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Christian Uhle: Künstliche Intelligenz und echtes Leben

Rezensiert von Dr. Dieter Korczak, 06.01.2025

Cover Christian Uhle: Künstliche Intelligenz und echtes Leben ISBN 978-3-10-397604-5

Christian Uhle: Künstliche Intelligenz und echtes Leben. Philosophische Orientierung für eine gute Zukunft. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2024. 304 Seiten. ISBN 978-3-10-397604-5. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.

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Thema

Christian Uhle beschreibt in diesem Band positive Potenziale und Gefahren von Künstlicher Intelligenz (KI). Er hat beobachtet, dass der industriell geprägte Kapitalismus mit den Schlüsselindustrien rund um Öl, Kohle, Stahl, Maschinen und Automobile zunehmend durch einen digital geprägten Kapitalismus abgelöst wird, in dessen Zentrum Prozessoren, Software, Apps, Plattformen, Algorithmen und digitale Dienstleistungen stehen. Er hält die Digitalisierung der deutschen und anderer industrieller Gesellschaften für eine Transformationsprozess, der wegen seiner Breite, Tiefe und Geschwindigkeit außergewöhnlich ist und alle Lebensbereiche erfasst. Die Digitalisierung ist ubiquitär geworden.

Autor

Christian Uhle (Jahrgang 1988) ist in Köln geboren und hat an der Universität Münster Philosophie, Physik und Volkswirtschaft studiert. Seinen Bachelor und Master hat er an der Humboldt-Universität Berlin abgeschlossen. Aktuell lebt und arbeitet er in Berlin.

Aufbau und Inhalt

Das 300 Seiten starke Buch ist in fünf Kapitel untergliedert, die sich mit einzelnen Aspekten des Fortschreitens und der Auswirkungen der Digitalisierung auf das gesellschaftliche Leben befassen.

Im ersten Kapitel geht es um das Versprechen: „Endlich mehr Zeit für Dich!“ Uhle leitet dieses Kapitel mit einem Rückblick auf Ludwig Dexheimer's Buch „Das Automatenzeitalter“ (1930) ein. Dexheimer entwirft dort für das 26. Jahrhundert eine egalitäre und pazifistische Zukunftsvision, in der jeder menschliche Handgriff durch vollständige Automatisierung ersetzt wird. In dieser Vision wird das Diktum des spanischen Philosophen Ortega y Gasset (1933) umgesetzt, dass Technik die Anstrengung ist, den Menschen Anstrengungen zu ersparen. Uhle schlägt den Bogen zu dem Gegensatzpaar „Haben oder Sein“, das von Erich Fromm (1976) als Kritik an der materiellen Ausrichtung der modernen Gesellschaften formuliert wurde. Für den Autor gehören technologische Entwicklungen im Kern zu Modus des „Habens“. „Wenn wir die Welt technisch betrachten, drohen wir auch selbst technischer zu werden“ (Seite 24). Deshalb sollte die Welt aus einer Perspektive des „Seins“ betrachtet werden, denn dann werden Lebenssinn und Resonanz erfahrbar. Die Resonanzerfahrung ist immens wichtig, denn durch sie erfüllt sich das tiefe menschliche Bedürfnis nach Geborgenheit. Dazu gehört auch die Entschleunigung des Lebens, aber durch Technologisierung und Digitalisierung tritt das Gegenteil ein, ein Rebound-Effekt. In der Summe haben die Menschen nicht mehr Zeit für sich, sondern der individuelle Alltag wird beschleunigt und der gesellschaftliche Wandel erfolgt mit immer mehr Tempo. Ist diese Entwicklung aufzuhalten? Uhle sagt: „Wenn wir den Mut und den Willen haben, aus einer reaktiven Haltung herauszutreten und die Entwicklung aktiv in die Hand zu nehmen,…[dann] ist eine gute Zukunft […] möglich“ (Seite 61).

Im zweiten Kapitel des Buches geht es um das Versprechen: „Du bist nicht allein!“ „Dieses mächtige Versprechen ist eine treibende Kraft in der digitalen Transformation“ (Seite 66). Das Kapitel leitet der Autor mit einem Verweis auf ein Science-Fiktion Werk ein – E.M. Forster (1909) „Die Maschine steht still“. In der dort beschriebenen Dystopie kommunizieren die Menschen permanent und leben aber in völliger Abgeschiedenheit voneinander. Mit Bezug auf die Gegenwart erörtert der Autor den Zusammenhang zwischen Vernetzung und Verbindung anhand der Nutzung von Social Media, ChatGPT und Dating-Apps. Er schildert zwei Szenarien für die weitere Entwicklung: (I) Netz der Verbundenheit und (II) Labyrinth der Einsamkeit. Für ihn tragen die neuen technologischen Möglichkeiten dann zu einer guten Zukunft bei, wenn sie mit analogem Verhalten gleichwertig verbunden werden.

Im dritten Kapitel wird KI als neuer Freund und Helfer analysiert. Der Autor weist darauf hin, dass KI nicht künstliche Intelligenz ist, sondern künstliche Informationsverarbeitung. Technologie per se sei weder schlecht noch gut, sie sei neutral. Die technologische Entwicklung habe jedoch 2023 zu einem Bruch in der gesellschaftlichen Entwicklung geführt, der weitreichender sei als Gutenberg's Erfindung des Buchdrucks (1450). Viele Berufe werden wegfallen, KI wird viele Arbeiten übernehmen. Nahezu jeder Bereich wird von KI betroffen sein. Hinzu kommt die Vermenschlichung von KI Anwendungstools. Ein Diskurs hat bislang immer zwischen Menschen stattgefunden, jetzt findet er zusätzlich zwischen Menschen und Maschinen statt und es stellt sich die Frage, was zukünftig als Diskurs zu bezeichnen ist. Zur Verdeutlichung liefert der Autor zwei weitere Szenarien:

  • (I) Die entfremdetste Generation aller Zeiten und
  • (II) Die beziehungsfähigste Generation aller Zeiten.

Für Uhle stellen sich aus der Beziehung Mensch und KI zwei große Herausforderungen: „Maschinen nicht zu vermenschlichen und Menschen nicht zu verdinglichen und auf ihre Arbeitskraft oder Kampfkraft zu reduzieren“ (Seite 184).

Im vierten Kapitel wird beschrieben, was das Internet der Dinge (IoT) mit den Menschen macht. Das IoT spielt mit der menschlichen Faszination von einer verzauberten Welt, in der sich die Umwelt gefügig gemacht und an die eigenen Wünsche angepasst wird. Uhle greift hier Goethe's Ballade vom Zauberlehrling auf. Das Ende der Ballade ist bekannt, die Gegenstände verselbstständigen sich. Die Digitalisierung hat noch ein weiteres Problem, sie produziert eine Unmenge von Elektroschrott und ist nur scheinbar umweltfreundlicher als das Industriezeitalter. Uhle hält soziale Innvoationen für wichtiger als technologische, „um die eigene Verbundenheit mit der Welt erfahrbar zu machen, um das gesellschaftliche Naturverhältnis auf eine gesündere Grundlage zu stellen“ (Seite 228).

Im fünften Kapitel stellt der Autor die Frage, ob KI zu mehr Sinn in der Arbeit führt. KI wird fast alle Tätigkeiten, die mit einem Computer ausgeübt werden können, effizienter machen und teilweise sogar ganz automatisieren. KI kann auf diese Weise soziale Ungleichheiten verschärfen und viele Menschen ins Prekariat stürzen. Nach Uhle ist die größte Auswirkung von KI auf Arbeitswelten die Umwertung von Fähigkeiten (Seite 239). Das Mittelfeld würde dünner werden und es erfolge eine noch deutlichere Aufspaltung als bisher in Gewinner und Verlierer. Alle standardisierbaren Tätigkeiten seien leicht durch KI ersetzbar. Stattdessen würden soziale Kompetenzen und strategische Führungsqualitäten mehr gefragt werden. KI könnte Freiräume ermöglichen, für die Arbeit, die man wirklich machen will (New Work, Frithjof Bergmann 2017). Das Problem dabei ist jedoch, diese intrinsisch motivierte Arbeit in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem mit Profit maximierenden Zielsetzungen zu realisieren. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg weist in „Das erschöpfte Selbst“ auf die negativen Seiten von New Work und den leistungsorientierten Formen von Selbstbestimmung hin. Für Uhle hängen die zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten sehr stark von der konkreten Gestaltung und der Integration der Technologien in Arbeitsprozesse ab. Er sieht drei Entwicklungspfade:

  • (I) Die große Sinnexplosion,
  • (II) Die große Langeweile und
  • (III) Das große Burnout.

Wie könnte man dem Hamsterrad entfliehen? Der Autor meint, dass die neuen Technologien zur Entlastung eingesetzt werden sollten und nicht an der alten Logik fortwährender Steigerung ausgerichtet sein dürfen.

Diskussion

Das Buch wirkt wie die Aneinanderreihung von fünf einzelnen Essays, die spezifische Aspekte der Digitalisierung aufgreifen: mehr Zeit, bessere Soziabilität, mehr Support, bessere Arbeitsunterstützung und mehr Arbeitssinn. In der Bearbeitung dieser fünf thematischen Komplexe bereitet der Autor das gängige Wissen sehr gut auf. Überraschende neue Erkenntnisse gibt es für den Leser, der sich bereits mit dem Thema auseinandergesetzt hat, nicht. Als Einstieg in die Thematik ist der Band jedoch sehr hilfreich. Dazu dient auch in anschaulicher Weise der jeweilige Bezug auf utopische Gesellschaftsentwürfe des letzten Jahrhunderts. Eine Einbettung in aktuelle kapitalismuskritische oder philosophische Diskurse fehlt, ist aber wohl von dem Autor auch nicht intendiert gewesen. Das Endnoten-Verzeichnis ist ausführlich, aber leider fehlt ein eigenständiges Quellen- und Literaturverzeichnis.

Fazit

Der Band liefert einen guten Einstieg in die Problematik des Nutzens und der Gefahren von KI anhand von fünf ausgewählten Themenfeldern.

Rezension von
Dr. Dieter Korczak
Soziologe, Präsident des European Consumer Debt Network, Mitglied der Financial Services User Group der Europäischen Union
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Es gibt 19 Rezensionen von Dieter Korczak.

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Zitiervorschlag
Dieter Korczak. Rezension vom 06.01.2025 zu: Christian Uhle: Künstliche Intelligenz und echtes Leben. Philosophische Orientierung für eine gute Zukunft. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2024. ISBN 978-3-10-397604-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32668.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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