Abschluss verlassen und jedes fünfte Kind von der Grundschule abgeht, ohne den Mindeststandard im Rechnen, Schreiben oder Lesen zu erreichen, dann läuft etwas gründlich schief in der „Bildungsrepublik Deutschland“.
Auch wenn diese desaströse Entwicklung im aktuellen Wahlkampf offensichtlich keine Rolle spielt, fordert der Autor eine von Bund und Ländern koordinierte Bildungsreform, die sich an einem humanistischen Bildungsbegriff orientieren müsste. Angesichts der „explosionsartigen Wissensvermehrung erscheint ihm dieser Begriff „zeitgemäßer denn je“ (40).
Autor
Tim Engartner ist Professor für Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt ökonomische Bildung an der Universität zu Köln. Mit Beiträgen für die ZEIT, die FAZ und andere große deutsche Zeitungen hat sich der Autor immer wieder in die aktuelle Bildungsdiskussion eingemischt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch hat den Charakter einer Streitschrift. Zugunsten der Lesbarkeit verzichtet Engartner auf die üblichen Fußnoten und ein Literaturverzeichnis.
1 Baustellen der Bildungsrepublik (9 ff.)
Kapitel 1 vermittelt einen Überblick über die Problembereiche deutscher Bildungspolitik: es beginnt mit einem europäischen Vergleich, der die chronischen Unterfinanzierung der Bildung in Deutschland belegt, führt weiter zum Thema Digitalisierung der Bildung und endet bei den „systematischen Verfehlungen der Bildungspolitik“, wie dem schleppenden Ausbau der Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen und der mangelhaften räumlichen und personellen Ausstattung der Schulen und Universitäten. Dies wird dann in den Folgekapiteln vertieft dargestellt.
2 »Humboldt adé« – oder: Was wir heute Bildung nennen (29 ff.)
„Humboldt adé“ (Kapitel 2) formuliert eine Kritik an den politisch Verantwortlichen, die Bildung zunehmend an markt- und erfolgsorientierten Leistungskriterien misst. Statt sich in der Schul- und Universitätsreform am gesetzlich verankerten humanistischen Bildungsauftrag zu orientieren, dominiere vielmehr ein utilitaristisches Denken, für das allein Praxisbezüge und praktische Verwertungsinteressen zählen. Die Realität des Schulalltags habe sich inzwischen sehr weit von einem Humboldt’schen Bildungskonzept entfernt, in der Schule und Universität als Raum für eine Erprobung individueller Fähigkeiten gedacht wurden.
3 Von Kitastrophe über unzureichende Ganztagsbetreuung bis zu unterfinanzierten Hochschulen (67 ff.)
Eine quantitativ und qualitativ unzureichende Ganztagsbetreuung in Kitas verhindere nach wie vor jede Planungssicherheit für berufstätige Eltern (68 ff.) Von der „chronischen Unterfinanzierung der Universitäten“ (vgl. 87 ff.) sei besonders die universitäre Lehre betroffen. Unter den „nicht planbaren Lehr- und Prüfungsaktivitäten“ würden nicht nur die Beschäftigten leiden, sondern „gerade auch die Studierenden“ (89) und die Qualität der Lehrerausbildung.
4 Keine schöne neue Schulwelt (103 ff.)
Beim Anblick verdreckter Schultoiletten und fehlender Räume für Theater-, Musik- und Sportunterricht suche eine einkommensstarke Mittelschicht immer mehr ihr Heil in der „schönen neuen Schulwelt“ von Privatschulen und Internaten. Um diesen fatalen „Boom der Privatschulen“ (166 ff.) zu stoppen, müssten staatliche Schulen, was die „bauliche, personelle und pädagogische Ausgestaltung“ (186) angeht, im Wettbewerb mit privaten Schulen wie „Schloss Salem“ oder dem „Eton-College“ bestehen können.
5 Der Weg zurück zur Bildungsrepublik – oder: Zehn Forderungen für eine Renaissance der Bildung (189 ff.)
Engartners „zehn Forderungen für eine Renaissance der Bildungsidee“ lauten:
„Trennendes ausblenden, Unstrittiges angehen“ (191 ff.)
Eine breite bildungspolitische Reformkoalition müsse die Gemeinsamkeiten und nicht das Trennende suchen. Zwei „Bremsklötze“ (192) für eine umfassende Bildungsreform macht der Autor aus: die föderale Zuständigkeit der Länder und eine fragwürdige Bildungsdidaktik, die eine problematische „Abkehr von einem klassischen Bildungskanon mit etablierten Wissensbeständen“ propagiere, verbunden mit einem weitgehenden „Verzicht auf jede Form der Prüfungskultur“ (193), was diejenigen benachteilige, die auf Bildung durch Anstrengung setzten.
„Mehr Geld für Bildung“ (195 ff.) und „Bildungspolitik als präventive Sozialpolitik (200 ff.)
Der Autor sieht zwei Möglichkeiten, um erhöhte Bildungsausgaben zu generieren: einmal Umschichtungen im Haushalt, etwa durch den „Abbau von Subventionen in anderen Bereichen wie der Rüstungs- oder Agrarindustrie“ oder eine Finanzierung durch einen „Sonderhaushalt Bildung“. Nur so könnte eine „verlässlichen Bildungspolitik“ ihre Funktion als „präventive Sozialpolitik“ wahrnehmen und einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leisten.
„Kostenfreie Kunst- und Kulturangebote“ (206 ff.) und „Bildung weder instrumentalisieren noch privatisieren“ (213 ff.)
Schulen sollten sich für ihre soziale Umgebung und ihre Kulturangebote öffnen und durch kostenfreie Museumsbesuche und andere Kunst- und Kulturangebote könnte der Staat hier einen wichtigen Beitrag leisten. Die Flucht in die Privatschulen wiederum könne nur durch ein attraktives Lernangebot staatlicher Schulen gestoppt werden, das zu dem der Privatschulen konkurrenzfähig wäre.
Bestmögliche Studienbedingungen schaffen (221 ff.) und Bindungs- und Erziehungsarbeit stärken“ (223 ff.)
Die materielle Unterstützung der Studierenden müsste verbessert und die universitäre Lehre gegenüber der Forschung wieder gestärkt werden. Nicht zuletzt auch um diejenigen unter den Studierenden anzusprechen, die von ihren persönlichen Fähigkeiten her für den Lehrerberuf geeignet sind.
„Ganztägige Bildungsangebote ausbauen“ (225 ff.) und „Kinder und Jugendliche vor Digitalisierung schützen“ (227 ff.)
Wenn die Schule als Lern- und sozialen Schutzraum funktionieren soll, müsste ein verlässliches, von professionelle Fachkräften geleitetete Ganztagsbetreuung in den Kitas und Schulen zum Standard werden, die dann auch in der Lage wäre, die digitale Bildung in ein pädagogisches Konzept einzubinden und Kinder (besonders im Grundschulbereich) so vor einer von Tech-Konzernen geförderten Digitalisierung der Bildung auch zu schützen.
Unsere Demokratie durch Bildung stärken (231 ff.)
Wenn der Populismus durch seine Absage an die „Zumutungen des Lernens“ eine Gefahr für die Demokratie darstellt, dann kommt nach Meinung des Autors einem Unterricht besondere Bedeutung zu, der die kritische Auseinandersetzung mit manipulativen Methoden „sachlich inkorrekter, unzulässig verkürzten Informationen und antiaufklärerischen Positionen“ (233) zum Inhalt hat. Die Notwendigkeit eines „grundständigen historischen Wissens“ (238) wird im folgenden Epilog (237-239) nochmals bekräftigt.
Diskussion
Man muss nicht allen Argumenten des Autors zustimmen, so etwa seinen Ausführungen zu einem klassischen Wissenskanon oder zum Niedergang der schulischen Leistungskultur in Deutschland., um zu erkennen, wo er mit seiner Kritik ins Schwarze trifft:
Es kann auf Dauer nicht gut gehen, bei immer heterogeneren Lerngruppen und immer häufiger auftretenden psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen, den Kitas und Schulen ständig noch mehr Aufgaben aufzubürden (von der Demokratiebildung bis zur pädagogischen Umsetzung der Inklusion und der digitalen Bildung), ohne dabei etwas an ihrer personellen und räumlichen Ausstattung zu verändern.
Statt sich weiter in punktuellen Förderprogrammen zu verzetteln, wäre eine koordinierte Bildungsreform durch Bund und Länder notwendig, die sich an den Herausforderungen einer Einwanderungs- und Wissensgesellschaft orientiert. Dazu fehlt es derzeit im öffentlichen Bewusstsein an Empathie und politischer Bereitschaft, sich dem Berg an Problemen im Bildungsbereich zu stellen, statt ihn weiter vor sich herzuschieben.
Fazit
Mit seinen polemischen Zuspitzungen bietet das Buch Tim Engartners einen guten Einstieg in die notwendige Debatte über die bestehenden „Baustellen“ des deutschen Bildungssystems, die sich im Bereich der Kitas und frühkindlichen Bildungsangebote ebenso finden lassen wie in der Schule und Universität.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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