Linda Giesel, Jens Borchert (Hrsg.): Der Rechtsstaat im Kampf gegen Antisemitismus
Rezensiert von Ronny Noak, 03.06.2025

Linda Giesel, Jens Borchert (Hrsg.): Der Rechtsstaat im Kampf gegen Antisemitismus. Perspektiven auf Polizei, Justiz und Strafvollzug.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
194 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7762-9.
D: 35,00 EUR,
A: 36,00 EUR.
Reihe: Antisemitismus in institutionellen Kontexten. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779962243. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779966661. In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779973294.
Thema
Im Jahr 2024 registrierten die Behörden in Deutschland mehr als 5.000 antisemitische Straftaten. Diese Anzahl verdeutlicht, wie erschreckend groß antisemitische Einstellungen und Handlungen in der deutschen Gesellschaft verbreitet sind. Einen Einblick, wie diese antisemitischen Äußerungen und Handlungen durch Polizei und Staatsanwaltschaft sowie Justiz und Strafvollzug erfasst, bearbeitet, verfolgt und geahndet werden, gibt der vorliegende Band. Er legt den Fokus damit „auf rechtsstaatliches Handeln in Institutionen (…), die sich mit deviantem und delinquentem Verhalten befassen und dieses zurückweisen.“ (S. 185)
Herausgeber:in und Autor:in
Die promovierte Herausgeberin Linda Giesel verantwortet die Koordinierungsstelle des Landesgleichberechtigungsgesetzes der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin. Zudem war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsprojekt „Antisemitismus im Jugendstrafvollzug – Empirische Forschung und Prävention“ an der Hochschule Merseburg tätig.
Der Herausgeber Jens Borchert ist Professor an der Hochschule Merseburg und lehrt hier im Fachbereich Sozialarbeitswissenschaft mit dem Schwerpunkt Kriminologie. Er führte zudem bereits mehrere Projekte zur politischen Bildung sowie zur Prävention von Antisemitismus in der Haft durch.
Zu den Autor*innen des Bandes zählen sowohl Forschende aus dem Themenbereich der Antisemitismusforschung wie Friederike Lorenz-Sinai oder Colin Kaggl, aber auch Praktiker*innen, vor allem aus dem Feld der politischen Bildung wie beispielsweise Jona Schapira. Mit Thomas Kluger publiziert in dem Band zudem ein Richter eines Landesgerichtes. Durch Samuel Salzborn ist nicht nur ein weiterer Hochschullehrer, sondern auch der Antisemitismusbeauftragte des Landes Berlin vertreten. Er repräsentiert damit die Bindegliedfunktion zwischen Wissenschaft und praktischer Arbeit gegen Antisemitismus.
Aufbau und Inhalt
Den Auftakt zum Band macht eine Einleitung, die in das Themenfeld einführt und die Beiträge knapp zusammenfasst. Die sich daran anschließenden fünf Beiträge fokussieren sich auf das Themenfeld Polizei und Antisemitismus. Die beiden Beiträge von Salzborn und Kaggl et al. geben dabei Einblick, wie antisemitische Straftaten erfasst werden. Sie berichten über verschiedene staatliche Erfassungsmethoden und zeigen aber darüber hinaus, wie wichtig die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure – allen voran die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) auf Bundes- sowie verschiedenen Länderebenen, um die Dunkelziffer zu erhellen. Dies ist für den Band besonders wichtig, da einige der Beiträge genau auf diese Probleme zurückgreifen und immer wieder Wege aufzeigen, wie die Dunkelziffer weiter erhellt werden kann bzw. warum es zu keinen Anzeigen im Bereich des Antisemitismus kommt. Daneben geben in diesem Abschnitt zwei Beiträge Auskunft über antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Einen besonderen Einblick gibt der Beitrag von Lorenz-Milord und Steder. Sie zeigen wie die Berliner Polizei in einem Projekt für Antisemitismus sensibilisiert worden ist. Da das Thema Antisemitismus beispielsweise im Curriculum der Ausbildung aber nur eine untergeordnete Rolle spielt zeigt sich, so die Autoren, dass „viele Befragten (…) teilweise deutliche Schwierigkeiten (hatten), aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus (…) zu erkennen und einzuordnen.“ (S. 61).
Ein ganz ähnliches Ergebnis im Umgang mit Antisemitismus bei der Justiz zeigt sich in den folgenden Beiträgen. So konstatiert der Aufsatz von Hendlmeier, der sich mit den Erfahrungen von Betroffenen antisemitischer Straftaten durch die Justiz befasst, dass oftmals der Eindruck entsteht „antisemitische Tatmotivation aus der Verhandlung rauszuhalten.“ (S. 85). Dabei wird der häufige Kausalzusammenhang übersehen, dass einige Straftaten (beispielsweise der Diebstahl einer Davidstern-Kette) ohne antisemitische Motivation gar nicht entstehen würden.
Nach Polizei und Justiz befasst sich der dritte Teil des Bandes mit dem Strafvollzug. In gleich zwei Beiträgen berichtet dabei Giesel aus ihren Erfahrungen aus dem Kooperationsprojekt „Antisemitismus im Strafvollzug – Empirische Forschung und Prävention“. Dabei werden unter anderem antisemitische Äußerungen und ihre Funktionen in Stätten des Strafvollzugs untersucht. Dabei kann die Autorin einhellig zeigen, dass diese Äußerungen neben der Abwertung von Juden und Jüdinnen anderweitige Funktionen erfüllen. Zum einen stellen sie die Manifestation einer Rangordnung dar, wobei Juden und Jüdinnen im Haftkontext offenbar weit unten angesiedelt sind. Zum anderen kann anhand quantitativer Interviews gezeigt werden, dass der Antisemitismus auch zur Verbrüderung von Inhaftierten und Bediensteten führen kann und so eine Möglichkeit darstellt das Machtgefüge aufzulösen, wenn beispielsweise gemeinsam über antisemitische Witze gelacht wird. Außerdem zeigt sich, dass Antisemitismus nicht nur bei Inhaftierten, sondern auch bei Wärtern eine manifeste Einstellung sein kann, deren Auflösung wiederum Bildungsmaßnahmen für beide Gruppen benötigt.
Abgeschlossen wird der Band mit einem alle Beiträge zusammenfassenden Beitrag, der noch einmal die Kernhypothesen darlegt und schließlich aber auch Handlungsempfehlungen ausgibt, damit das Problem Antisemitismus bei den genannten staatlichen Institutionen nicht kleingeredet wird und eine stärkere kontextuelle Beachtung findet.
Diskussion
Obwohl der Band die staatlichen Behörden Polizei, Justiz und Strafvollzug im Untertitel trägt, kann er – und dies ist besonders positiv hervorzuheben – immer wieder aus der Perspektive der Betroffenen antisemitischer Taten berichten. Von ihnen ausgehend berichtet der Band über Erfahrungen die Menschen machen, wenn sie mit Antisemitismus konfrontiert werden. Die Erfahrungen können dabei von Bagatellisierung und Nicht-Beachtung bis Verständnis und Verfolgung führen. Leider tritt ersteres – so kann der Band an mehreren Stellen durch quantitative Interviews mit Jüdinnen und Juden zeigen – viel zu häufig auf. Bei gewissen Betroffenen hat bereits eine Resignation eingesetzt, was wiederum dazu führt, dass Taten nicht entsprechend verfolgt werden, weil sie schon gar nicht mehr angezeigt werden.
Wie wichtig damit stete politische (Erwachsenen-)Bildung dabei nicht nur für eine Gesellschaft, sondern auch für staatliche Institutionen ist, kann beispielsweise der Beitrag von Lorenz-Milord und Steder (dessen Biografie leider nicht unter den Mitwirkenden auftaucht) zeigen. Die Autoren stellen heraus, dass es sich beim Antisemitismus um ein sich stetes wandelndes Phänomen handelt, das auch im Curriculum der Polizeiausbildung vorkommen sollte, da er bisher „zumindest hinsichtlich der Wahrnehmung von Antisemitismus ein Spiegelbild der Gesellschaft ist“ (S. 63). Dies bedeutet, dass er eher verharmlost wird.
Es ist dem Band dabei hoch anzurechnen, dass er Antisemitismus nicht als statisches Phänomen, sondern als sich wandelndes Vorurteil gegenüber Juden und Jüdinnen bzw. in der Form des antiisraelischen Antisemitismus gegen den Staat Israel richtet. Gerade diese Offenheit gegenüber dem Begriff macht es erst möglich Licht ins Dunkle zu bringen. Der Band kann damit in Ansätzen dazu beitragen, dass das Dunkelfeld etwas erhellt wird. Dies geschieht – obwohl der Band eigentlich staatliche Stellen fokussiert – durch den steten Einbezug der Zivilgesellschaft und anderer Monitoringstellen, wie beispielsweise RIAS.
Schließlich zeigt der Band auch an einigen Stellen Handlungsstrategien auf. Die wichtigste ist dabei sicherlich die Bildung (welche einer entsprechenden Finanzierung bedarf), dazu treten aber auch Sensibilisierung, Austausch, Solidarität und eine wachsame Zivilgesellschaft, die sich dem Problem in Kooperation mit Polizei, Staat und Justiz annimmt. Der Band zeigt hier, dass das sicher noch ein langer Weg ist. Er lässt einen aber keinesfalls hoffnungslos zurück.
Es wäre zudem zu wünschen, dass die Ergebnisse bald mit anderen Nationen verglichen werden können, um dem transnationalen Antisemitismus auch eine transnationale Erwiderungsstrategie – zumindest auf europäischer Ebene – entgegensetzen zu können. Die Beiträge bieten dafür ausreichend Anstöße.
Das Buch „Der Rechtsstaat im Kampf gegen Antisemitismus“ bietet eine tiefgreifende Analyse der juristischen und gesellschaftlichen Herausforderungen im Umgang mit antisemitischen Tendenzen in Deutschland. Die Autor*innen zeigen auf, welche verschiedenen Herausforderungen auf unterschiedlichster Ebene bei der Verfolgung und Bestrafung antisemitischer Straftaten bestehen. Sie plädieren dabei insgesamt für eine konsequente Anwendung rechtsstaatlicher Mittel und eine klare Haltung der Justiz gegenüber antisemitischen Straftaten.
Fazit
Insgesamt verdeutlicht das Werk, dass der Rechtsstaat eine zentrale Rolle im Schutz demokratischer Werte und im Kampf gegen jede Form von Judenfeindlichkeit spielt – von den Betroffenen aber noch viel zu oft nicht als verständnisvoller und sensibilisierter Akteur wahrgenommen wird.
Rezension von
Ronny Noak
Doktorand am Lehrstuhl für politische Theorie und Ideengeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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