Thomas Fuchs: Psychiatrie als Beziehungsmedizin
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 18.10.2024

Thomas Fuchs: Psychiatrie als Beziehungsmedizin. Ein ökologisches Paradigma. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 221 Seiten. ISBN 978-3-17-036845-3. 22,00 EUR.
Thema
In Fortsetzung und Erweiterung seiner Monographie „Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption“ aus dem Jahr 2007 verdichtet Fuchs nun 16 Jahre später seine Hypothesen zu einem neuen Paradigma für die Psychiatrie in Forschung und klinischer Theorie. Das Konzept einer reduktionistischen Biomedizin soll überwunden werden durch das Aufdecken von Fehlannahmen und Aufzeigen von Alternativen. Fuchs fasst die Theoriekonzeption der Psychiatrie neu, indem er einerseits die ökologische Denkweise in der Tradition Jakob von Uexkülls, andererseits die phänemenologisch-subjektbezogene Psychiatrie in der Tradition Heideggers und Jaspers und schließlich die relativ neuen epistemologischen Konzepte von Autopoiesis, Selbstregulation und zirkulärer Kausaltät verbindet. Er zeigt etwa, wie durch die Erweiterung des impliziten Beziehungswissens von Patienten eine Verbesserung der psychiatrischen Behandlungsresultate erreicht werden kann. Psychiatrische Therapie umfasst nach Fuchs immer auch die Verbesserung der Selbstwahrnehmung, der Beziehung zum eigenen Körper undzur interpersonellen Umwelt. Der bloßen Verabreichung von Medikamenten (als heutiger Haupttherapieform) steht er skeptisch gegenüber.
Autor
Prof. Dr. med. et phil. Thomas Fuchs (*1958) ist Karl Jaspers Professor für die philosophischen Grundlagen der Psychiatrie an der Universität Heidelberg und dort auch Leiter der Sektion phänomenologische Psychopathologie sowie tätig als Oberarzt. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Anthropologie, Psychiatrie und Psychotherapie (DGAP) und gibt die Zeitschrift »Psychopathology« heraus.
Entstehungshintergrund
Fuchs‘ Konzeption steht quer zum Mainstream der Psychiatrischen Forschung, die auf molekular-biologischem und genetischem Feld der Neurobiologie Erklärungen für psychische Erkrankungen zu finden hofft und zur psychopharmakologischen Zielsyndrompsychiatrie. Er betrachtet die systemischen Interaktionen zwischen Gehirn, Subjekt, Körper, Beziehungswelt und Kultur. Lediglich die Macht der pharmazeutischen Industrie und des bürokratischen Gesundheitssystems scheinen an ihm vorbei zu gehen.
Sein Anspruch eine neue Methodologie zu entwerfen bringt sehr komplexe erkenntnistheoretische Fragen mit sich die ich hier nur anreißen kann.
Aufbau/Inhalt
Die Kapitelüberschriften bezeichnen anschaulich die Intention des Autors
Warum die Psychiatrie ein neues Paradigma braucht
Der Autor bescheibt eine Theoriekrise der Psychiatrie. Der biomedizinische Reduktionismus, mit seiner Wahrnehmungsverengung auf das Gehirn (molekularbiologisch wie genetisch) ist ebenso an seine Grenzen gestoßen, wie das biopsychosoziale Modell, da nie eine fundierte Forschungspraxis etablieren konnte. Für ein neues Paradigma fordert Fuchs: Subjektivität als Grundlage/weder Dualismus noch EpiphänomenalsismusI/Explatorischer Pluralismus zur Erreichung eines gegenstands-angemessenen Settings vor allem für Phänomene, die sich nicht direkt beobachten lassen.
Verkörperte Kognition: Das Paradigma der»5E Cognitionen«
Es werden die Ergebnisse einer neuen Kognitionswissenschaft beschrieben die über die herkömmlichen »Theory of Mind« hinausgehen, vor allem in Bezug auf die Abhängigkeit mentaler Leistungen von körperlichen und emotionalen Voraussetzungen. Voraussetzung sind häufig Ergebnisse der empirischen Säuglingsforschung (z.B. das Still Face Experiment von Tronick) oder der Bindungsforschung.
Mit den Dimensionen
- Embodied (körperlich eingeschrieben);
- Enactive (handelnd);
- Extended (ausgedehnt);
- Embedded (eingebettet);
- Emotive (verkörpert emotional)
werden jeweils die psychopathologischen Konsequenzen der Sichtweise durchgespielt.
Verkörperte Subjektivität
- Selbstorganisation des Lebendigen,
- Doppelaspekt von Leib und Körper (Körper haben, Leib sein),
- Wirksamkeit des Subjektiven,
- Zur Dichotomie von Erklären und Verstehen,
- zirkuläre Kausalität,
- Wirksamkeit von verkörperter Subjektivität,
- Diachrone Zirkularität von Prozess und Struktur,
- Selbstbestimmung: Modifizierung der Spirale.
Anschaulich wird erklärt, wie etwa kulturelle Wertungen, die Macht der sozialen Medien, subjektives Körpergefühl zur Epidemie von Essstörungen in westlichen Ländern beiträgt und noch mehr in Kulturen im Prozess der Entwicklung zu »Konsumgesellschaften«. Im Unterschied dazu, sieht er die Körperstörungen im Rahmen einer Hysterie um 1900 in einem gänzlich anderen symbolisch-kulturellem Kontext. Noch anders verhält es sich mit einer Katatonie, wie sie heute fast nur noch in traditionellen Gesellschaften zu sehen ist, oder bei Migranten in westlichen Zuwanderungs-gesellschaften die nicht mehr im Geltungsraum ihres ursprünglichen kulturellen Umfelds leben.
Das verkörperte Subjekt in Beziehungen
- Verkörperte Intersubjektivität,
- Dynamische Kopplung, Zwischenleiblichkeit,
- Ökologie des Lebensraums,
- ökologische Psychopathologie
„Psychische sind danach grundsätzlich Störungen der leiblichen, zwischenleiblichen und sozialen Existenz. Sie lassen sich als spezifische Abwandlungen des Beziehungsfelds einer Person auffassen, das durch beeinträchtigte oder misslingende Interaktion charakterisiert ist“(S. 120).
Ein integriertes ökologisches Paradigma
Hier beschreibt Fuchs auf 50 Seiten Veränderungsoptionen im Rahmen der psychiatrischen und psychotherapeutischen Diagnostik und Therapie. Ebenen sind Somatotherapie, Selbstregulation, Psychotherapie, Therapie der sozialen Systeme als Eingriffe in zirkuläre Prozesse und Wirksamkeit des zirkulären Prozesses selbst
Resümee: Psychiatrie als Beziehungsmedizin
- Störungen des verkörperte Selbst in der Beziehung;
- Untersuchung des »Dazwischen« in zirkulären Kausalitäten erfordert vor allem die Überwindung der bisherigen Praxis einer störungsspezifischen operationalisierten Diagnostik dem eine psychiatrische Intervention auf der Ebene der Zielsyndrome folgt.
Ein Literaturverzeichnis, ein Sachregister und ein Personenregister schließen das Werk ab.
Diskussion
Versuche, disparate Theorie-Entwürfe zu einer Synthese zu integrieren, hat es in der Vergangenheit verschiedentlich gegeben. Diese gingen nicht unbedingt von einer methodologisch reflektierten Wissenschaftspraxis aus, sondern vielfach von praktischen Erfordernissen. Klaus Dörners „Psychiatrie ist immer auch Sozialpsychiatrie (und Psychotherapie), oder sie ist keine Psychiatrie“ (1972) ist ein solcher Integrationsversuch. Sein (und Uschi Plogs) Lehrbuch Irren ist menschlich [1] integriert unterschiedliche Theoriegestützt über eine veränderte Praxis, nämlich eine radikale Veränderung der Sicht des Patienten und der Angehörigen; diese sollen nicht mehr Objekt therapeutischer Bemühungen sein sondern Gestalter ihrer eigenen Realität.
Luc Ciompi legt mit »Affektlogik« (1982) und »fraktale Affektlogik« (1997) eine epistemiologisch neue, von Chaos- und Systemtheorie beeinflusste Sicht auf psychische Krankheiten vor; speziell die schizophrenen Phänomene.
Thomas Fuchs geht über diese Versuche hinaus und legt ein neues Paradigma für die Psychiatrie vor, eines, das radikal bricht mit der Perspektive einer reduktionistischen Neuropsychiatrie, die meint, der Schlüssel zum Verständnis psychischer Krankheiten sei auf molekularer Ebene zu finden. Auch die Analogie zum Computer weist er mit überzeugenden Argumenten zurück. Es gibt keine künstliche Intelligenz.
Im Zentrum steht eine aufregend neue Sichtweise auf die psychische Entwicklung (die Peter Fonagys Positionen nahe steht): Diese Perspektive ist radikal intersubjektiv, verkörpert und also immer bezogen. Monadische Entwicklung ist so wenig möglich wie Fühlen ohne Körpererfahrung. Diese Erfahrung ist immer subjektbezogen, woraus folgt, dass alle Erfahrung aus Begegnungen resultiert.
Offen bleibt nur die Frage, warum unsere Psychiatrie weiterhin in einem so schlechten Zustand ist; deren Relevanz scheint außerhalb des psychiatrischen Denkens zu liegen. Ich vermute, dass Fallpauschalen und andere bürokratisierte »Vergütungssysteme« sowie eine ausufernde Dokumentationspflicht heute mehr Einfluss auf die psychiatrische Praxis haben als die psychiatrische Wissenschaft.
Fazit
Ein neues Paradigma für die psychiatrische Wissenschaft soll die Krise der Psychiatrie überwinden helfen. Es handelt sich um eine überaus anregende Lektüre, die dem methodologischen Anspruch Karl Jaspers gerecht wird. Das Buch ist auch zu lesen als Einführung in die Methodologie der Humanwissenschaften. Psychologen, Pädagogen und die Angehörige aller helfenden Berufe werden von der Lektüre profitieren.
Literatur
Ciompi (1982): Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung. Stuttgart: Klett-Cotta
Ciompi (1997) Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Klaus Dörner (1972): Einleitung. In: Klaus Dörner und Ursula Plog, Hrsg. Sozialpsychiatrie. Neuwied: Herrmann Luchterhand Verlag, S. 7–20
Dörner, Klaus und Ursula Plog (1984): Irren ist Menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie Psychotherapie 1984. 606 Seiten 2. Auflage, Bonn: Psychiatrieverlag
Peter Fonagy, György Gergely, Elliot L Jurist, Mary Target (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta; 7. Aufl. 2019
Karl Jaspers (1913): Allgemeine Psychopathologie, Berlin: Springer
Hans J. Weitbrecht (1963): Psychiatrie im Grundriss, Berlin: Springer
[1] Es erscheint in der 2. Auflage erstmals textidentisch auch im Thieme-Verlag in Leipzig, DDR, eine Integrationsleistung die über 30 Jahre nicht für möglich gehalten wurde. Meine psychiatrische Chefin hatte sich noch 1984 geweigert eine These von Hans J. Weitbrecht mit mir zu diskutieren, weil es sich dabei um westliche Entstellungen handeln würde, die mich verwirren müssten. Auch Ideologien beeinflussen die Theoriebildung.
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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