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Tatiana Yudina: Dogma oder Diskurs – Russland verstehen oder an Russland glauben?

Rezensiert von Dr. Hermann Müller, 26.11.2024

Cover Tatiana Yudina: Dogma oder Diskurs – Russland verstehen oder an Russland glauben? ISBN 978-3-7329-1048-9

Tatiana Yudina: Dogma oder Diskurs – Russland verstehen oder an Russland glauben? Frank & Timme (Berlin) 2024. 59 Seiten. ISBN 978-3-7329-1048-9. D: 14,80 EUR, A: 14,80 EUR, CH: 22,20 sFr.

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Thema

„Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer“ Mit dem Aphorismus ist keine absolute Wahrheit gemeint. Gemeint ist Propaganda, die meist von allen Kriegsparteien eingesetzt wird. Dabei werden bewusst Informationen und Zusammenhänge ausblendet oder verschwiegen, die das eigene Bild infrage stellen oder relativieren könnten. Zur Kriegspropaganda kann gehören, dass verallgemeinerte Feindbilder erzeugt werden (zum Beispiel „die Deutschen“, „die Franzosen“ oder „die Russen“). Dazu gehört auch eine Spaltung in nur Gut und nur Böse. Das Ziel ist, die eigenen Bürgerinnen und Bürger kriegswillig zu machen. Tatiana Yudina behandelt in ihrem Buch die russische Propaganda. Es geht dabei aber nicht nur um die Kriegspropaganda im engeren Sinne, sondern auch um Darstellungen zu Orientierungen an Europa und Asien in der Geistes- und Literaturgeschichte in Russland mit Propagandacharakter.

Autorin

Dr. Tatiana Vladimirovna Yudina, geb. 1954 in Moskau, war bis 2023 ordentliche Professorin für Germanistik an der Moskauer Lomonossow-Universität

Aufbau und Inhalt

Kapitel: „In Russland ändert sich alle zehn Jahre alles und in 200 Jahren ändert sich nichts“

Die Autorin verweist darauf, dass die Ereignisse in der Ukraine unzählige Menschen, auch deutsche Freunde „fassungslos“ (S. 7) gemacht hätten. Der Rezensent meint, dass das zum Teil auch an der einseitigen Berichterstattung im Westen liegen kann. [i]

Frau Yudina sieht einen „Paradigmenwechsel“ (Yudina 2024 S. 8) innerhalb eines relativ kurzen Zeitabschnitts, der im Westen zunächst nicht wahrgenommen wurde. „Erst in diesen Wochen und Monaten wird erkannt, dass die Sowjetunion tatsächlich verschwunden ist und ein anderes Land, nämlich Russland, zurückgekommen ist. Und das ist ein anderes Land!“ (Yudina 2024 S. 8)

Auf die historischen Veränderungen wird eingegangen. Hierzu gehören der „Abschied vom Sozialismus und ein sprunghafter Übergang zum Wirtschaftsliberalismus oder besser zum ‘Wildwest-Kapitalismus‘“(Yudina 2024 S. 10) und die ‘Rückkehr zum Zentralismus‘, zu imperialen Werten/​Orientierungen und zur Orthodoxie als Staatsreligion (de facto).“ (Yudina 2024 S. 10)

Auf die sowjetische Zeit und die sowjetische Propaganda wird ausführlicher eingegangen. Die „Relativ stabile spätsowjetische Zeit“ (Yudina 2024 S. 10) „vermittelte der älteren Kriegsgenenation, auch den Generationen der 60er und der darauffolgenden 70er Jahre, das Gefühl einer relativen Sicherheit, einer Stabilität und eines bescheidenen Wohlstands.“ (Yudina 2024 S. 10) Die „Propagandistische Maschinerie“ (Yudina 2024 S. 14) habe ein positives Bild von der Sowjetunion vermittelt.

Übergegangen wird auf die Entwicklung nach 1990 und dann auf die russische „Propaganda“ von heute. „Man spielt mit den Parolen ‚Verteidigung‘, ‚Verteidiger‘, ‚Gefahr‘ und ‚Isolation‘“(Yudina 2024 S. 17). Hierzu gehöre auch ein „Einkreisungssyndrom“ (Yudina 2024 S. 17), das auf geschichtliche Erfahrungen beruhe. Es habe Zeiten gegeben, in denen sich Russland „ in der Tat zu Recht von vielen Seiten bedroht sah.“ (Yudina 2024 S. 18) Heute sei das wohl nicht so. Der Rezensent ist skeptisch, wenn diese Ängste als reine Propaganda abgetan werden. Es mag sein, dass diese Angst heute von russischen Medien genutzt wird und dass dabei auch übertrieben wird. Aber völlig unbegründet ist die Angst selbst nicht [ii]. Die Autorin sieht bei einigen russischen Medien eine Hinwendung zu autokratischen Herrschaftsformen. „Die autokratische Herrschaftsform aus Asien stand – dieser Logik nach – dem Russischen Reich näher als das Gedankengut des Abendlandes.“ (Yudina 2024 S. 20) In einigen russischen Medien gebe es anti-deutsche Propaganda. „Einige russische Medien versuchen direkt oder indirekt, oft mit Spott und Häme, eine deutschlandkritische Stimmung zu schüren.“ (Yudina 2024 S. 23) Ob sich dies nur auf die Zeit nach dem 24.2.2022 bezieht, ist nicht ganz klar [iii]. Dennoch gebe es in Russland eine Verbindung zur deutschen Kultur. „Trotz aggressiver Propaganda blieb und bleibt dem russischen Bewusstsein die deutsche Kultur vertraut“ (Yudina 2024 S. 23)

Kapitel: Archetypische Motive in der russischen Literatur: Protest und Flucht

Das Motiv des Protestes wird unter anderen an einem Roman von Puschkin, in dem es um einen Kosakenaufstand gegen Katharina II ging und bei dem die „Altgläubigen“ eine Rolle spielten. Beim Fluchtmotiv geht es um einen Rückzug aus der Gesellschaft, zum Beispiel im Mönchstum oder Asketentum

Eingegangen wird unter anderem auf Werke von Puschkin, Dostojewski, Blok und Gogol aus der vorsowjetischen Zeit. Danach gab es eine Veränderung. Das sowjetische System: „es verabschiedete sich vom ererbten byzantinischen Weltbild. Geradezu paradox ist es, das erst die Sowjetunion eine Ära der Aufklärung einleitete, jedoch mit marxistischer Prägung.“ (Yudina 2024 S. 30)

Die Autorin stellt fest: „Das Fatalistische und das Irrationale, obskure Verschwörungstheorien und Konspirationsängste werden von den heutigen russischen Massenmedien sehr gezielt vermittelt.“ (Yudina 2024 S. 30)

Inwieweit solche literarischen Motive die Bevölkerung und die Politik tatsächlich prägen, bleibt für den Rezensenten eine offene Frage.

Kapitel: Postsowjeticus oder Archaik

Am Anfang dieses Kapitels geht es um die Frage, wie die aktuellen Ereignisse reflektiert werden. Die Autorin geht auf eine Vorstellung ein.

„Es gibt eine höchst umstrittene und willkürliche, gleichwohl weitverbreitete Vorstellung, dass die Generation 70+, die ehemaligen Sowjetbürger, konservativ seien und sich nostalgisch nach früheren sowjetischen Weltbildern, nach einem bescheidenen Wohlstand und sozialer Sicherheit sehnen. Die nach der Wende geborenen sollen dagegen modern und zukunftsorientiert sein. Ob sie es aber wirklich sind, ist schwer zu sagen. Eine eindeutige Antwort steht aus.“(Yudina 2024 S. 35) Der Rezensent vermutet, dass die Haltung einiger älterer Bürgerinnen und Bürger auch mit den Erfahrungen unter Jelzin und seinen „westlichen Reformern“ zu tun haben könnte [iv]. Diese Politik führte zu einer tiefen Krise.

 Es folgt eine ideengeschichtliche und literaturwissenschaftliche Skizze zu mehreren Zeitabschnitten von Zeit vor der Oktoberrevolution über die Sowjetzeit bis heute. Eingegangen der „Intelligenzija“ Ausführlicher behandelt wird das Werk von Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoy. „Im theoretischen System von Trubetzkoy wird die westliche Zivilisation dämonisiert, die Zeit der tataro-mongolischen Herrschaft idealisiert, ein rätselhaftes ‚turanisches Element‘, das die Russen mit den Nomadenvölkern verbindet.“ (Yudina 2024 S. 44) Diese Theorie habe, so die Autorin größeren Einfluss. „Seine Ideen scheinen einige heutige ‚Vordenker‘ und Ideologen in Russland maßgeblich geprägt zu haben.“ (Yudina 2024 S. 43)

Zu wenig eingegangen wird nach Ansicht des Rezensenten auf andere geschichtliche Aspekte und auf wirtschaftliche Aspekte [v].

Kapitel Russland und Europa. Zum aktuellen Stand der Diskussion

In diesem Kapitel geht es um die Beziehungen zwischen der russischen Kultur und europäischen Kulturen. Gezeigt wird dies unter anderem am Beispiel von Iwan Sergejewitsch Turgenjew, den man unter anderem als „russischen Europäer“ bezeichnete. Er sprach mehrere europäische Sprachen und lebte zeitweise in Deutschland. Die Autorin stellt fest: „Europäische Leistungen, technischer Fortschritt und europäische Lebensweise durchdringen alle Bereiche des russischen Lebens.“ (Yudina 2024 S. 50)

Kapitel: Europa und europäische Sprachen in Russland. Tradition und Wende

Es geht hier um die Bedeutung von Fremdsprachen, vor allem anderen europäischen Sprachen in der russischen Geschichte. Im auslaufenden 19. Jahrhundert waren in Russland Französisch- und Deutschkenntnisse von großer Bedeutung. Sowjetrussland gehörte zu den wenigen Ländern, die sich dem Boykott der deutschen Sprache nach dem Ersten Weltkrieg nicht anschlossen. 2 Fremdsprachen waren an den russischen Hochschulen Pflichtfächer. Hierzu gehörte auch Deutsch. In den letzten zwei bis drei Jahren habe es eine Veränderung gegeben. „Als Erstsprache wurde immer stärker ausschließlich das Englische an den Hochschulen angeboten.“ (Yudina 2024 S. 53) Die Autorin stellt ferner fest: „In den vergangenen zwei Jahren wurde Deutsch an den Hochschulen konsequent reduziert.“ (Yudina 2024 S. 54) Dies könnte auch praktische Gründe haben [vi]. Die Autorin sieht den Versuch, Russland von „dem europäischen Kultur- und Gedankengut abzuschotten“ (Yudina 2024 S. 54)

Kapitel: Jahresrhythmus: europäisch oder vorpetrisch

Hier geht es um die Weihnachtsidee und das Neujahrsfest in Russland nach der Monarchie. Die Autorin spricht vom „Austauschen der christlichen Weihnachtsidee mit dem Silvesterfest“ (Yudina 2024 S. 55) Eine Veränderung erfolgte in der sowjetischen Zeit. Die kommunistische Staatsführung „verstand es, die alte religiöse Symbolik durch einen neuen ideologischen Inhalt zu ersetzen und so kam es wiederum zu einer Vermischung von christlichen Inhalten und Symbolen und atheistisch-ideologischer Ikonizität.“ (Yudina 2024 S. 56)

Die Veränderung steht auch im Zusammenhang mit der Einführung des gregorianischen Kalenders, wobei sich das Kirchenleben weiter nach dem julianischen Kalender richtete [vii].

Berichtet wird von Ständen und Veranstaltungen zur deutschen Weihnachtszeit, die vom Goethe-Institut und der Deutschen Botschaft in Moskau organisiert wurden, sowie von einem Weihnachtskonzert des Deutsch-Russischen Forums im Dezember 2023 in Moskau.

Diskussion

Der Band bietet den deutschen Leserinnen und Lesern einige Einblicke in die russische Ideengeschichte und Literaturgeschichte vom zaristischen Russland über die Sowjetzeit und die 90er Jahre bis heute in der Putin-Ära. Die Autorin sieht einen Paradigmenwechsel und skizziert ein bestimmtes Bild der russischen Propaganda. Inwieweit dies repräsentativ und dominant ist, kann der Rezensent nicht beurteilen. Aber nicht alles, was als Propagandabild dargestellt ist, nach seiner Ansicht auch reine Propaganda. Sie spricht zum Beispiel von einem „Einkreisungssyndrom“ (Yudina 2024 S. 17). Es gibt aber seit 1990 nachweislich viele Versuche der USA, Russland zurückzudrängen und zu schwächen, um die USA als einzige Supermacht zu stärken [viii]. Wichtig werden hier die wirtschaftsgeschichtliche und die geo-strategische Perspektive, besonders nach der Jelzin-Ära. Die russische Kultur wird sicher europäisch geprägt bleiben, was einzelne Einflüsse aus Asien nicht ausschließt.

Fazit

Der Band bietet den deutschen Leserinnen und Lesern einige interessante Einblicke in die russische Ideengeschichte und Literaturgeschichte vom zaristischen Russland über die Sowjetzeit und die 90er Jahre bis heute während der Putin-Ära.

Literatur

Ambos, Kai (2022) Doppelmoral. Der Westen und die Ukraine, Frankfurt am Main: Westend Verlag GmbH.

Mausfeld, Rainer (2018) Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören, Frankfurt am Main, Westendverlag.

Pradetto, August (2017 Die Ukraine, Russland und der Westen. Die Inszenierung einer Krise als geo-politischer Konflikt- in: Staack, Michael, Der Ukraine -Konflikt. Russland und die europäische Sicherheitsordnung, Opladen Verlag Barbara Budrich, S. 21 – 70.

Scholl-Latour, Peter (2007, 17. Auflage 2022) Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen NATO, China und Islam, Berlin, Ullstein.

Verheugen, Günter/Erler, Petra (2024), Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen, München: Wilhelm Heyne Verlag.



[i]  Der Konflikt um die Ukraine begann schon 2004 (vgl. Scholl-Latour 2007, 17. Auflage 2022) Krieg in der Ukraine gibt es schon seit 2014. Zur Vorgeschichte (Günter Verheugen und Petra Erler 2024) Bereits vor 2022 hatten einige Autoren die Gefährlichkeit des Konfliktes erkannt.


[ii]  Dass Russland nicht bedroht war und ein imperialistisches Ziel verfolgte, gehört zum „Narrativ“ vieler Medien der NATO-Staaten. Dem war aber nicht so (vgl. zum Beispiel Scholl-Latour 2007, 17. Auflage 2022; Günter Verheugen und Petra Erler 2024) Das sollte aber nicht als Rechtfertigung des Angriffs verstanden werden. Es bleibt ein Angriffskrieg (vgl. Ambos 2022).


[iii]  In Deutschland gab es 2022 einen entsprechenden Umschlag hin zu anti-russischer Propaganda in vielen Medien und einige Parteien. Diese bezog sich nicht nur auf Putin, sondern auch auf Städtepartnerschaften und russische Künstler. Anti-russische Propaganda hat in Deutschland eine lange Geschichte.


[iv] Das ergibt sich aus Gesprächen mit russischen Freunden. Berichtet wird von einer Krise mit Armut und Unsicherheit durch die Politik unter Jelzin. Ob das jedoch verallgemeinerbar ist, kann man nicht hat sagen.


[v] Seit langen geht es zwischen den USA und Russland um Hegemonie in Europa (vgl. Pradetto 2017, S. 23). Eine Integration Russlands in Europa, die ja anfangs angestrebt wurde, widersprach den geostrategischen Interessen der USA.


[vi]  Englisch wird in sehr vielen Ländern als Fremdsprache gelehrt, Deutsch jedoch weniger.


[vii]  Weihnachten war so Anfang Januar. Das „alte neue Jahr“ Mitte Januar nach dem neuen Kalender.


[viii]  Vgl. zum Beispiel Mausfeld 2018,S. 86; Scholl-Latour 2007 (17. Auflage 2022), Verheugen/​Erler 2024.

Rezension von
Dr. Hermann Müller
Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik
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Es gibt 36 Rezensionen von Hermann Müller.

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Zitiervorschlag
Hermann Müller. Rezension vom 26.11.2024 zu: Tatiana Yudina: Dogma oder Diskurs – Russland verstehen oder an Russland glauben? Frank & Timme (Berlin) 2024. ISBN 978-3-7329-1048-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32702.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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