Julius Daven, Andreas Schrenk et al. (Hrsg.): Wege und Auswege für das Jugendamt
Rezensiert von Prof. Dr. Michaela Berghaus, 07.04.2025

Julius Daven, Andreas Schrenk, Andrea Warnke (Hrsg.): Wege und Auswege für das Jugendamt. Perspektiven und Chancen für die sozialen Dienste in Krisenzeiten und einer Gesellschaft im Wandel. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2024. 272 Seiten. ISBN 978-3-7815-2666-2. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR.
Thema
Im Mittelpunkt des Sammelbands „Wege und Auswege für das Jugendamt. Perspektiven und Chancen für die sozialen Dienste in Krisenzeiten und einer Gesellschaft im Wandel“ stehen aktuelle und zukünftige Herausforderungen, die an die Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) der Jugendämter von innen – z.B. im Zuge von Personalfluktuation – und außen – z.B. durch gesetzliche Veränderungen – herangetragen werden. Die Herausgeber:innen veranschaulichen mit dem Titel ihr zentrales Ziel: Sie möchten den Leser:innen „mögliche ressourcen- und lösungsorientierte Ansätze für die zukünftige Arbeit der Allgemeinen Sozialen Dienste“ (S. 11) darlegen und diskutieren sowie „viele Anregungen und Impulse“ (S. 15) anbieten. Diese Zielsetzung ist angesichts der momentan krisenhaften Situation der ASD anspruchsvoll und gleichzeitig relevant für potenzielle Weiterentwicklungen der Organisation.
Herausgeber:innen
Julius Daven ist Vorstandsvorsitzender im Verein Ehrenamtliche Wegbegleitung Deutschland (EWD) e.V. und freier Autor für gesellschafts- und sozialkritische Themen. Er setzt sich engagiert für die Etablierung der ehrenamtlichen Wegbegleitung als Unterstützung für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe ein.
Prof. Andreas Schrenk befasst sich vorrangig mit folgenden Themen: Entwicklung, Einführung und Umsetzung von Schutzkonzepten, Führungskräfteentwicklung und Teamentwicklung. Als zweiter Vorsitzender ist er im Verein Ehrenamtliche Wegbegleitung Deutschland (EWD) e.V. tätig.
Andrea Warnke ist Professorin an der IU Internationale Hochschule. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Themen Empowerment und Partizipation, Interprofessionalität, Akademisierung, Gesundheitskompetenz und evidenzbasiertes Handeln. Zudem ist sie Vorständin im Verein Ehrenamtliche Wegbegleitung Deutschland (EWD) e.V.
Aufbau
Die vorliegende Publikation ist in vier Teile untergliedert. Zu Beginn, im ersten Teil, richten die Autor:innen schwerpunktmäßig ihren Fokus auf den ASD als Teil des Jugendamtes. Im zweiten Teil stehen allgemein die Adressat:innen der Kinder- und Jugendhilfe im Mittelpunkt des Interesses. Dann folgt ein Perspektivenwechsel: Die Fachkräfte der ASD werden im dritten Teil als Ressource beleuchtet. Abschließend folgt im vierten Teil die Erörterung der Möglichkeiten, ehrenamtliche Strukturen zu fördern und aktiv zu nutzen.
In den vier Teilen bieten einschlägige Wissenschaftler:innen sowie anerkannte Praktiker:innen mit ihren Beiträgen unterschiedliche Zugänge zu der jeweiligen Thematik an. Auf diese Weise werden die vier zentralen Themen und deren immanenten Herausforderungen multiperspektivisch beleuchtet.
Inhalte
In dem ersten Teil des Sammelbands – Der ASD als Teil des Jugendamtes – wird der Blick weit geöffnet und die Kinder- und Jugendhilfe als Ganzes wird aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Fokusse beleuchtet. Die Autor:innen richten ihren Blick in den einzelnen Kapiteln auf Herausforderungen, die an den ASD herangetragen werden. Beispielsweise diskutieren Mairhofer, Peucker, Pluto und van Santen Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen (z.B. gesetzliche Grundlagen, Perspektiven der Adressat:innen, lokale Traditionen und Kulturen, fachliche und fachpolitische Entwicklungen etc.), welche die kommunale Organisation Jugendamt beeinflussen und angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen Anforderungen definieren. Aufbauend auf ihrem Problemaufriss formulieren sie Strategien, um diesen erfolgreich begegnen zu können. Mit Blick auf die Organisation der ASD beschäftigen sich Krüger und Schneider mit lösbaren und unlösbaren Herausforderungen. Dabei stehen exemplarische Spannungsfelder im Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Pawicki wendet sich den Fehlerkulturen in Jugendämtern zu. Allgemein beleuchten Schwabe und Lampe dann in einem Kapitel die Qualität professioneller Handlungen im Jugendamt. Komplettiert wird der erste Teil mit dem Diskurs zu inhaltlich-fachlichen Herausforderungen: Während Schreiner und Schröder „die“ Inklusion als neue Leitidee für die Organisation diskutieren, beschäftigt sich Menzel anhand von 10 Gedanken mit Gelingensfaktoren für einen partizipativen und kooperativen Kinderschutz.
Der zweite Teil – Adressatinnen und Adressaten des ASD – wird von Gröne-Herden und Warnke basierend auf einer Darstellung unterschiedlicher Beteiligungsmöglichkeiten mit einem allgemeinen Plädoyer für die Ermöglichung von Partizipation und dem Erleben von Selbstwirksamkeit aufseiten der jungen Menschen und deren Eltern eröffnet. Vier Kapitel rücken in dem zweiten Teil unterschiedliche Zielgruppen in den Mittelpunkt: Gröne-Herden befasst sich mit Care Leavern, ihren Bedürfnissen und deren Umsetzung.
Höblich konzentriert sich auf die Situation von Jugendlichen in der Kinder- und Jugendhilfe, deren Geschlechtsidentitäten und/oder sexuelle Orientierungen nicht den heteronormativen Vorstellungen entsprechen. Bongartz und Ostwaldt setzen den Fokus primär auf die Jugendhilfe im Strafverfahren, wenn sie sich mit der Radikalisierung von Jugendlichen auseinandersetzen. Creutz, Schneider und Baumann widmen sich einer Zielgruppe, der bislang wenig(er) Aufmerksamkeit zuteil wurde: Kinder als Täter:innen von Gewalt. Quer zu der Auseinandersetzung mit besonderen Zielgruppen beschäftigen sich weitere Kapitel mit der Zusammenarbeit von Adressat:innen und Fachkräften im Allgemeinen. Querfurth bietet Einblicke in die ombudschaftliche Beratungspraxis.
Hansbauer und Knuth beleuchten Machtverhältnisse in der Zusammenarbeit von Eltern und ASD als zentrale Herausforderung. In ihrem Beitrag stellen sie die These auf, dass „Machtverhältnisse […] die Art und Form der Leistungserbringung als auch die Akzeptanz von Leistungen durch die Adressat:innen beeinflussen und überformen [Hervorhebung im Original]“ (S. 140). Ausgehend von ihrer These lenken sie den Blick der Lesenden auf zentrale Anforderungen an und Aufgaben für den ASD, die aus dem rechtlich starken Status der Eltern als Leistungsberechtigte resultieren. Sie verweisen auf die seit Jahren bestehende Diskrepanz zwischen der gesetzlich zugewiesenen Möglichkeit der Hilfebeantragung und der empirischen Feststellung der seltenen (freiwilligen) Inanspruchnahme. Darauf aufbauend entfalten sie ein Verständnis von Macht sowie Machtquellen, deren Bedeutung sie für die ASD und konkret für die Interaktions- und Kommunikationsprozesse beleuchten. Spannend ist ihr Resümee, dass „die Machtbalance zwischen Leistungsempfänger:innen und Fachkräften im ASD verändert werden kann“ (S. 146) – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Damit Partizipation und Selbstwirksamkeit für Adressat:innen ermöglicht wird, bieten Hansbauer und Knuth Ansatzpunkte für die Praxis, die aufseiten der Fachkräfte und der Organisation einerseits und der Personensorgeberechtigten andererseits gefördert und gefordert werden müssen. Sie bieten auf diese Weise eine Reflexionsfolie sowie Impulse für Fach- und Leitungskräfte. Abschließend besprechen Schwabe und Lampe Rahmenbedingungen von Hilfesettings.
Der dritte Teil fokussiert die Fachkräfte als Ressource, die es – vor allem angesichts der aktuellen Situation in der Kinder- und Jugendhilfe im Allgemeinen und in den ASD konkret – zu stärken gilt. Dieser Teil beinhaltet sowohl Problembeschreibungen der aktuellen Situation als auch Lösungsansätze und Handlungsstrategien für den Umgang damit. Während Beckmann Überlegungen zu Deprofessionalisierungstendenzen angesichts der Personalsituation in den ASD formuliert, analysieren Steinebach, Schrenk und Bucher allgemeine Belastungen von Fachkräften. Neben diesem Diskurs bestehender Problematiken werden Lösungsansätze von den nachfolgenden Autor:innen angeboten: Krüger stellt das Potenzial des Onboardingprozesses mit Blick auf einen Imagewechsel vor. Ruppert diskutiert Agilität als Handlungsstrategie für die ASD und Reichardt fordert alternative Ausbildungsmöglichkeiten für die Arbeit im Jugendamt.
In dem vierten Teil, der mit 24 Seiten und zwei Kapiteln im Vergleich zu den anderen Teilen des Sammelbandes am kürzesten ausfällt, wird die Aufmerksamkeit darauf gerichtet ehrenamtliche Strukturen [zu] fördern. Dazu erörtern Tietmeyer und Rolefs in einem ersten Schritt die Vorteile und Nachteile der Beteiligung ehrenamtlicher Wegbegleitungen am Hilfeplangespräch in der stationären Jugendhilfe.
Abschließend beleuchten Daven und Schrenk orientiert an der provokant formulierten Frage „Fluch oder Segen“ (S. 255) das Potenzial ehrenamtlichen Engagements für den ASD. Der Titel ihres Beitrags, die Frage danach, ob ehrenamtliches Engagement in der Kinder- und Jugendhilfe einen Fluch oder Segen für den ASD repräsentiert, bildet den inhaltlichen Rahmen für Daven und Schrenk. Sie skizzieren zu Beginn überzeugend ihre grundlegenden Überlegungen zum Ehrenamt und zu der Notwendigkeit eines Ehrenamtsmanagements. Vor diesem Hintergrund folgt der Kern: Die Diskussion zweier neuer ehrenamtlicher Modelle für die Kinder- und Jugendhilfe: 1. „Die ehrenamtliche Wegbegleitung [Hervorhebung im Original] für Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe […] und zugleich das Modell der ehrenamtlichen Vormundschaft [Hervorhebung im Original]“ (S. 256). Sie setzen bewusst ihren Fokus auf das Modell der ehrenamtlichen Wegbegleitung, das – so die plausible und argumentativ gut begründete Überzeugung der Autoren – positive Effekte auf Jugendhilfemaßnahmen haben kann, wenn u.a. die Kooperation mit den ASD gelingt. Neben der pointierten Darstellung der Idee der ehrenamtlichen Wegbegleitungen befassen sie sich schwerpunktmäßig mit den Herausforderungen für die Ehrenamtler:innen, den Fachkräften in kooperierenden Einrichtungen und den ASD (vor allem mit Blick auf die Zusammenarbeit). Diese Schwerpunktsetzung ist für die Lesenden aus der Praxis hilfreich und sinnvoll, um Überlegungen für den Transfer treffen zu können. Abschließend resümieren sie die Bedeutung von Ehrenamt für die Soziale Arbeit im Allgemeinen und für die Kinder- und Jugendhilfe konkret. Ihre Einschätzung ergänzen sie um die Analyse zentraler Voraussetzungen, die zu einem Gelingen der Ehrenamts-Modelle zum Wohle der Kinder und Jugendlichen beitragen und – auf dieser Grundlage – einen Segen für den ASD darstellen kann.
Diskussion
Die Herausgeber:innen haben insgesamt ein sehr komplexes Thema gewählt, das sie mithilfe diverser Autor:innen mit hoher fachlicher Expertise aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeiten. Die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis ist gelungen und bietet für die Lesenden zwei Zugänge zu dem Thema: einen praxisorientierten und einen wissenschaftlichen Blick. Die Auswahl der Themen gelingt den Herausgeber:innen sehr gut. Sie nehmen die aktuell relevanten Herausforderungen der ASD in den Blick. In diesem Zusammenhang ist der gewählte Aufbau gelungen: Fast durchgängig folgen die einzelnen Kapitel einem einheitlichen, stringenten Aufbau. Dieser überzeugt vor allem mit einem Fazit als Abschluss, das Impulse oder strategische Überlegungen zu dem praktischen Umgang mit den zuvor diskutierten Herausforderungen umfasst.
Als Leser:in wäre es wünschenswert gewesen, wenn – trotz des begrenzten Raumes für die einzelnen Beiträge – punktuell eine kritischere Auseinandersetzung mit verwendeten Begriffen oder Konzepten, z.B. zu den Themen Casemanagement oder Agilität, stattgefunden hätte. Interessant ist, dass der Blick – trotz der bestehenden Komplexität – z.T. weiter geöffnet wird, d.h. in bestimmten Kapiteln stehen nicht ausschließlich die ASD im Mittelpunkt, sondern beispielsweise die Zusammenarbeit freier und öffentlicher Träger der Jugendhilfe oder das Jugendamt in Gänze. Mit Blick auf potenzielle Lösungsstrategien weist vor allem der vierte Teil einen Innovationscharakter auf, denn das Potenzial von Ehrenamt für die ASD und ihre Adressat:innen wurde bislang selten kritisch beleuchtet. Die (leider) kurze Auseinandersetzung mit den Chancen und Risiken sind zwar nicht abschließend, können aufseiten der Leser:innen jedoch weiterführende Überlegungen anstoßen. Das könnte ein großer Mehrwert für die Praxis sein.
Insgesamt zeichnet sich der Sammelband dadurch aus, dass ein breiter Überblick über die Vielfalt und Komplexität der Herausforderungen mitsamt potenzieller Lösungsansätzen entfaltet wird. Diese Zusammenschau ermöglicht Leser:innen eine selbstständige Entscheidung darüber, welches Thema einer tiefergehenden, analytischen Betrachtung unterzogen wird. Dazu stellen die jeweiligen Autor:innen weiterführende Literatur am Ende ihrer Beiträge zur Verfügung.
Die Herausgeber:innen leisten mit ihrer Publikation „Wege und Auswege für das Jugendamt. Perspektiven und Chancen für die sozialen Dienste in Krisenzeiten und einer Gesellschaft im Wandel“ eine wertvolle Arbeit hinsichtlich einer unaufgeregten Erörterung der vielschichtigen Herausforderungen der ASD. Dabei liegt die Stärke des Sammelbandes darin, trotz der aktuell schwierigen Situation, nicht in einer problembehafteten Sichtweise zu verharren, sondern Lösungsansätze anzubieten, die in unterschiedlichen Kontexten diskutiert und konkretisiert werden können und müssen. Das Buch ist vor allem für Praktiker:innen der Sozialen Arbeit zu empfehlen, die sich mit aktuellen Anforderungen an die ASD beschäftigen und bestehende oder neue Ressourcen nutzen möchten.
Fazit
Auch wenn die konkrete Auseinandersetzung mit den diskutierten Lösungsansätzen und deren praktische Umsetzung in und für die ASD herausfordernd bleibt, bietet das Buch für Leitungs- und Fachkräfte neue und/oder erweiterte Perspektiven. Vor allem die innovative Sichtweise auf das Ehrenamt als zentrale Ressource bietet Potenzial für Lösungsansätze, welche die ASD konstruktiv nutzen können. Daher ist zu hoffen, dass die Herausgeber:innen mit ihrem Sammelband eine große Leser:innenschaft ansprechen.
Rezension von
Prof. Dr. Michaela Berghaus
Professorin für Kinder- und Jugendhilfe an der FH Münster
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